Zuerst erschienen in der public Ausgabe 01-2023
von Karsten Redenius
Die vielfältigen Krisen in jüngster Zeit haben nicht nur unsere Gewohnheiten gründlich durcheinandergewirbelt, sondern auch ihren je eigenen Handlungsdruck erzeugt: Extremwetterereignisse zeigen die Dringlichkeit des Klimaschutzes, der Krieg in Europa deckt die viel zu großen Abhängigkeiten in den Lieferketten auf, die Pandemiebekämpfung hätte eine viel weitreichendere effiziente Datennutzung erfordert – um nur einige Punkte herauszugreifen. Bei all dem macht sich eine gewisse Überforderung breit, wenngleich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft doch auch immer wieder in der Lage sind, sich auf die Herausforderungen einzustellen und Lösungen für einzelne Probleme zu finden. Was wir allerdings unbedingt brauchen, ist ein vorausschauender Blick für das Ganze, um die ausdifferenzierte, komplexe Gesellschaft resilienter zu machen und für die Zukunft aufzustellen. Das wäre echte Daseinsvorsorge! Und das wäre dann auch nachhaltig.
Die Krisen lösen stets ad hoc notwendige Entscheidungen und Handlungen aus. Doch eigentlich ist es erforderlich, die Lage aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und zu bewerten, um Interdependenzen zu erkennen und die Auswirkungen zu bedenken. Nur so sind gute, sind nachhaltige Entscheidungen möglich. Nachhaltiges Handeln braucht ganzheitliches Denken. Die gute Nachricht: Die Digitalisierung liefert das vielleicht entscheidende Instrument dafür. Denn die IT ermöglicht es technisch, alle Schichten der Realität intelligent miteinander zu vernetzen. Längst verfügen wir über eine Unmenge an Daten, es gilt, sie zueinander in Beziehung zu setzen, um daraus neue Informationen zu gewinnen und Erkenntnisse abzuleiten, die einen echten Wissenssprung bedeuten.
Darin liegt eine große Chance, ja die einzige Chance, die wir haben, um die komplexen Zusammenhänge zwischen unserem Lebensstil und der weiteren Entwicklung unserer Welt zu verstehen und zu steuern. Man denke etwa an die Möglichkeiten zur intelligenten Steuerung der Infrastruktur in einer Smart City, zum Beispiel durch den europäischen Datenraum „Mobility Data Space“. Oder an die Potenziale, die sich für die Bekämpfung einer Pandemie aus der Auswertung von Bewegungsdaten ergeben, zum Beispiel das Vorhaben des RKI und UBA zur Nutzung von Abwasserdaten für Trend- und epidemiologische Analysen auf Landes- und Bundesebene. Die wurden in der Corona-Warn-App aus gutem Grund nur sehr vorsichtig genutzt – nämlich unter allen Begrenzungen des Datenschutzes und mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz. Zugleich ist aber auch die Gesundheitsvorsorge ein Aspekt von Nachhaltigkeit. Ohne die Berücksichtigung all dieser Aspekte in der sozialen Dimension kann weder die Digitalisierung noch umfassende Daseinsvorsorge und auch keine Nachhaltigkeit gelingen.
Dies ist abzuwägen, wenn wir wirklich vorankommen wollen. Denn damit verbunden sind tiefgreifende Veränderungen im Leben und Arbeiten von uns allen, für die es nicht nur Akzeptanz, sondern auch das Mittun aller braucht. Noch einmal: Die Digitalisierung bietet dafür viele Ansatzpunkte – und auch mehr Möglichkeiten, unter anderem die, Bürgerinnen und Bürger in die Entscheidungsfindung zu integrieren.
Gleichzeitig jedoch muss auch die Digitalisierung selbst nachhaltig gestaltet werden. Schließlich ist sie nicht nur der entscheidende Hebel zur Ermöglichung nachhaltiger Daseinsvorsorge, sondern auch Teil des Systems, das nachhaltig gestaltet werden muss. Und vieles in der IT ist heute alles andere als nachhaltig. Dies bedeutet zum einen, die genannten sozialen Aspekte sowie demokratische Werte zu verfolgen und darüber hinaus eine umfassende Befähigung von Bürgerinnen und Bürgern zum Umgang mit digitalen Instrumenten voranzubringen, die digitale Literalität zu fördern. Zum anderen geht es selbstverständlich auch um die Reduktion des Energieverbrauchs, Stichwort „Green IT“, oder um mehr Standardisierung, man denke nur an die vielen verschiedenen Stecker zum Aufladen von Mobiltelefonen. Hier brauchen wir für Hardware wie Software Normen und Standards, die eine ganzheitliche Integration ermöglichen.
Zu guter Letzt: Nachhaltigkeit und nachhaltige Digitalisierung sind nur unter dem Vorzeichen digitaler Souveränität denkbar. Die Potenziale der Digitalisierung lassen sich nur ausschöpfen, wenn wir uns in die Lage versetzen, a) den Datenschatz zu heben im Sinne von: technisch und mathematisch die Daten klug zueinander in Beziehung setzen, wenn wir uns b) sicher sein können, dass die Daten und die Auswertungen nicht manipuliert wurden und wenn wir c) über die Expertise ebenso wie über die Unabhängigkeit verfügen, Schlüsse zu ziehen und gute Entscheidungen zu treffen. Das ist gegenwärtig nicht gegeben. Weder verfügen wir über ausreichend Know-how noch über die erforderliche Resilienz und auch hinsichtlich der benötigten Komponenten diktieren an vielen Stellen andere die Bedingungen.
Souveränität darf aber auch nicht bedeuten, die Regulierung beispielsweise zum Datenschutz so weit zu treiben, dass unternehmerisches Handeln oder überhaupt innovative Ansätze unmöglich werden. Selbstverständlich haben Bürgerinnen und Bürger das Recht auf ihre Daten. Sie haben aber auch die Verantwortung, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, wenn sie der Daseinsvorsorge dienen, beispielsweise dem Gesundheitsschutz. Für einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten brauchen wir (daten-) mündige Bürger und einen Austausch zwischen vielen Interessengruppen. Auch Souveränität erfordert also einen weiten Blick und ein Ausbalancieren und Abwägen – und am Ende eine auch technisch belastbare Lösung. In ähnlicher Weise muss der Umgang mit den technischen Abhängigkeiten erfolgen: als ein Austarieren, Verteilen und Minimieren von Risiken, die Möglichkeit auszusteigen eingeschlossen. Mit all dem kann jede und jeder in ihrem oder seinem Verantwortungsbereich beginnen, während wir uns zugleich gemeinsam und im fortwährenden Dialog für eine nachhaltige, digital geprägte Zukunft aufstellen. Dafür können und müssen wir heute schon eine Haltung einnehmen, die uns auf den Weg bringt. Diese Haltung muss geprägt sein von Offenheit, Willen zum Dialog, demokratischen Grundwerten und Weitblick.
Quelle
1 Zuerst vorgestellt durch den Autor auf der DIV-Konferenz (Fokusgruppe „Intelligente Vernetzung“ des nationalen Digital-Gipfels der Charta digitale Vernetzung e. V.), für die .public überarbeitet und aktualisiert (siehe Redenius, Karsten: Digitalisierung. Zentraler Schlüssel zur Nachhaltigkeit, Impulsvortrag, www.msg.group, 2022, abgerufen am 11.10.2022).