Ein Appell für mehr Fantasie bei der Aufdeckung der Zukunft
Zuerst erschienen in der public Ausgabe 01-2022
von Dr. Katrin Ehlers
„It is not in the stars to hold our destiny but in ourselves.“
William Shakespeare, The Tragedy of Julius Caesar (1599)
Immer schon haben sich die Menschen dafür interessiert, was die Zukunft für sie bereithält. Im antiken Griechenland gab es dafür das Orakel. Die Kultstätte in Delphi war Mittelpunkt der Welt, die Weissagungen von dort waren unausweichlich: Ödipus beispielsweise verließ seine Heimat, um den verhängnisvollen Prophezeiungen zu entgehen – genützt hat ihm das am Ende nichts. Aber Vorsicht: Unser Wissen über Ödipus beruht auf literarischen, also fiktiven Quellen! Es gibt eine Reihe von Varianten der Geschichte mit nur einigen Fixpunkten – das Orakel von Delphi ist einer davon.
Später oder anderswo bedienten sich die Menschen anderer Mittler und Methoden, um etwas über die Zukunft zu erfahren: Sie lasen Sternenkonstellationen, Karten oder Handlinien oder schauten in die Kristallkugel … Mit der Durchsetzung des wissenschaftlich- technischen Weltbildes hat die Hellseherei allerdings an Bedeutung verloren. Selbst die jungen Hexen und Zauberer in Hogwarts nehmen das Schulfach Wahrsagen nicht ganz ernst. (Übrigens verfügen die Schülerinnen und Schüler um Harry Potter über ganz unterschiedlich ausgeprägte zauberische wie soziale Begabungen, die ihnen ermöglichen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und zu beeinflussen.)
Die Zukunft aber ist in der Moderne weiterhin ein wesentlicher Gegenstand des Erkenntnisinteresses – und wird nun zu einem Möglichkeitsraum, den es zu gestalten gilt: politisch und sozial, ökonomisch, ökologisch und nicht zuletzt technisch. Mithilfe wissenschaftlicher Methoden und Werkzeuge werden etwa Prognosen erstellt. Diese können auf der Befragung einer repräsentativ zusammengesetzten Bevölkerungsgruppe beruhen wie in der Markt- und Meinungsforschung, die Aussagen über zu erwartende (Kauf-/Wahl-)Entscheidungen und Entscheidungskriterien treffen will. Das ist ein recht einfaches Vorgehen, die betrachtete Zukunft naheliegend und inhaltlich eng umrissen. Ein etwas weiteres Feld lässt sich mit der Delphi- Methode (!) abstecken, mit der Expertinnen und Experten um ihre Einschätzungen gebeten werden: zu (absehbaren) Entwicklungen, zur Feststellung von Trends.1 Vorhersagen treffen etwa auch Meteorologen, die die Bewegung von Luftmassen beobachten und daraus Rückschlüsse ziehen.
Von höherer Komplexität ist die Ermittlung von Szenarien beispielsweise in der Pandemieentwicklung, auch wenn die damit abgesteckte Zukunft zeitlich nicht fern ist: Sie verläuft in Abhängigkeit einer Vielzahl von Einflussfaktoren: biologischen, medizinischen, demografischen, aber etwa auch Bewegungen und Verhalten von Individuen und Gruppen. Diese Parameter zu erkennen, zu integrieren und zueinander in Beziehung zu setzen, erfordert umfangreiches interdisziplinäres Wissen, das aus Beobachtung (der Vergangenheit) gewonnen ist, aber auch ein nicht unerhebliches Maß an Spielerei und Kreativität. Der Rest ist Mathematik: Die Berechnung möglicher Verlaufskurven ist ohne Hochleistungsrechner undenkbar. 2 Warum das alles? Um aus den möglichen Szenarien Strategien abzuleiten, die geeignet sind, bestimmte Ziele zu erreichen: im Falle der Pandemiebekämpfung, etwa um die kritische Infrastruktur, insbesondere die Gesundheitsversorgung nicht zu überlasten, in jedem Fall, um Entscheidungen zu ermöglichen, um das Bestmögliche zu tun, um auf die Zukunft Einfluss zu nehmen. Was das Bestmögliche ist, ist nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung, sondern eher des politischen und ethischen Diskurses.
Noch größer ist der Faktor kreatives Denken, wenn aus Ergebnissen der Grundlagenforschung neue Technologien hervorgehen, die unsere Zukunft verändern: keine Zeitreisen ohne Relativitätstheorie.
Zugegeben, Zeitreisen haben – aus heutiger Sicht – nur noch wenig mit Naturwissenschaft zu tun, umso mehr mit Vorstellungskraft. Und so gibt es eine weitere Disziplin, die sich der Vermessung von Möglichkeitsräumen widmet: die Science Fiction. Die fiktiven Geschichten dieser Gattung sind jedoch in vielfältiger Weise mit der bekannten Realität verknüpft. Ohne bemannte Raumfahrt wäre ein „Krieg der Sterne“ in den 70er- Jahren kaum erdacht worden, ohne Automatisierung in den Werkshallen kein „Roboter-Mensch-Kontakter“ (C-3PO). Dass es dort oben jenseits des Planeten Erde irgendwo und irgendwann Leben und intelligentes Leben gibt, ist letztlich eine Frage der Wahrscheinlichkeit, die es uns erlaubt, dem ultimativ Fremden zu begegnen. Außerirdische sind in Büchern und vor allem Filmen meist eine ernste Bedrohung, wie Science Fiction überhaupt eher Dystopien als Utopien zeichnet – vielleicht als Mahnung, oft als Projektion von Ängsten aus der jeweiligen Entstehungszeit, ganz sicherlich aber, weil Konflikte einfach die besseren Geschichten erzählen und die heile Welt doch eher langweilig ist. Und so erscheinen uns auch die Androiden, die die Zukunft bevölkern, ob als Ergebnisse von Biotechnologie oder von Informatik, nicht als wünschenswerte Zeitgenossen. Aber das Bild von einer künstlichen Intelligenz, die die Menschen beherrscht, hat sich in den Köpfen festgesetzt und prägt die gesellschaftliche Debatte zur KI heute.
Science Fiction also generiert einerseits ihre Szenarien aus bereits existenten Forschungen und Entwicklungen und hat andererseits erheblichen Einfluss auf unsere Vorstellung von der Zukunft, ja nimmt mitunter sogar manches vorweg. Geradezu hellsichtig waren beispielsweise das Bildschirmtelefon in Metropolis (1926) oder die fliegenden Autos (nicht nur) in Blade Runner (1982). Heute sind Flugtaxis wie auch selbstfahrende Autos bereits keine „Zukunftsmusik“ mehr. Science Fiction kann Inspiration sein für Forscher, Entwickler und Ingenieure.3 Die Beziehungen zwischen Gegenwart und Zukunft, Fantasie und Realität, Wissenschaft und Kunst sind durchaus vielschichtig.
Sich fantasievoll Gedanken über eine imaginäre Zukunft zu machen, in jeglicher Disziplin oder disziplinenübergreifend ist umso drängender, je gefühlt schneller und unausweichlicher sie in das Heute hineinbricht. Dafür braucht es nicht nur einen wachen Geist und verlässliche Methoden, sondern auch Spieltrieb und Vorstellungskraft. Mut zur Fiktion kann helfen, Strategien und Lösungsansätze für die fortschreitende Digitalisierung vorzudenken.
1 Ein jüngeres Beispiel für eine Delphi-Studie ist dies: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/arbeit-2050-drei-szenarien/ (abgerufen am 08.03.2022).
2 Vgl. https://www.zib.de/projects/mobilitaetsmodelle-berlin (abgerufen am 08.03.2022).
3 Vgl. Myon oder Wenn Roboter ein Ich entwickeln. Ein Gespräch mit dem Neurorobotik-Forscher Manfred Hild, in: Things to Come. Science – Fiction – Film. Von Jaspers, Kristina; Nils Warnecke; Gerlinde Waz, hrsg. Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Berlin 2016, S. 72–77.