Zuerst erschienen in der public Ausgabe 02-2021
von Maria Rösch
Wie Arbeiten im neuen Normal gelingen kann. Unternehmer und Autor Markus Albers im Gespräch mit Maria Rösch
msg: Hallo Markus! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch nimmst. Gemäß dem „New-Normal-Standard“ führen wir es virtuell als Videokonferenz, aber mit einem echten Kaffee auf dem Tisch. Wir möchten über die Veränderungen in der Arbeitswelt sprechen, die die Corona-Krise ausgelöst oder beschleunigt hat. Und über die Chance auf einen weiterreichenden Kulturwandel, der daraus erwachsen könnte. In der öffentlichen Verwaltung hat es in den durch Corona geprägten vergangenen 18 Monaten durchaus einen Digitalisierungsschub gegeben. Zumindest wurde in weitaus höherem Maße als vorher das Arbeiten remote im Homeoffice ermöglicht. Die technologischen Entwicklungen bringen zunächst vor allem eine Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort mit sich. Was bedeutet das aber für die Kultur der Organisation? Was ändert sich dadurch oder was müsste sich ändern?
Markus Albers: Eins sollte man vorab klar formulieren: Das Arbeiten im Homeoffice und alles, was damit zusammenhängt, betrifft nur einen Teil der arbeitenden Bevölkerung – nicht den Handel, nicht die Serviceberufe, auch nicht alle Angestellten im öffentlichen Sektor. Wir reden hier von den Wissensarbeitern und damit etwa über die Hälfte aller Jobs in Deutschland – Tendenz steigend – und sicherlich weit mehr als die Hälfte in der öffentlichen Verwaltung. In dieser Gruppe haben wir in der Tat, glaube ich, eine Art Riesenexperiment gesehen. Was passiert, wenn man auf einmal alle ins Homeoffice schickt? Funktioniert das technisch überhaupt? Funktioniert das hinsichtlich der Arbeitsabläufe? Und siehe da, es funktioniert. Bereits vor Corona wurde das Remote-Arbeiten immer wieder mal im Zusammenhang von „Business Continuity“, wie es die Amerikaner nennen, thematisiert. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, Menschen auch von anderswo arbeiten zu lassen, etwa im Fall einer Naturkatastrophe gewährleisten kann, dass überhaupt weitergearbeitet werden kann. Da wurde von Hurrikans und Erdbeben und Ähnlichem gesprochen. Hier in Deutschland dachte man, das betrifft uns nicht. Jetzt betrifft es uns doch – und die Business Continuity ist gewährleistet. Das ist erst mal ein Riesenerfolg.
Markus Albers im New Normal: Anrufe auf das Handy
umziehen und aus dem Eis-Café arbeiten
Die technische Seite hat funktioniert. Und auch die Beschäftigten können damit umgehen – von kleinen Pannen mal abgesehen, wie zum Beispiel „Du bist noch auf Mute“ und so weiter. Aber das ist viel weniger geworden, und es werden auch schon Witze darüber gemacht. Im Großen und Ganzen haben sich diese Remote-Arbeitstechnik und der Umgang damit, um es mal so zu sagen, auf eine geradezu fantastische Weise bewährt. Deine Frage war jetzt aber, ob das auch die Kultur verändert hat. Was das betrifft, so haben wir sicherlich noch einiges vor uns. Wir sehen aber erste Schritte. Wir sehen, dass dieses Remote- Arbeiten quasi automatisch bestimmte Dinge in der Kultur verändert. Ich bin fest davon überzeugt, dass das meiste davon bleiben wird, auch nach Corona. Und dass viele dieser zarten Pflänzlein, die wir jetzt sehen, noch wachsen werden. Wir werden eine noch viel stärkere und konsequentere Kulturveränderung nach Corona sehen.
msg: Studien2 zeigen jedoch, dass die Art und Weise des Zusammenarbeitens und die Kultur sich bislang nicht grundlegend verändert haben. Wurde die Chance zum Kulturwandel vertan? Und wenn ja, warum? Wie erklärst du dir, dass dieser Schub, den wir jetzt geschafft haben, keinen Effekt hatte auf den Aspekt Führung, auf die Themen Selbstorganisation und Kollaboration?
"Das ist wie ein Muskel, den man trainieren muss."
Markus Albers: Ich bezweifle, dass es keinen Effekt gegeben hat. Aber wir würden uns wahrscheinlich alle wünschen, dass der Effekt jetzt schon stärker wäre. Kultur ist das, was du tust, nicht das, was du sagst. Das sollte man sich immer klarmachen. Wir tun Arbeit jetzt anders. Wir tun die Dinge, die wir im Arbeitsalltag tun, jetzt schon anders. Und das wird meiner Meinung nach ganz automatisch dazu führen, dass sich auch die Kultur verändert. Das ist wie ein Muskel, den man trainieren muss. Es gibt eingeübte Routinen, bestimmte Dinge, die Menschen gelernt haben, sei es in ihrer Ausbildung, sei es in der Praxis, die sie natürlich nicht von heute auf morgen loswerden.
Ein Beispiel: Auch schon vor Corona und dem Remote-Arbeiten haben viele Experten – auch ich – und auch viele Arbeitnehmende beklagt, dass die Meeting-Kultur in Unternehmen nicht produktiv, kurz gesagt: einfach nicht gut ist. Oder genauer, die damit einhergehende Präsenzkultur im Sinne von: Es arbeiten nur diejenigen, die auch im Büro sitzen. Wenn sie remote arbeiten, treffen sich die Leute nicht mehr zum Meeting im Konferenzraum. Nun wurde diese Meeting- und damit Präsenzkultur in vielen Unternehmen eins zu eins übersetzt in eine digitale Meeting- und Präsenzkultur. Darum haben wir jetzt diese Tage, die voller virtueller Meetings sind. Das hat etwas damit zu tun, wie Führungskräfte gelernt haben zu führen. Nämlich Topdown und stark hierarchisch und kontrollierend. Sie wollen ihre Schäfchen sehen. Und sie haben das Gefühl, dass sie, wenn sie so ein Meeting geleitet und viel geredet haben, dann ihrer Führungsaufgabe gerecht geworden sind. Dass das heutzutage anders und besser funktionieren kann, müssen viele Führungskräfte erst noch lernen.
msg: Die Rolle, die Führungskräfte im New Normal einnehmen werden, ist auch Thema im Denkimpuls der Initiative D21, der im Juni 2021 veröffentlicht wurde.3 Wie würdest du dir wünschen, dass eine Führungskraft mit den Möglichkeiten, die durch die Krise entstanden sind, den Impuls zum Kulturwandel aufnimmt?
Markus Albers im Gespräch mit Maria Rösch
Markus Albers: Das gilt für den öffentlichen genau wie für den privaten Sektor: Ich bin überzeugt, dass Führungskräfte jetzt stärker, sagen wir mal, Moderatoren oder „Enabler“, das heißt Möglichmacher, sein sollen. Das zweite wichtige Stichwort ist Selbstorganisation. Die ist auch im öffentlichen Sektor sinnvoll, kann aber natürlich nur dann funktionieren, wenn die Strukturen weniger hierarchisch sind. Und wenn ich keine fest vorgegebenen, von oben geplanten Meilensteine abarbeiten muss, um dann vielleicht nach einem Jahr zu merken, dass sich die Wirklichkeit ganz anders entwickelt hat. Eine flexiblere und vermehrt selbst organisierte Arbeitsweise empfiehlt sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch im öffentlichen Sektor.
Was heißt das jetzt für Führungskräfte? Führungskräfte müssen, und das ist sehr wichtig, erstens die Leitplanken setzen. Das heißt, sie müssen viel besser verdeutlichen, was erreicht werden soll, mit welchen Ressourcen, wer mit welchen Tools, bis wann. Woran merke ich, dass ich gute Arbeit gemacht habe? Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen oft gar nicht so richtig, was von ihnen erwartet wird, die Mehrheit von ihnen übrigens. Das ist eine Katastrophe in Sachen Führung. Und es ist vor allem eine Katastrophe in einer Remote-Umgebung, in der sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach dem Meeting nicht in der Kaffeeküche treffen können und fragen: Wie war das gemeint? Wo liegt das Dokument? Was hat sie da gesagt zum Thema XY? Diese informelle Kommunikation ist meist schwieriger. Darum müssen Führungskräfte umso stärker Klarheit herstellen, mehr kommunizieren, besser kommunizieren.
Darüber hinaus können Führungskräfte in der Regel nicht gut asynchron kommunizieren. Führungskräfte sind in der Regel große Fans von synchroner Kommunikation: also von Meetings, bei denen alle zur gleichen Zeit reden, von Calls, bei denen alle dabei sein müssen. Synchrone Kommunikation ist aber Gift für die Produktivität, weil sie per definitionem unterbrechend und ablenkend ist. Die digitalen Plattformen hingegen – Teams, Slack, wie sie alle heißen – ermöglichen die asynchrone Zusammenarbeit: Das heißt, ich kann mich eine Stunde auf eine Aufgabe konzentrieren und danach entscheiden, wann ich die Nachrichten lese, die inzwischen reingekommen sind. Das ist für viele Führungskräfte schwierig. Von Führungskräften hört man immer wieder Sätze wie: Bevor du viele E-Mails schreibst, rufe doch einmal an. Oder, wenn man dann wieder ins Büro geht, auch: Ach, da gehe ich mal eben rüber und erkläre das nochmal. Typische Führungskräfte-Sätze und typischerweise falsch. Führungskräfte müssen asynchrone Kommunikation lernen.
msg: Wenn wir jetzt aber das Pech haben und Teil einer Organisation mit Führungskräften sind, die in dieser Hinsicht nicht aktiv werden: Siehst du eine Chance für Graswurzel-Ansätze, wie wir sie auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung begleiten? Wie ordnest du das ein? Siehst du sie als eine Chance? Oder denkst du, die Veränderung kann nur über Führungskräfte angestoßen werden?
Markus Albers: Ich nehme meine Führungskräfte-Schelte ein wenig zurück. In der Regel sind die Führungskräfte, glaube ich, guten Willens. Aber sie tun sich vielleicht hier und da noch schwer zu wissen, was genau und wie genau sie es jetzt machen sollen. Die Situation ist für uns alle neu, natürlich auch für die Führungskräfte. Daher müssen wir alle gemeinsam lernen, wie wir uns in dieser neuen Remote-First-Arbeitswelt – die auch nach Corona aller Wahrscheinlichkeit nach bestehen bleiben wird, auch wenn wir uns alle wieder auf das Büro freuen – richtig verhalten.
Also, es geht nicht um Führungskräfte-Schelte. Aber es geht darum, dass Führungskräfte auch, sagen wir mal, offen sind. Bereit sind zuzuhören. Und da sind wir jetzt bei den Graswurzel- Initiativen. Teams oder Abteilungen wissen häufig am besten, wie sie zusammenarbeiten wollen. Wie sie produktiv sind und wann und auf welchen Kanälen sie welches Thema diskutieren möchten. Oder wie Entscheidungsfindung am besten funktionieren könnte. Da sollten die Führungskräfte sehr viel mehr zuhören und auch Experimente zulassen. In der freien Wirtschaft würde man sagen: testen, ausprobieren. Wenn etwas nicht funktioniert: verändern, inkrementelle Verbesserungen erreichen. Wir probieren alle gerade aus, wie diese neue Arbeitswelt funktioniert. Und wir werden uns auch neue Regeln geben müssen. Ich glaube stark daran, dass wir auch neue Kulturtechniken, so nenne ich das immer, brauchen, wie wir mit diesen digitalen Werkzeugen miteinander arbeiten wollen. Aber um diese Kulturtechniken zu finden, braucht es genau solche Experimente, Piloten, Tests – in einem gewissen Rahmen. Klar ist das in der öffentlichen Verwaltung etwas schwieriger. Man kann jetzt nicht sagen: Oh, das ist leider schiefgegangen. Der Beta-Test hat leider nicht funktioniert, liebe Bürger. Aber man kann trotzdem in einem gewissen Rahmen Experimente und Tests zulassen. Das ist, glaube ich, sehr, sehr wichtig.
"Da sollten die Führungskräfte sehr viel mehr zuhören und auch experimente zulassen."
msg: Was meinst du mit Kulturtechniken? Hast du ein Beispiel?
Markus Albers: Kulturtechniken sind für mich etwas, das wir lernen, über das wir uns, explizit oder implizit, vereinbaren und das in unseren Alltag eingeht. Das können ganz kleine Dinge sein. Ein schönes Beispiel ist, was junge Menschen in Großbritannien erfunden haben, nämlich das sogenannte „Stacking“. Junge Menschen treffen sich, wenn man das dann nach Corona wieder darf, in einem Café auf ein Eis und alle stapeln, „stacken“, ihre Smartphones aufeinander. Und egal, ob die klingeln oder piepen, man darf nicht rangehen. Und wer doch rangeht, zahlt die Rechnung für alle. Das ist eine Kulturtechnik. Solche kleinen Siege sind gemeint.
Im Arbeitskontext sind es Absprachen und Policies im Team, die sich durchsetzen und funktionieren. Zum Beispiel sogenannte „Core Collaboration Hours“, also Kernzeiten für die Zusammenarbeit. Drei oder vier Stunden am Tag, in denen wir auf Slack, Teams oder wie auch immer das Tool heißt, füreinander erreichbar sind und miteinander digital kollaborieren. Davor und danach aber nicht. Weil wir auch Konzentrationsphasen brauchen. Das kann eine Kulturtechnik sein, die man in Teams absprechen kann. Und aus solchen Graswurzel-Experimenten in einzelnen Teams kann eine – entschuldige die vielen englischen Ausdrücke – eine Best Practice erwachsen, die übertragbar ist auf die ganze Organisation, indem die Abteilungen voneinander lernen. Voraussetzung ist allerdings immer, dass die interne Kommunikation funktioniert. Diese Themen und Prozesse müssen dokumentiert, begleitet, kommuniziert werden. Das eine Team muss sagen: Wir haben es ausprobiert, es hat nicht funktioniert. Aber wir haben etwas anderes ausprobiert, das hat super funktioniert. Diesen Austausch zu ermöglichen und nicht Top-down irgendwie zu steuern, sondern erst mal zuzulassen, ist eine Bedingung dafür, dass das Experimentieren zu einem guten Ergebnis führt.
msg: Einen Schritt weitergedacht finden sich also die wahren Experten für die Arbeit und ihre Veränderung in den einzelnen Teams. Nicht in linearen Strukturen, sondern in Strukturen, die auf natürliche Art und Weise aus der Organisation heraus entstehen. Wie schafft es eine Organisation, diese Expertise zu heben und welche Rolle spielt diese Expertise für die Idee des lebenslangen Lernens, die wir ja auch in dem D21-Denkimpuls herausgestellt haben?
Maria Rösch von der msg systems ag im Gespräch mit Markus Albers
Markus Albers: Dieses Schlagwort des lebenslangen Lernens jedes oder jeder Einzelnen oder dann eben auch der Organisation als Ganzes ist in den letzten Monaten sehr anfassbar geworden. Das ist kein Schlagwort oder Kalenderspruch mehr, sondern etwas, das wir alle praktiziert haben. Wir haben ganz viel gelernt in den letzten Monaten: Wie bediene ich das Tool richtig? Hat mein Laptop überhaupt eine Kamera? Wie kann man klug miteinander arbeiten, wenn man nicht im selben Raum sitzt? Wir haben also alle sehr viel gelernt. Darunter ist aus meiner Sicht auch eine ganz wichtige Erkenntnis: nämlich, dass es gar nicht immer die großen teuren, wiederum Top-down-Fortbildungsprogramme braucht. Häufig erfolgt Lernen Peer-to-Peer, zwischen Kolleginnen und Kollegen, wenn der eine oder die andere etwas weitergibt, was der andere oder die eine noch nicht beherrscht.
Lernen funktioniert – auch – aus den Menschen und aus den Teams heraus. Wenn man den Informationsaustausch zulässt, wenn man Experimente zulässt und Austausch fördert. So ein selbst produziertes Handyvideo im Intranet, in dem mir jemand erklärt, wie er dieses oder jenes Tool benutzt, kann nächste Woche online sein. Und Menschen werden es auch anschauen und teilen, wenn sie es interessant finden. Das ist mir lieber als ein Fortbildungsprogramm, das über ein Jahr budgetiert und geplant wird und dann, wenn es kommt, eigentlich schon wieder veraltet ist.
msg: Eine weitere Entwicklung und Herausforderung, die der Denkimpuls benennt, ist, dass Beschäftigte im Homeoffice mit einer Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben umgehen, manchmal auch kämpfen müssen. Das erfordert die Fähigkeit sich abzugrenzen. Hast du Ideen oder Best Practices, die du den Führungskräften oder den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an die Hand geben kannst?
"Ständiges arbeiten tut uns nicht gut."
Markus Albers: Das wird aus meiner Sicht in der Tat eines der ganz großen Themen werden, wenn es das nicht schon ist. Die Entgrenzung von Arbeit, die Vermischung von Privatem und Beruflichem, wird noch weiter zunehmen. Auch heute sagen 80 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass sie eigentlich jederzeit erreichbar sind für die Arbeit. Die Krankenkassen haben in der Vergangenheit zu Recht immer wieder gemahnt, dass das viele Menschen krank macht.4 Wobei die zunehmende Digitalisierung und das Homeoffice in der Corona-Krise die Beschäftigten natürlich grundsätzlich entlastet haben. Jeder Zweite bewertet die Arbeit mit Laptop, Smartphone und Videokonferenzen aktuell als positiv, viele empfanden im Homeoffice dank besserer Work-Life-Balance weniger Stress.5
Ständiges Arbeiten tut uns nicht gut. Darum ist es umso wichtiger, herauszufinden, wie man damit umgeht. Was nicht zurückkommen wird, denke ich, ist der gute alte Feierabend – um 17:00 Uhr Griffel fallen lassen, Handy ausschalten, und das war es dann. Das wird nicht wiederkommen, und sich danach zu sehnen, ist sinnlos.
Was langfristig auch nicht funktionieren wird, sind patriarchalische Top-down-Lösungen, wie sie bei einigen Konzernen immer wieder versucht werden: zum Beispiel abends den E-Mail-Server herunterzufahren. Dann suchen sich die Beschäftigten Wege drumherum, denn die Arbeit muss ja gemacht werden. Das alles ist also nicht die Lösung. Ich glaube, auch hier werden sich am ehesten Best Practices aus den Teams heraus bewähren. Also, wie ich es bereits beschrieben habe: Wann sind wir auf welchem Kanal mit welcher Priorisierung erreichbar? Was sind unsere Kern-Kollaborationszeiten und wie erlauben wir uns aber auch gegenseitig Zeiten zum konzentrierten Arbeiten? Auf asynchrones Arbeiten setzen. Nicht ein Call nach dem anderen, weil sonst am Ende eines Tages, der aus lauter Calls bestanden hat, eigentlich die Arbeit erst anfangen müsste. Das ist nicht produktiv und erschöpft die Menschen. Möglicherweise ist der Schmerz im öffentlichen Sektor noch nicht so stark wie in der Privatwirtschaft. Meine Prognose ist aber, dass er kommt. Es gibt Unternehmen, die diesbezüglich schon manches ausprobiert haben, weil sie schon länger remote sind und verteilt und auf Entfernung digital arbeiten. Von denen kann man generell und sicherlich auch die Verwaltung viel lernen.
msg: Organisationen sollten also zweierlei tun, meinst du? Zum einen aus Best Practices anderer Unternehmen und Organisationen zu lernen, auch aus anderen Branchen. Zum anderen das Lernen aus der Kompetenz der einzelnen Teams. Wenn wir uns jetzt vor allem den zweiten Punkt anschauen: Was würdest du Organisationen empfehlen, um mit diesem Weg zu beginnen?
Markus Albers: Das Erste wäre aus meiner Sicht, zu schauen, was funktioniert und was nicht funktioniert. Hier hilft es häufig tatsächlich, auch mit den Betroffenen zu sprechen. Führungskräfte schätzen viele Themen oftmals anders ein als ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie überschätzen oft die eigene Führungsqualität oder auch den Digitalisierungsgrad. Das sind meine ganz praktischen Tipps: Erstens, interdisziplinäre und bitte auch über alle Hierarchiestufen hinweg Piloten starten, in denen offen und angstfrei über das gesprochen werden kann, was fehlt. In denen Beschäftigte auch zugeben können, dass sie diese ganze digitale Kommunikation vielleicht manchmal überfordert. Das ist in vielen Organisationen ein Tabuthema. Wer das anspricht, wirkt schnell unmodern oder digitalisierungskritisch. Das ist aber nicht der Fall. Tatsächlich sind es gerade die Jungen, Digitalen, die solche Themen ansprechen und dann nach Lösungsansätzen suchen.
Zweitens zuhören, sammeln, inkrementelle Verbesserungen versuchen, viel Kommunikation zulassen. Drittens dann an irgendeinem Punkt – das ist, glaube ich, auch wichtig – aus Führungssicht sammeln, was da entstanden ist, notieren und zurück in die Runde geben: Das habt ihr als unsere Policy erarbeitet, so wollen wir digital/kollaborativ/remote miteinander arbeiten. Dieses Schriftstück kann dann auch für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr wichtig werden. Es muss aber zuvor aus den Teams heraus entwickelt werden.
msg: So also können wir die Krise als Chance für einen Kulturwandel nutzen. Hast du eine Prognose, wann der Kulturwandel erreicht werden kann? Wie lange dauert so ein Prozess? Ist er überhaupt irgendwann zu Ende?
Markus Albers: Zu Recht sagt man: Digitalisierung hat kein Ende. Im Gegenteil bedeutet die exponentielle technologische Entwicklung ja nicht nur eine rasant schnelle, sondern vor allem eine immer schnellere Veränderung. Aber dieser beschleunigten Veränderung muss man sich nicht ausliefern, sie kann und muss gestaltet werden. Man muss nur heute anfangen, sich für und im Wandel aufzustellen. Das wird ein permanentes, nicht endendes Gespräch. Ein Prozess, der – da gebe ich dir recht – kein Ende hat und so gesehen auch kein Endziel. Es geht um eine stetige Verbesserung, und zwar in zwei Richtungen.
"So also können wir die Krise als Chance für einen Kulturwandel nutzen."
Zum einen: Wie können wir produktiver sein? Ich glaube, das ist nicht nur die Sicht von oben. Ich denke, jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin möchte gerne produktiv sein, möchte gerne gute Ergebnisse erzielen. Zum anderen aber geht es auch darum, Gesundheit zu fördern und das Wohlgefühl beim Arbeiten zu verbessern. Kein Ende also, aber der Anfang, wie wir ihn beschrieben haben, ist bereits ein Kulturwandel.
Ein Beispiel noch für die technologische Beschleunigung: Apple arbeitet an einer Datenbrille, das heißt, wir werden bald gar nicht mehr so viel auf unsere Smartphones schauen, sondern wir werden das alles in unseren Brillen haben oder einen Knopf im Ohr und werden die Technik mit unserer Stimme steuern. Das ist keine Science-Fiction mehr. Und wenn das eintritt, werden wir eine permanente digitale Schicht zwischen uns und der Wirklichkeit haben. Dann werden wir ununterbrochen online sein – und ich fürchte auch: immer arbeiten. Wir müssen uns jetzt Gedanken darüber machen, wie wir dann auch mal nicht arbeiten wollen.
msg: Letztlich besteht da ein Dreieck der Bedürfnisse: Meine persönlichen Bedürfnisse, das heißt, welche Bedürfnisse habe ich in meinem Arbeitsleben und wie möchte ich die abgebildet sehen? Die Bedürfnisse des Teams, also: Wie wollen wir gemeinsam arbeiten? Und als drittes gibt es auch noch die Bedürfnisse der Gesamtorganisation, ihren eigenen Zweck zu erfüllen – Zweck für die Welt oder in der Welt außerhalb der Organisation. Wie lässt sich dieser dritte Punkt integrieren in den Lernprozess der Organisation?
Markus Albers: Ronald Coase hat schon 1937 dieses schöne Essay geschrieben: „The Nature of the Firm“6. Es beschäftigt sich damit, wozu es überhaupt Organisationen gibt und warum sich Menschen zu solchen zusammenfinden. Eine Kernthese ist, dass privatwirtschaftliche wie auch öffentliche Organisationen sich deshalb finden, weil die Transaktionskosten zu hoch sind, alles vernetzt und verteilt zu tun. Das hat sich geändert, also die Transaktionskosten sind gesunken. Durch digitale Vernetzung sind die Grenzen von Organisationen durchlässiger geworden. Man hat heute viel mehr Partner und viel mehr Anspruchsberechtigte. Das Interesse der Organisationen ist aus meiner Sicht darum emergent, fließend, situativ, veränderlich. Es erwächst aus dem Zusammenwirken dessen, was die Teams oder Abteilungen tun, aber auch, was die Außenwelt will und tut.
"Es muss strategische Klarheit geben, der Weg dahin muss aber freier gestaltbar sein."
Ein bisschen einfacher gesagt: Die Zeiten von Drei- oder Fünfjahresplänen sind vorbei. Also man muss, glaube ich, sehr viel agiler – Entschuldigung, ich hatte eigentlich versucht, dieses überstrapazierte Wort zu vermeiden, aber hier passt es einfach – , also sehr viel agiler, öfter und schneller über Ziele und Strategien sprechen. Auf diese Weise kommt dann das Organisationsinteresse in den Prozess. Aber auch dieser agile Strategieprozess funktioniert nicht Top-down. Es muss strategische Klarheit geben, der Weg dahin muss aber freier gestaltbar sein.
msg: Wie könnten Techniken wie zum Beispiel Design Thinking dabei unterstützen, diese dritte Perspektive stärker zum Gegenstand des Dialogs zu machen?
Markus Albers: Design Thinking ist sicherlich eine von vielen möglichen Techniken, die dabei hilfreich sein können. Ich persönlich bin aber nicht der Meinung, dass das Einführen von Design-Thinking-Workshops alle Probleme löst. In den letzten Jahren war das in der freien Wirtschaft in Mode, auch nicht zu Unrecht. Aber ich bin ein bisschen skeptisch, offen gesagt, weil ich finde, Design Thinking suggeriert, man könne Dinge auch ganz anders machen. In der Praxis ist das dann aber häufig doch nicht so. Und das führt zu Frustration, so meine Beobachtung. Entscheidender ist aus meiner Sicht, dass die Meinungsbildung darüber, wie wir zusammenarbeiten wollen, und die Kommunikation dazu aus den Teams heraus erfolgt. Aber diese Meinungsbildung kann durchaus davon profitieren, dass man viele verschiedene Techniken, Tools und von mir aus auch Workshopmethoden ausprobiert und dann mit der arbeitet, die am besten funktioniert. Wichtig ist, das Gespräch darüber jetzt zu beginnen. Das Wie würde ich den Teams überlassen.
"Ich leite dann immer Freitags, wenn Ratssitzung ist, das Telefon auf das Handy um, sitze im Eis-Café und arbeite von dort aus."
msg: Wenn du jetzt noch einen letzten Motivationsschub in den öffentlichen Sektor pusten könntest, was wäre das? Was motiviert, diesen Weg zu gehen? Was ist dein Impuls?
Maria Rösch von der msg systems ag im Eis-Café
Markus Albers: Das Klischee besagt, dass der öffentliche Sektor sich in Sachen Digitalisierung nicht gerade in der vordersten Reihe bewegt. Das ist auch häufig leider richtig, aber auch nicht immer und überall. Ich habe mein erstes Buch über mobiles und flexibles Arbeiten, also eigentlich genau die Arbeitswelt, die wir heute sehen, 2008 geschrieben.7 Darin hatte ich bereits ein Beispiel aus einer öffentlichen Verwaltung: Die Stadtverwaltung Wolfsburg hatte schon damals die Vertrauensarbeitszeit. Dort habe ich mit der Assistentin des Stadtkämmerers gesprochen, die zu mir sagte: „Ich leite dann immer freitags, wenn Ratssitzung ist, das Telefon auf das Handy um, sitze im Eis-Café und arbeite von dort aus.“ Das war 2008. Und es war eine Verwaltung, die das exzellent gemacht hat. Die Stadt Wolfsburg konnte dadurch sogar ihre Öffnungszeiten für Bürgerservices verlängern, nach vorne und nach hinten, weil manche eher früher arbeiten wollten und andere eher ein wenig später. Also das Klischee stimmt nicht. Es gibt gute Beispiele auch innerhalb der Verwaltung, die anderen Impulse und Ideen geben können. Und was gerade im Bundesministerium für Arbeit und Soziales bei Hubertus Heil von Björn Böhning und anderen rund um die neuen Arbeitswelten erdacht und in die Welt getragen wird, ist aus meiner Sicht sogar sehr weit vorne.8
msg: Dann gebe ich mich jetzt dem schönen Bild hin, dass wir in geöffneten Eis-Cafés sitzen werden und dort ganz viele Beschäftigte des öffentlichen Sektors antreffen, die neue Formen der Zusammenarbeit erproben. Vielen Dank, Markus, für das Gespräch.
Markus Albers: Danke dir auch, Maria.
Quellen
1 https://www.linkedin.com/newsletters/rethinking-6685904735171551233/ (aufgerufen am 17.06.2021).
2 https://hrpepper.de/wp-content/uploads/2020/05/New-Work-in-der-Bewaehrungsprobe.pdf (aufgerufen am 17.06.2021).
3 https://initiatived21.de/app/uploads/2021/06/new-normal_kultur-zusammenarbeit-fuehrung.pdf (aufgerufen am 17.06.2021).
4 https://www.diagnose-media.org/artikel/detail&id=41 (aufgerufen am 17.06.2021).
5 https://www.dak.de/dak/gesundheit/gesundheitsreport-2020-stress-in-der-modernen-arbeitswelt-2365966.html#/ (aufgerufen am 17.06.2021).
6 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/j.1468-0335.1937.tb00002.x (aufgerufen am 17.06.2021).
7 https://www.amazon.de/Morgen-komm-sp-C3-A4ter-rein-Festanstellung-dp-3844282513/dp/3844282513/ref=dp_ob_title_bk (aufgerufen am 17.06.2021).
8 https://www.denkfabrik-bmas.de/ (aufgerufen am 17.06.2021).