Zuerst erschienen in der public Ausgabe 03-2021
von Werner Achtert
Werner Achtert im Gespräch mit Professor Dr. Jörg Becker
Prof. Dr. Dr. h. c. Dr. h. c. Jörg Becker ist Lehrstuhlinhaber und Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Als Academic Director des European Research Centers for Information Systems ERCIS dirigiert er einen Verbund von 31 Top-Forschungsinstituten im Bereich der Wirtschaftsinformatik. Jörg Becker forscht zu Themen des Daten- und Prozessmanagements, insbesondere im Bereich E-Government. Er ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums (NEGZ) e. V. und Vorsitzender des dortigen Ausschusses für Forschung und Projekte (AFP). Er berät die öffentliche Verwaltung in allen Fragen des IT-Einsatzes und des Informationsmanagements.
msg: Das Thema Innovation ist in aller Munde. Zu Beginn der letzten Legislaturperiode 2017 wurden viele Innovationsinitiativen angekündigt. Ich nehme an, in allen Bundesressorts gibt oder gab es in den letzten vier Jahren Initiativen. Wie ist Ihre Einschätzung: Wo stehen wir nach vier Jahren Innovationsförderung im Bund?
Becker: Es gibt eine Reihe von Monitorings, die bewerten, wo ein Land hinsichtlich der Innovation im öffentlichen Sektor im Vergleich zu anderen Ländern steht. Leider muss man konstatieren, dass wir in den letzten Jahren nicht nach oben gerutscht sind, sondern uns immer noch im unteren Mittelfeld bewegen. Es ist viel angedacht und aufgesetzt worden. An guten Ideen mangelt es weiß Gott nicht. Es mangelt an der Umsetzung. Wir – das ist vielleicht auch typisch für Deutschland – machen immer alles sehr genau, während andere Länder auch einmal Dinge ausprobieren. Auch wenn es noch Lücken gibt, man fängt schon mal an. Feingeschliffen wird es dann in der Nutzung. Wir versuchen immer, Dinge vorab bis in das Kleinste zu hinterfragen, zu klären und abzuwägen. Das führt dann eben dazu, dass Innovationen auch schon einmal länger dauern.
"Wenn Köln etwas macht, macht das Düsseldorf ja schon einmal gerade gar nicht."
Professor Dr. Jörg Becker
msg: Sie befassen sich ja nicht nur mit der öffentlichen Verwaltung. Welche Rahmenbedingungen sind in der Wirtschaft aus Ihrer Sicht wichtig oder ausschlaggebend für die Innovation? Wodurch kann dort ein Innovationsstau, wenn man so sagen will, aufbrechen?
Becker: Warum es außerhalb des öffentlichen Sektors teilweise deutlich schneller geht, liegt an den klaren Entscheidungswegen. Wenn der Vorstandsvorsitzende eines Automobilherstellers sagt, wir machen jetzt dies und das, dann wird das durchdekliniert bis zum letzten Arbeiter am Fließband. Mit einer Bundesregierung, den Bundesministerien, 16 Bundesländern, mehr als 10.000 Kommunen und Zwischenschichten wie Landschaftsverbänden und Kreisen haben wir ein sehr kompliziertes Gefüge. Und wenn Köln etwas macht, macht das Düsseldorf ja schon einmal gerade gar nicht. Diese Entscheidungskompetenz, die sehr vielschichtig auf vielen Ebenen ist, behindert natürlich durchgängige Innovationen. Ich sage nicht, dass es nicht geht. Aber es geht sehr langsam. Deswegen kommen wir auch nicht so richtig voran, wenn es darum geht, im internationalen Vergleich ein paar Plätze nach oben zu kommen. Dieses Geflecht an Entscheidungsbefugnissen ist schon hinderlich.
msg: Für Unternehmen ist Innovation lebenswichtig. Wenn sich Unternehmen nicht innovativ verhalten, sind sie irgendwann vom Markt verschwunden. Bei der Verwaltung ist das anders. Die Verwaltung dient dem Vollzug von Gesetzen. Wie innovativ muss oder kann eine Verwaltung überhaupt sein? Ist es – einmal ganz provokativ gefragt – überhaupt Aufgabe der Verwaltung, innovativ zu sein? Oder kann sich die Verwaltung einfach darauf zurückziehen, dass sie Gesetze vollzieht?
Becker: Mag sein, dass diese Mentalität des Gesetzesvollzugs auch ein Hinderungsgrund für Innovation ist. Sie haben richtig gesagt, Wirtschaft und Unternehmen unterliegen dem ökonomischen Prinzip, das bedeutet, mit einem gegebenen Ressourceneinsatz ein optimales Ergebnis oder ein gegebenes Ergebnis mit minimalem Ressourceneinsatz zu erzielen. Mit minimalem Einsatz maximalen Gewinn erwirtschaften, das geht nicht. Man muss das eine festhalten und das andere dann optimieren. Dieser Aspekt des ökonomischen Prinzips lässt sich durchaus auf die öffentliche Verwaltung übertragen. Die Verwaltung muss nicht ein anderes Ergebnis erzielen als bisher, sondern dasselbe Ergebnis – also die Umsetzung der Gesetze, den Gesetzesvollzug, Serviceleistungen für Bürger, Unternehmen und die Gesellschaft – mit bestmöglichem Ressourceneinsatz erbringen. Das ist umso notwendiger, als in den kommenden Jahren ein beträchtlicher Teil der personellen Ressourcen entfallen wird. Schon deshalb wird die öffentliche Verwaltung innovieren müssen, um den Ressourceneinsatz, nicht zuletzt den Personaleinsatz, bestmöglich zu gestalten.
Personen, die in den öffentlichen Verwaltungen arbeiten, sind ja Menschen wie Sie und ich. Das heißt, sie sind es gewohnt, online einzukaufen und viele andere Dienste über das Smartphone abzuwickeln. Wenn wir Menschen für die Arbeit in der Verwaltung gewinnen wollen, dann muss der öffentliche Sektor ausstrahlen, modern und innovativ zu sein, und den jungen, aufgeschlossenen Menschen Perspektiven bieten, ein interessantes Umfeld, in dem man sich verwirklichen kann. Das ist ein weicher, aber ganz wichtiger Faktor.
msg: Unsere aktuelle Studie zur IT-Konsolidierung behandelt auch die angespannte Personalsituation und Maßnahmen der Behörden, mit denen diese das Problem angehen. Bei der Ausprägung einer wettbewerbsfähigen Arbeitgebermarke ist das ganz wesentlich: Die Verwaltung muss ihr negatives Image überwinden, ansonsten wird sie sich schwertun. Innovation ist ein Argument, das die Verwaltung gut nutzen kann. Wo sehen Sie denn die Schwerpunkte für die Innovation in der öffentlichen Verwaltung? Was sollte inhaltlich in den nächsten vier Jahren im Vordergrund stehen?
"Die Daten sollen laufen, nicht die Bürgerinnen und Bürger."
Professor Dr. Jörg Becker
Becker: In den letzten vier Jahren stand als große Headline über allem das Onlinezugangsgesetz. Das hat Verbindlichkeit hineingebracht. Bis zum Enddatum – Dezember 2022 – werden nicht alle 575 Services, die vorgesehen sind, umgesetzt sein. Was aus Sicht von jemandem, der sich tagtäglich mit dem Thema Innovation beschäftigt, jedoch bedenklich erscheint, ist die Tatsache, dass nur der Zugang im Gesetz geregelt ist. Wenn wir wirklich innovieren wollen, dann müssen wir Digitalisierung zu Ende denken.
Mein Lieblingsbeispiel ist das Elterngeld. Es war als eine Rieseninnovation angedacht, aus den Formularen beschreibbare PDFs zu machen. Diese beschreibbaren PDFs, und zwar 16 unterschiedliche, weil wir 16 unterschiedliche Länder haben, umfassen je nach Bundesland acht bis 24 Seiten, die im Anschluss in elf verschiedenen Fachverfahren (16 Bundesländer, elf verschiedene Verfahren) bearbeitet werden. Was herauskommt, ist immer falsch, obwohl oder vielleicht weil es eine Handreichung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gibt, die 350 Seiten plus 50 Seiten Anhang Anleitung zum Bundeselterngesetz hat.
Als Wirtschaftsinformatiker schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen. Was in der Handreichung des BMFSFJ steht, ist elektronisch nicht umsetzbar. Sie ist voller Widersprüche, und der Versuch scheitert, jeden Einzelfall zu klären, statt auf einfache Prinzipien zu setzen.
Ich habe in meinem ersten Studiensemester gelernt, dass erstens Rechtssicherheit ein hohes Gut ist und dass zweitens Gesetze auf Prinzipien beruhen und nicht auf Einzelfällen. Auch wenn es inzwischen mit „Einfach Leistungen für Eltern“ (ELFE) einen innovativen Ansatz zum Elterngeld gibt, stößt man nun auf neue Probleme. Um eine Digitalisierung des Elterngeld-Prozesses von Beginn zum Ende durchzusetzen, müssen 13 Gesetze geändert werden. Das ist das eine Problem. Das andere Problem ist, dass wir in Deutschland 73 unterschiedliche Definitionen von Einkommen haben. Wer im Elterngeld-Formular sein Einkommen angibt, ist schon mit einem Bein im Gefängnis, weil er es sicher falsch deklariert hat. Ich hatte einmal einen recht rigorosen Vorschlag unterbreitet: drei Einkommensarten, damit kommen wir für 80 Prozent aller Fälle hin. Jeder Bürger erhält mit seinem Einkommensteuerbescheid die drei Zahlen. In jedem Formular steht dann: „Geben Sie hier Einkommen eins an (oder eben zwei oder drei).“ Das wäre meine Innovation gewesen, aber das war ein bisschen zu innovativ.
Es ist ein ganz guter Ansatz, Digitalisierung wirklich von der Eingabe der Daten durch den Bürger bis in die Verfahren hinein zu denken. Aber was immer noch nicht gut ist: Es gibt eine Anwendung für Elterngeld, eine andere für Wohngeld, eine für Kindergeld und viele weitere für diverse Sozialleistungen, das ist alles noch sehr von der Struktur der Verwaltungsprozesse her gedacht. Richtig innovativ wäre ein Ansatz, der sich an den Lebenslagen der Bürgerinnen und Bürger orientiert, also eine Plattform, über die alle Leistungen für eine Lebenslage erreichbar sind.
msg: Also Innovation aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger gedacht?
Becker: Genau. Wer das par excellence vorgemacht hat, ist Amazon. Amazon Marketplace öffnet Kundinnen und Kunden, Bürgerinnen und Bürgern über eine Plattform den Zugang zu ganz unterschiedlichen Geschäften und eben nicht nur zu Amazon. Diese Denke müsste übertragen werden, damit wir wirklich von Innovation sprechen können. Es geht um den Zugang, klar. Die Daten sollen laufen, nicht die Bürgerinnen und Bürger selbst. Es ist aber auch der Prozess gemäß dem Motto „Digitalisierung zu Ende denken“ und das mit vernünftiger Technik. Wir brauchen eine klare Architektur, die die Gemeinsamkeiten aller Systeme auf eine Ebene bringt, Durch das Bürgerkonto versucht man, sich diesem Gedanken anzunähern. Aber von den hehren Ideen des Bürgerkontos und den Dienstleistungen, die hinter einem solchen Bürgerkonto stecken, ist ja im ersten Schritt nur ein sehr kleiner Teil übrig geblieben.
Bisher wird jede Anwendung einzeln gedacht und vollumfänglich realisiert. An das große Ganze auf der einen Seite (Architektur auf einem viel höheren Niveau als bisher) und eine Realisierung der Anwendungen, die dann viel einfacher ist, auf der anderen Seite wird nicht gedacht. Dadurch werden Innovationen langsam.
msg: Sehen Sie Innovation in einem ausschließlichen Zusammenhang mit Digitalisierung? Oder gibt es auch Innovation ohne Digitalisierung?
Becker: In der Wirtschaft sind fast alle Innovationen, die wir in den letzten zwanzig, dreißig Jahren beobachtet haben, irgendwie IT-induziert. Das gilt eigentlich noch mehr für die öffentliche Verwaltung. Sie produziert ja keine physischen Güter. Alles, womit sie sich befasst, sind Informationen. Ein Antrag kommt herein, ein Bescheid geht heraus. Die öffentliche Verwaltung behandelt Informationen, sie ist ein informationsverarbeitendes System. Und die wesentlichsten Innovationen für Informationen gibt es nun einmal in der IT. Deswegen ist Digitalisierung wirklich der Haupttreiber für Innovation.
Abbildung 1: Werner Achtert und Prof. Dr. Jörg Becker im Gespräch
"Probleme entstehen immer an Schnittstellen"
Professor Dr. Jörg Becker
msg: Das Onlinezugangsgesetz wird auch in den nächsten Jahren noch der wesentliche Treiber bleiben. Denn – das hatten Sie schon angesprochen – das Onlinezugangsgesetz zielt nur auf den Zugang ab. Die Fachverfahren sind noch nicht ausreichend auf die Zugänge angepasst, und da steckt noch ein großes Innovationspotenzial.
Becker: Absolut. Das ist auch das Hauptproblem des Einer-für-alle- (EFA-)Prinzips. Im Grunde ist es eine super Idee, dass in einem Land Dinge entwickelt werden, die die anderen Länder dann übernehmen können und sollen. Aber: Probleme entstehen immer an Schnittstellen. Wenn ein neues Verfahren für die Körperschaftsteuer in einem Land entwickelt wird und an die dortigen Gegebenheiten angepasst wird, dann können in einem anderen Land, in dem die umgebenden Systeme gegebenenfalls völlig anders sind, erhebliche Aufwendungen nur für die Integration zu diesen anderen Systemen entstehen. Ein System für die Körperschaftsteuer auch anderenorts einzusetzen ist nicht trivial. Das erfordert Interoperabilität, ein Begriff, der aus gutem Grund im Moment hoch diskutiert wird.
msg: Würde denn, ganz aktuelles Thema, ein Digitalministerium, zumindest auf Bundesebene, das alles erleichtern?
Becker: Das kommt auf die Befugnisse an. Wenn der Finanzminister sagt, mehr Geld für ein bestimmtes Ministerium gibt es nicht, dann hat er dazu die Befugnis. Er hat den direkten Durchgriff. Wenn ein Digitalministerium jetzt dem Umweltministerium sagt, wie in der Digitalisierung Geld ausgegeben wird, dann bin ich nicht sicher, ob das funktioniert. Es ist eine Frage von Zuschnitt und Kompetenz des Ministeriums. Wenn es mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet ist, auch in die anderen Ministerien hineinzuregieren, dann kann es sehr hilfreich sein und Innovationen schneller voranbringen. Da muss aber ein ganz klarer politischer Wille dahinterstehen. Minister sind ja auch „Monarchen“, die sich nicht gerne hereinreden lassen. Aber mit klaren Architekturvorgaben, klarer Umsetzungskompetenz, insbesondere in Infrastrukturfragen, könnte ein solches Ministerium schon manches schneller voranbringen.
msg: Es gibt beispielsweise Innovationsinitiativen wie Experimentallabore. Wie nahe sollten solche Innovationsinitiativen an der Mutterorganisation dran sein?
Becker: Sie sollten im Wesentlichen schon, natürlich unter Hinzunahme von Moderatoren, von Externen, die neue Ideen hereinbringen, bestückt sein mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung, angereichert dann um Bürgerinnen und Bürger oder Stakeholder im weitesten Sinne. Aber die Treiber sollten wirklich aus der Verwaltung kommen. Ich halte viel davon, die Labore dann auch direkt in die Verwaltung zu integrieren und keinen „Nebenkriegsschauplatz“ aufzubauen – keine eigenständige rechtliche Organisation nebendran. Dieses hätte leicht die Tendenz, sich zu verselbstständigen, und das, wofür man es eingerichtet hat – nämlich die öffentliche Verwaltung zu innovieren –, aus dem Blick zu verlieren. Was im Labor entwickelt wird, sollte man dann auch versuchen umzusetzen.
Ebenso ist hier eine Wertschätzungskultur ganz wichtig. Eine innovative Idee darf nicht als Allgemeingut verschwinden, sondern sollte als ausgezeichnete, als beste Idee des „Erfinders“ publik gemacht werden.
msg: Ich war letzte Woche am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. Dort gibt es ein spezielles Möbelkonzept für Design-Thinking- Workshops. Ich muss sagen, ich bin immer wieder begeistert, wenn ich dort bin, weil der Raum, die Möbel und die ganze Umgebung etwas mit den Menschen machen.
Becker: Ja, das ist ganz zweifelsohne so. Zu der Design-Thinking- Idee gehört auch, dass man das gerade nicht im Büro macht, in dem man seine tagtägliche Arbeit verrichtet, die häufig stark durch Routine geprägt ist. Sondern dass man ganz bewusst in andere Räume geht, die auch ein anderes Möbelkonzept haben, wo die Einrichtungsgegenstände flexibel zusammengestellt werden können, wo man Wände hat, die man bemalen darf, wo es Zettel gibt, die man an Wände heftet. All das gehört mit dazu, den Kopf einmal freizubekommen.
msg: Wie Sie wissen, haben wir uns im Rahmen der Kurzstudie des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums (NEGZ) auch mit der Bewertung des Nutzens von Innovationen befasst. Sie haben hier den Public-Value-Ansatz erwähnt. Ausgangspunkt für unsere Überlegung war, dass wir eigentlich Innovationen im öffentlichen Sektor anders als in der Wirtschaft schwer bewerten können. In der Wirtschaft kann ich Innovationen letztlich immer durch zusätzlichen Umsatz und Deckungsbeitrag bewerten. Wie kann ich Innovationen in der Verwaltung bewerten? Was bedeutet Public Value? Welche Aspekte oder welche Teilaspekte spielen eine Rolle?
"Ein Erfolg setzt Kräfte bei allen frei."
Professor Dr. Jörg Becker
Becker: Das sind oftmals eher die weichen Faktoren, an denen sich der Wert bemisst. Wenn zum Beispiel die Tagesthemen berichten, unser Land sei jetzt nicht von Platz 17 auf Platz 19 abgerutscht, sondern von Platz 17 auf Platz zwölf geklettert, dann bewirkt das etwas: Bürgerinnen und Bürger haben nicht mehr das Gefühl, Deutschland ist ganz prima, aber die Verwaltung ist ein bisschen lahm – und die Menschen in der Verwaltung sehen, dass die Bemühungen doch etwas bewirken. Wenn wir mit solchen Themen, die es auch wirklich bis in die Medien schaffen, einmal einen Erfolg verbuchen können, dann setzt das Kräfte bei allen frei, die vorher gefangen waren. Es sind mehr die weichen Faktoren.
In Estland dürfen Bürgerinnen und Bürger kostenfrei den öffentlichen Personennahverkehr nutzen und weisen sich dabei mit ihrer E-ID-Card aus. Jeder hat einen elektronisch lesbaren Ausweis, weil keiner Lust hat, für Busfahrten Geld zu bezahlen. Das ist eine Killerapplikation für die E-ID-Funktion. Wir müssen auch über Killerapplikationen nachdenken. Die E-ID in Deutschland ist eine super Idee, und kein Mensch nutzt sie, weil wir keine Killerapplikationen haben.
msg: Wir haben eigentlich eine Menge Innovationen in Deutschland, nur wir nutzen sie nicht. Ich denke an Dinge wie den elektronischen Entgeltnachweis ELENA, ursprünglich die Job-Karte. Das war sehr innovativ, durchaus anspruchsvoll, ist aber nicht bis zur Nutzung gekommen Das wurde keine Innovation, weil die Umsetzung gefehlt hat. Ich komme noch einmal zu der Frage zurück: Wie bewerten wir den Nutzen von Innovationen?
"Bei der öffentlichen Verwaltung muss es von den Lippenbekenntnissen zur Umsetzungskompetenz kommen."
Professor Dr. Jörg Becker
Becker: Da gilt immer: der Markt als Entdeckungsfaktor. Ich bin nicht so ein ganz großer Freund von Befragungen der Bürgerinnen und Bürger. Die meisten echten Innovationen sind nicht dadurch zustande gekommen, dass man jemanden gefragt hat. Wenn Sie jemanden gefragt hätten, ob er mit seinem Telefon fotografieren wolle, hätte die Antwort sicher gelautet: Er wolle telefonieren und für Fotos habe er doch den kleinen Fotoapparat. Aber nachdem die Smartphones mit der Fotofunktion auf den Markt kamen, wurde mehr als je zuvor fotografiert. Das ist eine rein angebotsgetriebene Innovation.
msg: Zum Schluss noch die Frage: Wie geht es insgesamt mit dem Innovationsklima in Deutschland weiter, nicht nur im Public Sector? Wir stehen jetzt gerade am Anfang einer neuen Legislatur. Welche politischen Entscheidungen müssen denn getroffen werden, damit Deutschland international wettbewerbsfähig bleibt, nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in unserem gesamten Wirtschaftssystem?
Becker: Um das gesamte wirtschaftliche System mache ich mir weniger Sorgen. Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, müssen innovieren. Die müssen sogar zum Teil schneller innovieren, als die anderen kopieren können. Manchmal verschlafen wir Dinge ein bisschen. Mit der Elektromobilität waren andere vorneweg. Aber auch große Unternehmen sind in der Lage, relativ schnell den Hebel umzulegen. Für die Innovationskraft von Deutschland insgesamt haben wir ja auch super Universitäten, in denen Innovationen vorgedacht werden, die dann später ihre Umsetzung finden. Da mache ich mir wirklich nicht zu viele Sorgen. Bei der öffentlichen Verwaltung muss es von den Lippenbekenntnissen zur Umsetzungskompetenz kommen. Es ist nicht eine Frage der technischen Kompetenz oder des politischen Willens. Es ist eher eine Frage der Umsetzungskompetenz in einem schwierigen Entscheidungsumfeld.
msg: Herr Becker, vielen Dank für Ihre Zeit.
Becker: Sehr gerne.
Mehr zum Schwerpunkt Moderne Verwaltung lesen Sie hier