01.12.2021
Das Thema Nachhaltigkeit steht ganz oben auf der Agenda der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit. Im Standpunkte-Interview formuliert msg-Vorstand Karsten Redenius vier Thesen, die zeigen, warum Nachhaltigkeit mit weiteren aktuellen (Mega-)Trends zusammen betrachtet werden sollte.
Der Begriff Nachhaltigkeit ist allgegenwärtig. Wenn wir davon sprechen, stoßen wir allerdings oft auf Interessenkonflikte. Wie würden Sie das einordnen?
Karsten Redenius: Nehmen wir einmal das Beispiel Elektromobilität. Hier wird gern auf den Vorteil des emissionsfreien Betriebs hingewiesen. Dieses Bild trübt sich jedoch, wenn wir in Betracht ziehen, dass zu deren Herstellung Ressourcen wie das Schwermetall Cobalt gebraucht werden. Wenn wir etwa an die Infrastrukturkosten denken oder an die Versiegelung von Oberflächen, dann ändert sich auch bei der Bahn die Einschätzung recht deutlich. Diese Konflikte gibt es in allen Bereichen der Daseinsvorsorge.
Was schlagen Sie also vor?
Wir denken, wer nachhaltige Entscheidungen treffen will, muss diese Abhängigkeiten in der gesamten Wertschöpfungskette mitdenken. Nur so sind gute Entscheidungen möglich. Denn: Ändern wir unseren Blickwinkel, so ergibt sich daraus häufig auch eine andere Bewertung der Lage. Wir als IT-Unternehmen und Beratungshaus leiten daraus vier Thesen ab. Eine wichtige Ansicht ist, dass nachhaltig handeln, ganzheitlich denken heißt.
Im Sinne des englischen Ausdrucks „think global, act local?“
Exakt, das bringt es auf den Punkt. Das gilt sowohl für die Wertschöpfungsketten auf den verschiedenen Feldern der Daseinsvorsorge als auch gleichermaßen für größere Ökosysteme bis hin zur obersten Ebene von Business, Gesellschaft und Umwelt. Betrachtet man die großen Zusammenhänge, dann wird statt des Konflikts die wechselseitige Abhängigkeit sichtbar.
Wie sieht diese aus?
Ein Business kann nicht ohne gesellschaftliche Akzeptanz operieren, und die Gesellschaft kann nicht ohne eine lebenswerte Umwelt existieren. In einem Jahr mit vielen extremen Wetterereignissen ist das auch in Deutschland so spürbar geworden wie womöglich noch nie zuvor.
Karsten Redenius, msg Vorstandsmitglied, Moderator bei der DIV Konferenz 2021
Und wie lassen sich diese komplexen Zusammenhänge erfassen, analysieren und nachhaltig verarbeiten?
Das führt uns mitten hinein in die nächste These. Nachhaltige Daseinsvorsorge gelingt nur mithilfe der Digitalisierung. Denn IT gibt uns die technische Möglichkeit, alle Schichten unserer Realität intelligent miteinander zu vernetzen. Über unsere Welt erstreckt sich gerade ein immer dichter werdendes Netz aus Daten. Mithilfe dieses Netzes sollten wir in der Lage sein, die komplexen Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten zu erfassen, die wir für eine ganzheitliche, nachhaltige Betrachtung brauchen werden. Darin liegt eine große Chance, ja die einzige Chance, die wir haben, um die komplexen Zusammenhänge zwischen unserem Lebensstil und der weiteren Entwicklung unserer Welt zu verstehen und zu steuern. Digitalisierung hat die größte technische Kraft zur Integration.
Unter welchen Voraussetzungen kann das gelingen?
Digitalisierung selbst muss – und so lautet unsere dritte These – nachhaltig werden. Schließlich ist sie nicht nur der entscheidende Hebel zur Ermöglichung nachhaltiger Daseinsvorsorge, sondern auch Teil des Systems, das nachhaltig gemacht werden muss. Und vieles in der IT ist heute alles andere als nachhaltig.
Haben Sie ein Beispiel parat?
Denken wir nur an die vielen proprietären Hürden, die einer Integration entgegenstehen! Wie viele verschiedene Stecker gibt es etwa allein zum Aufladen von Mobiltelefonen? Hier brauchen wir für Hardware und Software nachhaltige Standards, die eine ganzheitliche Integration ermöglichen. Doch die vielleicht größte Frage nachhaltiger Digitalisierung betrifft die Datenökonomie. Wenn wir alle Elemente eines Ökosystems oder einer Wertschöpfungskette miteinander vernetzen wollen, dann brauchen wir nicht nur Schnittstellen in Hardware und Software, sondern vor allem Zugriff auf Daten.
Und hier ist doch die Frage, wem die Daten gehören und wie der Zugriff auf sie geregelt wird?
Absolut. Zu hohe Datentransparenz kann in Überwachung ausarten. Zu hoher Datenschutz kann eine ganzheitliche Sicht, die wir so dringend für die Nachhaltigkeit brauchen, verhindern. Ein Beispiel ist der Konflikt zwischen Datenschutz und Gesundheitsschutz in der Corona-Pandemie. Während die chinesische Regierung keine Skrupel hat, personenbezogene Daten landesweit zur Überwachung zu nutzen, gibt es bis heute in Europa keinen gemeinsamen Standard zur Nutzung der Gesundheitsdaten. Und der Datenschutz wird zum Teil so hoch angesetzt, dass der Aussagewert der Daten ziemlich gering ist. Die Grenze zwischen diesen beiden Polen zu bestimmen, das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Lösung kann nur eine ausbalancierte und technische belastbare Lösung zur Datensouveränität sein.
Was uns wiederum zur vierten These bringt…
Und die lautet, dass nachhaltige Daseinsvorsorge eine mündige, digitale Bevölkerung und digitale Souveränität auf allen Ebenen des Staates braucht. Wir haben als Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf das Eigentum an unseren Daten. Sie sollten nicht ohne unsere Zustimmung für wirtschaftliche Interessen anderer nutzbar sein, wie das häufig in sozialen Medien geschieht. Als Bürgerinnen und Bürger sollten wir aber auch die Verantwortung wahrnehmen und unsere Daten zur Verfügung stellen, wenn sie der nachhaltigen Daseinsvorsorge dienen. Etwa, wenn Informationen zu unserer Lebensweise helfen können, eine Stadt ressourcensparender zu betreiben. Das verstehen wir unter Datensouveränität.
Das ist allerdings noch Zukunftsmusik
Ja, hier stehen wir noch vor gesetzgeberischen und bildungspolitischen Aufgaben. Wenn wir digital souverän handelnde Bürgerinnen und Bürger sein wollen, dann muss einerseits regulatorisch sichergestellt werden, dass wir digitale Medien selbstbestimmt nutzen können. Andererseits müssen wir früh die digitale Mediennutzung erlernen und verstehen, welche Rechte und Pflichten daraus erwachsen. Nur mit mündigen, digital aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern werden wir die richtige Balance zwischen nachhaltiger Digitalisierung und Datenschutz erreichen. Zugleich muss in der staatlichen Organisation die digitale Souveränität der Bevölkerung auf allen Ebenen verankert sein und durchgesetzt werden. So weit sind wir heute leider noch nicht. Wir brauchen dazu einen Austausch zwischen vielen Disziplinen und Interessengruppen – nicht nur aus dem Bereich IT. Wir können heute aber zumindest schon eine Haltung einnehmen, die uns auf den Weg bringt.