Zuerst erschienen in der public Ausgabe 02-2021
von Jürgen Fritsche
Über Grenzen und das Verschieben von Grenzen in der Corona-Krise
"Oft große Flam von Fünklin kam“
Christoph Martin Wieland1
... wie auch zu Anfang des Jahres 2020, als in vielen Ländern ein Lockdown angeordnet wurde und das Weltgeschehen anscheinend ins Stocken geriet. Das Leben ging trotzdem weiter, nur irgendwie anders. Mit weniger Sozialkontakten und größerer Abhängigkeit von digitalen Möglichkeiten. Das hat uns vor Augen geführt, wie viel Nachholbedarf wir im Bereich der digitalen Werkzeuge haben. Und es hat uns gezeigt, dass berufliches Reisen wirklich sehr oft überflüssig ist. Wenn keiner reisen kann, entfällt der Gruppendruck, auch selbst zu einstündigen Besprechungen anzureisen. Sichtbar wurde aber auch, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und den Austausch und physischen Kontakt mit anderen zum Leben braucht. Vor dem Hintergrund dieser Erlebnisse diskutiere ich folgende Fragen:
1. Wodurch werden Veränderungen ausgelöst?
2. Halten die Veränderungen auch an, wenn die wahrgenommene Ursache der Veränderung nicht mehr existiert?
3. Befinden wir uns jetzt in einem schöneren Hamsterrad als vorher? Dabei werde ich dem Thema Veränderung zunächst allgemein nachgehen, mich dann aber auf den Aspekt Digitalisierung konzentrieren.
Wodurch werden Veränderungen ausgelöst?
Im Frühjahr 2020 wurde unser gewohntes Leben gründlich erschüttert. Was uns bis dahin selbstverständlich war, ging plötzlich nicht mehr: Alltagsabläufe, soziales Miteinander, Freizeitaktivitäten, Berufliches. Privat mussten wir soziale Kontakte stark reduzieren. Schulen mussten auf digitale Lernangebote umsteigen, die es aber nicht gab und auch heute noch kaum gibt. Viele Jahre hat man zwar über die Digitalisierung der Schulen gesprochen, es jedoch versäumt, adäquate Werkzeuge einzuführen und methodische und didaktische Lösungen zu erzeugen. Stattdessen hat man an der bewährten Praxis des Präsenzunterrichts festgehalten.
"Fast überall sind Regeln weniger wirksam als Erfahrungen.“
Marcus Fabius Quintilianus2
Wo immer möglich, war man angehalten, von zu Hause aus zu arbeiten. Eine gute Internetverbindung, ein häusliches Arbeitszimmer und ein leistungsfähiger dienstlicher Computer waren auf einmal existenziell. Hotels und Gaststätten mussten schließen und bei Wiederöffnung Sicherheitsmaßnahmen einführen. Gastronomiebetriebe mussten, falls das überhaupt möglich war, ihr Angebot ad hoc auf Abhol- oder Lieferservice umstellen, um überleben zu können. Kunst- und Kulturschaffende haben von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit, ihr Publikum, ihr Einkommen und oft auch ihre Kreativität im Lockdown verloren. Mit großer Geschwindigkeit haben Unternehmen versucht, die Folgen dieser Maßnahmen durch eine nie da gewesene „Aufrüstung“ ihrer digitalen Infrastruktur – Hard- und Software – abzufangen.
Plötzlich waren wir also mit Einschränkungen unserer als selbstverständlich wahrgenommenen Freiheit konfrontiert. Unseren Handlungen wurden enge Grenzen gesetzt. Das war eine einschneidende Veränderung in einem so weitreichenden Ausmaß, dass man von einer Krise sprechen kann. Die Veränderung beziehungsweise Krise hat uns gezwungen, neu nachzudenken, neue Wege zu versuchen, um mit der Situation zurechtzukommen. Mit diesen neuen Wegen haben wir zugleich Grenzen überschritten, deren Überschreitung vorher lange nicht gelungen war.
"Es gibt nichts dauerhaftes außer der Veränderung.“
Heraklit3
Diese Grenzüberschreitungen waren und sind eine umfassende, revolutionäre Veränderung, die nicht einfach nur angeordnet werden konnte, sondern einen wirklich guten Grund benötigte, über den breiter Konsens besteht. In diesem Fall war der Grund eine winzige organische Struktur, die von einem Großteil der Bevölkerung als Risiko für Leib und Leben wahrgenommen wurde.
Für Veränderungen braucht es also einen sehr breiten Konsens der Zustimmung, der sich durch gleichartige Information über eine gut begründete Dringlichkeit zur Veränderung erreichen lässt.
Halten die Veränderungen auch an, wenn die (wahrgenommene) Ursache für die Veränderung nicht mehr existiert?
"Die stete Beständigkeit der Wirkung setze eine proportionierte stete Beständigkeit der Ursache voraus."
Wenn wir diese Aussage, die Adam Smith4 zugeschrieben wird, als wahr ansehen, könnte alles gesagt sein. Denn wenn wir annehmen, dass die Gefahr durch immer neue Mutationen des Virus bestehen bleibt – wobei Mutationen in der Natur ein normaler Vorgang sind –, dann bleibt die Ursache bestehen, und es gibt auf nicht absehbare Zeit Anlass zu Maßnahmen, die entsprechende Wirkungen erzeugen.
Antwort 1 lautet also: Ja, die Veränderungen halten an, wenn die Informationen über gut begründete Dringlichkeiten weiter bestehen. Ich muss und möchte jedoch eine angemessene Zeichenzahl für diesen Beitrag nicht unterschreiten, daher folgen weitere Überlegungen zum Thema, diesmal, wie angekündigt, mit dem Fokus Digitalisierung.
Allein hinsichtlich des mobilen Arbeitens oder Arbeitens von zu Hause aus sind verschiedene Perspektiven zu betrachten. Viele Menschen können gar nicht mobil arbeiten, sie müssen und wollen werktäglich zu ihrem Arbeitsplatz kommen. Diejenigen, die mobil arbeiten können, das sind laut D21-Digital- Index 2020/20215 im Jahr 2020 ca. 34 Prozent der Berufstätigen, haben demgegenüber die Möglichkeit für Homeoffice verstärkt genutzt. Der Anstieg gegenüber 2019 betrug 17 Prozent. Wenn es sich die Beschäftigten aussuchen könnten, hätte ein Drittel gerne ein ausgewogenes Verhältnis aus Präsenzzeit im Unternehmen und mobilem Arbeiten.
Die Sicht der Unternehmen auf das Thema mobiles Arbeiten hängt von der Unternehmensgröße ab. Bei kleineren Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten gibt es oft keine Möglichkeit zu mobilem Arbeiten. Die größeren Unternehmen bieten solche Möglichkeiten meist an. Bei den Unternehmen bestehen einige Bedenken, die den Austausch unter den Beschäftigten, die Datensicherheit und eine erschwerte Führung von Teams betreffen. Dennoch werden die größeren Unternehmen in Zukunft die Möglichkeiten zum dauerhaften und/oder umfänglichen mobilen Arbeiten ihrer Belegschaft und dafür geeignete Arbeitsplätze beziehungsweise Infrastruktur anbieten.
Als weitere Hürde für die Arbeit von zu Hause aus wird insbesondere bei Behörden der häufig eingeschränkte Zugriff auf wichtige Daten und Informationen genannt. Da vieles noch papiergebunden geschieht, muss mehr vor Ort gearbeitet werden. In Verwaltungen, die über eine E-Akte verfügen, hat sich die elektronische Ablage und Bearbeitung als erheblicher Vorteil herausgestellt. Großes Potenzial besteht allerdings weiterhin bei der Nutzung von kollaborativen Arbeitsplattformen, Projektmanagement- Software und Cloud-Diensten, die bisher kaum genutzt werden und sehr oft gar nicht vorhanden sind beziehungsweise in den jeweiligen Behördenkontexten nicht nutzbar sind. Wahrscheinlich ist, dass die Behörden wieder stärker auf Präsenz setzen werden, jedoch dann personell noch stärker in Konkurrenz zu großen Unternehmen geraten, die mobiles Arbeiten zulassen.6
Allgemein wird übrigens von den Arbeitgebern bezweifelt, dass die Digitalisierung und das mobile Arbeiten insgesamt die Zufriedenheit der Beschäftigten mittel- oder langfristig erhöhen wird. In den Jahren 2020 und 2021 hat sich aufgrund von Covid-19 in der Arbeitswelt für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine neue Normalität eingestellt. Gehen wir davon aus, dass die Ursachen für die Veränderungen bestehen bleiben, dann würde die derzeitige Praxis weiter angewendet und perfektioniert werden. Sollte die Pandemie „offiziell“ als beendet erklärt werden, wird die neue Normalität zumindest in einigen Branchen und Teilen der Bevölkerung weiterhin bestehen bleiben.
Die einmal eingetretenen Veränderungen – oder auch: Grenzüberschreitungen – hin zur Digitalisierung haben bekanntlich bereits jetzt Veränderungen der Unternehmenskulturen, der Zusammenarbeit innerhalb des eigenen „Hauses“ und mit Kunden oder Dritten, der Organisation und Führung nach sich gezogen. Vor- und Nachteile sind sichtbar geworden und werden wahrscheinlich zu einem neuen Mix aus Präsenz- und Remote-Arbeit führen. Wenn Unternehmen oder Behörden den Impuls aus der Pandemie aufnehmen und ihre Organisation hinsichtlich Führung, Zusammenarbeit und Kultur weiterentwickeln, andere hingegen eher zurückkehren in die Arbeitswelt vor Corona, dann droht ein Auseinanderdriften der Arbeitswelt(en).
Antwort 2 lautet daher: Ja und nein. Wenn die Bedrohung nicht mehr da ist, wird es Bestrebungen geben, zum Zustand davor zurückzukehren. Genauso wird es Bestrebungen geben, den neuen Zustand beizubehalten oder eine Mischung aus beidem herzustellen, um das Beste aus zwei Welten zu vereinen.
Befinden wir uns jetzt in einem schöneren Hamsterrad als vorher?
Der Denkimpuls „Neue Anforderungen an Zusammenarbeit, Kultur, Führung und Eigenverantwortung in der Arbeitswelt nach Corona“ der Initiative D217 betrachtet die Veränderung der Arbeitswelt von Berufstätigkeiten, deren Arbeit flexibel ins Homeoffice verlegt werden kann. Der Impuls führt acht Thesen für die Zeit nach Corona auf.
1. Arbeit wird in einem heute noch kaum vorstellbaren Maße omnipräsent.
2. Es wird noch Büros geben, aber sie werden eine andere Funktion haben.
3. Lebenslanges Lernen wird oberste Priorität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch für Organisationen.
4. Führungskräfte müssen Fähigkeiten für virtuelle Führung lernen.
5. Die Festanstellung wird an Bedeutung verlieren.
6. Die Unternehmenskultur wird grundlegend neu definiert.
7. Um Beschäftigte zur Selbststeuerung zu befähigen, müssen Unternehmen besser kommunizieren.
8. Homeoffice hat positive Auswirkungen auf Kreativität und Innovationskraft, die gefördert und unterstützt werden sollten.
Nicht mehr „das Management“ steuert die Belegschaft; vielmehr steuern sich die Einzelnen zunehmend selbst – in ihrem Tagesablauf, in ihrer Erreichbarkeit, in ihrem Lernwillen und im Stressmanagement8. Dabei werden Unternehmensgrenzen durch neue Kooperationsmodelle, zum Beispiel mit Freiberuflern, durchlässiger und Hierarchien werden flacher. Die Kommunikation wird in den virtuellen Formaten direkter und effektiver. Transparenz in den virtuellen Werkzeugen und die permanente Erreichbarkeit wird größer, was das Risiko von Überlastung und Überwachung mit sich bringt. Diese Entwicklungen erfordern neue Steuerungs- und Führungsmodelle in der Zusammenarbeit von Teams und in den Organisationen.
„Die Menschen wähnen, wo Geschäftigkeit sei, da geschehe auch etwas.“
Adolf Schafheitlin9
Büros werden nach der Corona-Pandemie andere Funktionen erfüllen müssen, weil Arbeit auch in Zukunft im Homeoffice, von unterwegs und an anderen Orten wie Coworking Spaces stattfinden kann. Permanente digitale Kollaboration wird daher zum Normalzustand und Arbeit in einem heute noch kaum vorstellbaren Maße omnipräsent. Zugleich verliert die Festanstellung an Bedeutung. Um eine Bindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu gewährleisten, muss Unternehmenskultur grundlegend neu definiert werden. Führungskräfte und Beschäftigte müssen viele Fähigkeiten neu erlernen. Führungskräfte müssen anders kommunizieren, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anders befähigen und auch anders steuern. Die Beschäftigten müssen neben Selbst- und Zeitmanagement die Fähigkeit mitbringen und entwickeln, eigenständiger zu agieren und zu entscheiden.
Wenn diese Thesen zutreffen, sind Arbeits- und Privatleben dauerhaft viel enger miteinander verwoben als bisher. Durch eine permanente Erreichbarkeit und die Verfügbarkeit von Arbeitsmitteln steigen die Möglichkeiten, „schnell noch etwas fertig zu machen“, gleichermaßen wie der Erwartungsdruck, genau dies auch zu tun.
„Operative Hektik ersetzt geistige Windstille.“
Paul Eugen Bleuler10
Ist diese Form der Arbeit nun besser als vorher? Nur dann, wenn die Unternehmen Regeln definieren, die eine Überlastung oder Überforderung des Einzelnen verhindern und ihr oder ihm gleichzeitig genügend Vertrauen entgegenbringen und Freiheit lassen, ihre oder seine Arbeit selbstverantwortlich einzuteilen. Geschieht das nicht, sieht das neue Hamsterrad zwar schöner aus, dreht sich aber noch schneller als vorher.
Was bleibt
In der Pandemie haben wir neue Grenzen erfahren und viele bisherige Grenzen eingerissen. Dabei haben wir Erfahrungen gemacht, die teilweise gut, akzeptabel, aber oft auch inakzeptabel sind. Handlungsspielräume haben sich verändert, Horizonte verschoben. In den nächsten Jahren wird das Terrain neu abgesteckt werden. Denn wir brauchen Grenzen, als Individuen und als Gesellschaft, um Zugehörigkeit zu ermöglichen, Rollenfindung zu erleichtern und ein Selbstverständnis auszubilden. Grenzen sind nicht zuletzt Orientierungsmarken.
Unternehmen und Behörden werden daran arbeiten, Grenzen neu zu verhandeln. Diejenigen, die jetzt die Vor- und Nachteile digitalen Arbeitens erlebt haben, werden manche Grenzverschiebungen konsolidieren, andere vielleicht zurücknehmen wollen. In jedem Falle wird es darüber Verhandlungen geben, es wird zu diskutieren und zu ringen sein, um den neuen Normalzustand zu gestalten und zu vereinbaren.
Quellen
1 Christoph Martin Wieland (1733–1813). Deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Aufklärung.
2 Marcus Fabius Quintilianus (um 30–96). Römischer Rhetor, Schriftsteller, Lehrer der Beredsamkeit und Erzieher des Kaisers Domitian.
3 Heraklit (um 520 v. Chr.).
4 Adam Smith (1723–1790). Schottischer Moralphilosoph, Aufklärer und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie.
5 D21-Digital-Index 2020–2021, https://initiatived21.de/app/uploads/2021/02/d21-digital-index-2020_2021.pdf, Seite 44 (abgerufen am 17.08.21).
6 Vgl. https://initiatived21.de/app/uploads/2021/06/new-normal_das-richtige-mass.pdf (abgerufen am 17.06.2021).
7 https://initiatived21.de/app/uploads/2021/06/new-normal_kultur-zusammenarbeit-fuehrung.pdf (abgerufen am 17.06.2021).
8 Siehe auch .public 03-2020 (S. 38 ff.): „Überlebensstrategien in unsicheren Arbeitsumgebungen – Job Crafting in der öffentlichen Verwaltung“ (https://publikation.msg.group/publikationsarchiv/fachartikel/1053-public-03-2020_job-crafting/file) (abgerufen am 17.08.21).
9 Adolf Schafheitlin (1852–1917), deutscher Lyriker. 10 Paul Eugen Bleuler (1857–1939), Schweizer Psychiater.