Zuerst erschienen in der public Ausgabe 02-2021
von Helmut Lämmermeier
Ein Appell an den Mannschaftsgeist der Länder
Regelmäßig werden wir mit Ranglisten zum Digitalisierungsfortschritt in Deutschland konfrontiert. Mit dem Ergebnis können wir insgesamt nicht zufrieden sein. Nahezu alle Studien kommen zu dem Schluss, dass es deutlichen Nachholbedarf in Deutschland im Bereich der Digitalisierung gibt, insbesondere auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung. So belegt Deutschland zum Beispiel laut einer Studie der privaten Wirtschaftshochschule IMD aus dem Jahre 20201 nur den 18. Platz von den untersuchten 63 Ländern und fällt aktuell weiter zurück.
Warum ist das so?
Als Ursache werden sehr häufig die föderalen Strukturen in Deutschland angeführt. Fast klingt es so, als gäbe es daraus auch keinen Ausweg und Deutschland müsse dieses für die Digitalisierung „strukturelle“ Problem akzeptieren. Aber ist das nicht zu kurz gedacht? Der Föderalismus hat in einer freiheitlichen Welt viele Vorzüge. Aber bei der Digitalisierung soll er uns nun so im Wege stehen, dass es keine Lösung für das Digitalisierungsproblem gibt, ohne den Föderalismus abzuschaffen?
Aus meiner Sicht macht man es sich mit einer solchen Forderung zu leicht. Denn es sind nicht der Föderalismus oder dessen Strukturen, die uns behindern. Es ist vielmehr die mit dem Föderalismus eingezogene Kultur von dezentralen Machtinteressen und Machterhalt. Der Teamgedanke ist uns dabei mehr und mehr abhandengekommen. Sehr häufig wird bei der Umsetzung digitaler Lösungen nicht über die Landes- und Ressortgrenzen hinausgedacht: Jeder macht lieber sein eigenes Ding.
Schaut man genau hin, stellt man fest, dass Deutschland in Bezug auf Digitalisierung im Bereich der öffentlichen Verwaltung in Summe eigentlich gar nicht so schlecht aufgestellt ist. Es gibt leistungsstarke IT-Dienstleister, die öffentliche Verwaltung hat zunehmend Personal mit hoher IT-Kompetenz und die erforderlichen finanziellen Mittel sind grundsätzlich vorhanden. Eine Wirkung entfaltet dies alles aber nur, wenn alle Länder und Ressorts an einem Strang ziehen und es gelingt, aus vielen Einzelteilen ein größeres Gesamtes zu gestalten. Dies ist nicht abwegig, denn die ersten Weichen sind bereits gestellt.
- Die grundsätzlichen Strukturen sind vorhanden (zum Beispiel IT-Planungsrat, FITKO etc.).
- Die Gesetzgebung (OZG, RegMoG) schafft zunehmend einen gemeinsamen Standard für eine Optimierung.
- Der Bund geht in bestimmten Bereichen voran.
Zu konstatieren ist allerdings, dass die Umsetzungsgeschwindigkeit und der verbindliche Output der geschaffenen Strukturen zu gering sind. Auch die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben dauert nach wie vor viel zu lange und häufig stellen Länder ihre Bemühungen ein oder schrauben sie herunter, wenn der Bund vorangeht.
Die öffentliche Hand tappt leider immer wieder in die gleiche Falle
Um Kompatibilität der einzelnen Anwendungen und durchgängige digitale Prozesse realisieren zu können, braucht es eine Gesamtarchitektur und ein einheitliches Begriffsverständnis, die von allen mitgetragen werden. Je größer aber die Verbünde von Interessenvertretern werden – und hier wären mindestens jedes einzelne Bundesland, die kommunalen Spitzenverbände, länderübergreifende und kommunale IT-Dienstleister, die einzelnen Ressorts von Bund und Ländern etc. anzuführen –, wird eine Einigung immer schwieriger und langwieriger. Die oftmals erzielten Einigungen spiegeln den kleinsten gemeinsamen Nenner und bringen Deutschland nicht voran. Ganz im Gegenteil, es führt dazu, dass das Vertrauen in gemeinsame Lösungen weiter schwindet.
Darüber hinaus muss man die Frage stellen, woher das Misstrauen von Teilen der Bevölkerung in staatliche Institutionen kommt, wenn es um die Verwaltung persönlicher Daten geht. Zumal diese Angst gegenüber privaten Unternehmen nicht vorhanden zu sein scheint. Die geradezu schon paranoide Angst vor Datenschutzverletzungen durch staatliche Stellen behindert ganz enorm die Digitalisierung und damit den digitalen Fortschritt. Damit föderale Strukturen einer Optimierung der Digitalisierung nicht im Wege stehen, muss zunächst der Konflikt gelöst werden, ob jedes Land und jedes Ressort für sich entscheiden darf, was wie zu tun ist oder ob es einheitliche, für alle verbindliche (!) Vorgaben gibt, die eingehalten werden müssen.
Wie kann das gelingen?
Nicht alles muss einheitlich und übergreifend gelöst werden. Viele Vorhaben können jedem Land individuell überlassen werden, beispielsweise die Ausstattung öffentlicher Plätze und Einrichtungen mit kostenfreiem WLAN, die Einrichtung von digitalen Kommunikationsplattformen für Online-Meetings, die technische Grundausstattung für Homeoffice und in Schulen oder die Basisinfrastruktur, wie flächendeckende Glasfaserverkabelung. Hier ist ein Erfahrungsaustausch zwischen den Ländern sicher hilfreich und nützlich, aber nicht bindend. Umgekehrt ist es umso wichtiger, dass die Länder und der Bund sich in bestimmten Bereichen auf eine gemeinsame Lösung verständigen. Zu diesen Bereichen als Kern für einen flächendeckenden, stringenten und effizienten Digitalisierungsfortschritt gehören:
1. Ein bundesweit einheitliches Datenmodell für Rechtssubjekte und Rechtsobjekte:
Begrifflichkeiten wie zum Beispiel Einkommen, Antragsteller etc. werden von den Ressorts und Ländern unterschiedlich definiert und in ihren Datenstrukturen unterschiedlich behandelt. Daher muss zwingend eine Daten- und Vollzugsstandardisierung erfolgen, um Interoperabilität überhaupt erst zu ermöglichen und zu vereinfachen. Hierbei wäre hilfreich, wenn neue Gesetze zukünftig nicht nur in Textform dargelegt werden, sondern auch ein Datenmodell und eine Prozessbeschreibung für den Vollzug beinhalten.
2. Eine einheitliche technische und funktionale Basisarchitektur:
Eine technische und funktionale Basisarchitektur bildet das Fundament für die digitale Entwicklung und ist unabdingbar. Dies kann eine Verständigung auf einen serviceorientierten Ansatz sein, eine eindeutige Trennung von Datenhaltung, Präsentationsschicht und fachlicher Funktionalität sowie ein gemeinsames Prozessverständnis und die Definition von fachlichen und technischen Schnittstellen (synchron und asynchron). Dabei darf nicht der Fehler gemacht werden, alles bis ins kleinste Detail im Vorfeld definieren zu wollen.
3. Eine einheitliche und zentrale Registerarchitektur:
Ein zentrales Kernelement ist die Definition und Festlegung von zentralen Registern und den damit verbundenen Zugriffsberechtigungen. Hierunter fallen auch ein zentrales Nutzer- und ein zentrales Unternehmenskonto. Verwaltungshandeln fußt auf Informationen und deren Zusammenhänge sowie Berechtigungen auf diese Informationen. Gelingt hier kein größerer Sprung nach vorne, werden wir die Digitalisierung nicht voranbringen.Eine Möglichkeit, damit dies gelingt, wäre, dass der Bund das Heft verstärkt in die Hand nimmt. Das erzeugt zwar meist reflexartige Widerstände in den Ländern, die aber bei entsprechender Kostenentlastung durch den Bund schnell gebrochen werden könnten. Die Realisierung muss und sollte dabei nicht ausschließlich durch den Bund erfolgen. Mehr Akzeptanz wird erzeugt, wenn die Länder hier maßgeblich eingebunden sind und mit ihren Kapazitäten unterstützen.
Über allem stehen der politische Wille und die politische Disziplin
In der aktuellen Pandemiebekämpfung erkennen wir gerade, dass es mit der politischen Disziplin nicht allzu weit her ist. Gemeinsam getroffene Beschlüsse werden wenige Stunden später in den einzelnen Bundesländern schon wieder verworfen. Da die Fortentwicklung der Digitalisierung bei Weitem kein so emotionales Thema wie die Bekämpfung einer Pandemie ist, kann man hier durchaus auf mehr Verbindlichkeit bezüglich gemeinsam definierter Maßnahmen hoffen. Eine klar definierte Agenda, auf die sich alle beziehen und verlassen können, ist allerdings zwingend erforderlich.
Föderale Strukturen sind also akzeptabel und stellen kein Hemmnis dar. Mehr noch: Die Vorteile dieser Strukturen müssen möglichst gewinnbringend genutzt werden. Um einen eigenen, nicht redundanten Beitrag zum Erfolg zu leisten, müssen sich die Länder und Ressorts allerdings als Team verstehen, in dem jeder seinen Platz findet. Dieser Teamgedanke muss unterstützt werden. Eine selbstkritische Herangehensweise der Länder muss dabei gefördert werden. Das bedeutet für die Umsetzung der Digitalisierungsvorhaben:
1. Verfahren und Dienstleistungen werden einmal zentral, analog dem Beispiel FIM2 (Föderales Informationsmanagement), entwickelt und von allen genutzt.
2. Das EfA-Prinzip muss gestärkt, Doppelarbeiten müssen vermieden werden. Übertragbarkeit muss allerdings genauso sichergestellt werden wie die Verlässlichkeit, dass die Umsetzung auch fristgerecht und kompatibel erfolgt.
3. Der Bund fördert das Engagement der Länder finanziell. Die Erarbeitung von IT-Lösungen wird aber verstärkt den Ländern überlassen, der Bund ist nicht zwangsläufig in der Federführung.
4. Fachliche Verbünde (wie zum Beispiel Justiz, Polizei, Steuern etc.) werden gestärkt und verantworten die Erarbeitung von Lösungen, die insbesondere durch die Facharchitekturen bestimmt werden. Die technischen Architekturen müssen deren Umsetzung ermöglichen.
5. IT-Architekturen als Basis für die Realisierungen werden gemeinsam so offen und flexibel gestaltet, dass eine Fortentwicklung möglich ist, Produktabhängigkeiten vermieden werden und Länderspezifika bis zu einem gewissen Grad erhalten bleiben können.
6. Schnittstellen zwischen Systemen müssen länder- und ressortübergreifend standardisiert werden. Dabei ist auf Einfachheit und Robustheit zu achten. Proprietäre Lösungen sind zu vermeiden.
Und darüber hinaus?
Um mit den Anforderungen und der Geschwindigkeit, die die Digitalisierung mit sich bringt, Schritt halten zu können, muss sich die Verwaltung in gewissen Teilen neu erfinden. Formale Hindernisse und bürokratische Strukturen müssen abgebaut und aufgebrochen werden. Funktionales Denken muss einem prozessorientierten Denken weichen. Vor dem Hintergrund länderübergreifender Prozesse sind dann föderale Strukturen aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Das wird Zeit brauchen, aber mit diesem Paradigmenwechsel sollte möglichst zeitnah begonnen werden.
Fazit
Eine Optimierung der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung ist trotz – und mittels – föderaler Strukturen möglich. Hierfür muss der Teamgeist unter den Ländern weiterentwickelt und gestärkt werden. Problemfelder und Hindernisse müssen ehrlich und transparent offengelegt werden, um gemeinsame, von allen Beteiligten mitgetragene Handlungsfelder zu entwickeln. Wenn es gelingt, partikuläre Interessen hintanstehen zu lassen und die vorhandenen Stärken einer föderalen öffentlichen Verwaltung gemeinsam zu nutzen, wird es möglich sein, die Digitalisierung einen großen Schritt nach vorne machen zu lassen, damit Deutschland wieder den angestrebten Spitzenplatz einnehmen kann.
Quelle
1 https://www.wiwo.de/technologie/digitale-welt/ranking-zur-wettbewerbsfaehigkeit- deutschland-faellt-im-digitalen-wettbewerb-weiter-zurueck/26235682.html (abgerufen am 18.08.2021).
2 https://fimportal.de/ (abgerufen am 18.08.2021).