Zuerst erschienen in der public Ausgabe 03-2021
von Hendrik Bode und Sebastian Voelkl
Reifegradbestimmung und Entwicklung verteilter agiler Teams
Verteiltes Arbeiten in Projekten ist nicht neu. Auch vor Corona saßen Kolleginnen und Kollegen, mit denen man eng zusammenarbeitete, in einem anderen Raum, in einem anderen Stockwerk oder gar an einem anderen Standort. Die pandemische Lage hat die Verteilung besonders in IT-Projekten weiter verstärkt. Die Umstellung erfolgte abrupt, und viele Aspekte der täglichen Zusammenarbeit mussten sich erst einpendeln. Spontane fachliche Abstimmungen, Code-Reviews/Pair-Programming und Team-Meetings finden nach wie vor statt, aber auf eine andere Art und Weise. Wichtig dabei: Verteiltes Arbeiten beginnt, sobald eine Person nicht im selben Raum arbeitet oder remote an Meetings teilnimmt. In diesem Fall sprechen wir von einer minimalen Verteilung. Es muss beispielsweise sichergestellt werden, dass sämtliche Mitglieder im Team, unabhängig von ihrem Standort, die gleiche Chance zur Teilhabe an der Diskussion haben und die Informationen weiterhin an alle verteilt werden.
Die meisten IT-Projekte arbeiten unter Corona-Bedingungen aktuell vollständig verteilt. Das heißt, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter von ihrem oder seinem eigenen Standort, meist dem Homeoffice, aus arbeitet (Abbildung 1). Auch wenn die Situation nicht immer so extrem bleiben wird, wird die Arbeitswelt nicht wieder die alte werden. 56 Prozent der momentan verteilt oder hybrid arbeitenden Beschäftigten wünschen sich auch in Zukunft ein verteiltes oder hybrides Arbeitsmodell.1 Verteiltes Arbeiten bringt eine Umstellung der Arbeitsweisen, der Kommunikation und der Prozesse mit sich. Doch gerade in agilen IT-Projekten wird schnell deutlich, dass eine Umstellung auf Remote-Arbeit einem wichtigen agilen Prinzip widerspricht: der Face-to-Face-Kommunikation. Die fehlende Präsenz im agilen Entwicklungsprozess bringt Reibungsverluste mit sich, die sich negativ auf die Qualität auswirken können – bei der Entwicklung von User Stories bis hin zum Code. Das Risiko wächst, dass sich an den verschiedenen „Standorten“ unterschiedliche agile Arbeitsweisen und Prozesse etablieren. Darüber hinaus sorgen Mängel in der Teamzusammensetzung und -struktur ebenso wie in der virtuellen Führung vermehrt für Ineffizienzen. Die Folgen sind eine verminderte Qualität der Artefakte und erhöhte Planungs- und Entwicklungsaufwände – somit letztlich steigende Kosten.
Herausforderungen im verteilten Kontext erkennen
Insgesamt lassen sich sechs wesentliche verteilungsspezifische Herausforderungen identifizieren, die sich auf das Team und die Teamführung, die Arbeits- und Entwicklungskultur sowie die Kommunikation und Kollaboration innerhalb und zwischen verteilten agilen Teams auswirken:
- Crossfunktionale Teams aufsetzen und breites Wissen bei den Teammitgliedern fördern
- Vertrauensvollen, starken Teamspirit aufbauen und verteilte Teams erfolgreich führen
- Eine gemeinsame Kommunikationskultur schaffen, in der direkt, schnell und spontan kommuniziert und zusammengearbeitet wird
- Abgestimmte, transparente Qualitätsstandards einführen
- Endbenutzer virtuell erfolgreich einbeziehen
- Meetings und Workshops intelligent vorbereiten sowie effizient und zielgerichtet gestalten
In der Praxis stehen agile Projekte vor unterschiedlichen Problemen. Den agilen Teams sind die eigenen Herausforderungen der Verteilung bewusst, fehlt es aber an einer strukturierten Vorgehensweise, um diesen und den drohenden Reibungsver-lusten entgegenzuwirken. Um gezielt Maßnahmen einzuleiten, die sich auf die entscheidenden Hemmnisse fokussieren, müssen diese zuerst identifiziert werden. Zum Beispiel:
- Hakt die virtuelle Zusammenarbeit oder Kommunikation innerhalb des Teams und, wenn ja, in welchem Maße?
- Zu welchem Grad unterstützt der aktuelle Teamaufbau die Effektivität der verteilten Arbeit innerhalb und zwischen den Projektteams?
- Inwieweit hat sich die Arbeits- und Entwicklungskultur auf das verteilte Arbeiten eingestellt?
Vielen Projektteams ist der eigene verteilte, agile Reifegrad nicht bekannt – obwohl er der Schlüssel und erster Schritt für eine nachhaltige und kontinuierliche Weiterentwicklung des Teams ist.
Den agilen Reifegrad von verteilten Projektteams messbar machen
Das iterative Vorgehen der „Distributed Agile Transformation & Coaching“ nutzt die beiden Assets „Distributed Agile Compass“ und „Distributed Agile Cookbook“. Der ganzheitliche Ansatz führt in vier Schritten zu einer kontinuierlichen Erhöhung des Reifegrades (siehe Abbildung 2).
Distributed agile Compass:
Der Distributed Agile Compass ist ein von msg entwickeltes Tool zur Messung des verteilten agilen Reifegrads und zur Identifikation von Entwicklungspotenzialen in verteilten Projektteams. Dazu nutzt es acht speziell entwickelte Prinzipien, anhand derer sich das Team mithilfe des Agile Master oder Agile Coach selbst bewertet.
Distributed agile Cookbook:
Das Distributed Agile Cookbook ist eine Sammlung von Methoden, Leitfäden und Best Practices, die die Anwender, beispielsweise Agile Coach, Product Owner etc., dabei unterstützen, die spezifischen Herausforderungen in verteilten, agilen Projektteams gezielt anzugehen.
Schritt 1: Mithilfe des Compass wird der aktuelle verteilte agile Reifegrad von Projektteams ermittelt (Ist-Zustand).
Schritt 2: Darauf aufbauend wird mithilfe des Compass das Weiterentwicklungspotenzial und das konkrete Zielbild für die nächste Iteration formuliert. Zudem wird der Fokus für die zu treffenden Maßnahmen festgelegt (Soll-Zustand).
Schritt 3: Das Cookbook unterstützt dabei mit Rezeptkarten, Maßnahmen zu den priorisierten Ansatzpunkten aufzusetzen. Das können beispielsweise Checklisten, Leitfäden oder Best-Practice-Sammlungen sein.
Schritt 4: Der Erfolg der getroffenen Maßnahmen wird anhand von ausgewählten KPIs gemessen. Im Vordergrund stehen Time-to-Market oder Current Value.
Vier Schritte zur Steigerung des verteilten agilen Reifegrads
Schritt 1 und 2: Reifegradbestimmung und Entwicklung des Zielbildes über den „Compass“ Der verteilte agile Reifegrad wird durch die Bewertung von acht dedizierten Distributed-Agile-Prinzipien zur erfolgreichen Planung und Umsetzung von verteilten agilen Projekten gemessen. Die Bewertung findet im Rahmen von Einzelinterviews oder Workshops (Team-Selbstbewertung) statt und stellt den Teammitgliedern pro Prinzip zwei konkrete Fragen: Inwiefern trifft das genannte Prinzip auf das Team zu? Und welcher Grad ist für das Team mittelfristig erreichbar?
Eine anschauliche und differenzierte Beschreibung der Prinzipien einschließlich Pro- und Contra-Indikatoren unterstützt die Teammitglieder bei ihrer Einschätzung der Ist-Situation und des anzustrebenden Soll-Zustandes. Die durch die Gegenüberstellung ermittelten Entwicklungspotenziale werden durch die Darstellung in einem Spinnendiagramm optisch deutlich. Damit die in der Folge zu ergreifenden Maßnahmen nicht zu stark mit dem Projektalltag interferieren und das Team nicht kapazitativ überfordert wird, sollte der Fokus der Maßnahmen auf zwei bis drei Prinzipien pro Iteration gelegt werden.
Schritt 3: Anwendung des „Cookbook“
Der dritte Schritt der Iteration befasst sich mit der Auswahl und Durchführung entsprechender Maßnahmen. An dieser Stelle kommt das Cookbook ins Spiel. Das Cookbook dient als Projektbeschleuniger, indem es dem Team eine Sammlung an Handlungsempfehlungen zu den Herausforderungen in verteilten agilen Projekten anbietet. Im Mittelpunkt steht dabei die Cookbook-Matrix, welche die bestehenden Herausforderungen in einer zeitlichen Dimension verortet und den Kategorien Team, Arbeits- und Entwicklungskultur sowie Kommunikation und Kollaboration zuordnet (siehe Abbildung 4).
Die zeitliche Dimension orientiert sich dabei anschaulich am Prozess des Kochens, von der Sichtung der Rezepte über das Kochen und Servieren bis zum Abwaschen. Ins Projekt übersetzt, sind diese Phasen die Erstellung einer Vision, des Backlogs und der Roadmap, die Synchronisierung der Teams, das Umsetzen und Testen sowie die Auslieferung von Produktartefakten und letztendlich das Abbauen von technischen Schulden. Die Cookbook- Matrix stellt der Anwenderin bzw. dem Anwender dann zu den aufgeführten Herausforderungen Rezeptkarten zur Verfügung.
Um beispielsweise die virtuelle Führung erfolgreich zu gestalten und einen vertrauensvoll starken Teamspirit aufzubauen (DA-2, Abbildung 4), stellt das Cookbook drei Rezeptkarten zur Verfügung. Eine Methodensammlung zur Gestaltung von Team-Forming- Workshops (DA-2.1, Abbildung 5), eine Sammlung von Ideen und Konzepten zum Teambuilding von verteilten Teams (DA-2.2, Abbildung 5) sowie eine Übersicht über kritische Faktoren zur erfolgreichen Führung von virtuellen Teams – einschließlich Handlungsempfehlungen und Best Practices (DA-2.3, Abbildung 5).
Schritt 4: Monitoring über KPIs
Der vierte entscheidende Schritt zum Erfolg ist das Monitoring der Maßnahmen über ausgewählte KPIs. Wichtig zu betonen ist, dass die KPIs nicht ausschließlich für verteilte Projekte gelten, sondern generell den Erfolg eines agilen Projektteams messen. Man unterscheidet zwischen KPIs, die den Marktwert des Produktes bewerten, und solchen, die die organisatorischen Fähigkeiten des Teams messen. Der Marktwert enthält den Wert, der gegenwärtig von virtuellen Teams – einschließlich Handlungsempfehlungen und Best Practices geliefert wird (Current Value), und den zusätzlichen potenziellen Wert, der abgeschöpft werden könnte (Unrealized Value). Für das Monitoring des Marktwerts in IT-Projekten bietet sich beispielsweise eine Zufriedenheitsbefragung der eigenen Teammitglieder, des Endkunden sowie der Investoren an. Ein weiterer beliebter Indikator zur Bestimmung des geschaffenen Marktwerts ist der empfundene Kundennutzen für bestehende und neu releaste Produkt-Features. Neben dem Marktwert werden die organisatorischen Fähigkeiten betrachtet. Diese umfassen zum einen den Zeitraum, bis neuer Wert für den Kunden geschaffen und ausgeliefert werden kann (Time-to-Market), zum anderen die Effektivität der Organisation in der Steigerung von Wert für den Kunden (Ability to Innovate). Bezogen auf IT-Projekte lässt sich die Time-to- Market beispielweise über ein Monitoring der Release-Häufigkeit oder der mittleren Dauer der Umsetzung von der Idee (Aufnahme und Priorisierung im Backlog) bis zum Release messen.
Kontinuierlich und Teamübergreifend Mehrwert schaffen
Die Anwendung der „Distributed Agile Transformation & Coaching“ empfiehlt sich in einer dreimonatigen Iteration, um einerseits das Team nicht mit Meetings und Maßnahmen zu sehr aus dem Rhythmus zu bringen und anderseits einen Zeitraum einzuräumen, nach dem sich ein Ergebnis der Maßnahmen messen lässt. Jede Iteration beginnt mit der erneuten Ermittlung des verteilten agilen Reifegrads.
Transparenz über den verteilten agilen Reifegrad ist für einen teamübergreifenden Ansatz und damit für die Nutzung von Synergieeffekten zwischen Teams und Einheiten innerhalb einer Organisation wichtig. Die Anwendung der „Distributed Agile Transformation & Coaching“ fördert dies auf zweierlei Weise: Im Rahmen der Reifegradbestimmung sowie bei der Entwicklung des Zielbilds lassen sich teamübergreifende oder domänenorientierte Workshops durchführen, um im Wesentlichen die Time-to-Market zu verkürzen und den Current Value zu erhöhen. So entsteht ein Informationsaustausch über Prozesse, Best Practices und Entwickungspotenzial über Teamgrenzen hinweg. Und bei der Anwendung der Transformation in mehreren Projektteams lassen erkannte Stärken und Schwächen Rückschlüsse auf strukturelle Probleme in der Organisation zu.
Zusammenfassung
Der Ansatz der „Distributed Agile Transformation & Coaching“ hat eine nachhaltige, kontinuierliche Weiterentwicklung von verteilten agilen Projektteams als Ziel. In den ersten beiden der vier Phasen wird mithilfe des „Compass“ zunächst eine Bestimmung des aktuellen agilen Reifegrads durchgeführt und anschließend ein Zielbild entwickelt. Bei der Entwicklung des Zielbilds kann der Fokus unterschiedlich gesetzt werden und sich beispielsweise an den Zielen des Projektes, den Zielen der Organisation oder am größten Entwicklungspotenzial orientieren. Im dritten Schritt erfolgt die auf die Ziele gemünzte Auswahl der Maßnahmen. Hier kommt das Cookbook zum Einsatz und bietet praxisbezogene Unterstützung in Form von Rezeptkarten. Jede Maßnahme zahlt auf eine Herausforderung ein, deren Bewältigung wiederum den verteilten agilen Reifegrad des Teams steigert. Der Erfolg der Maßnahmen wird anhand von KPIs gemessen, die projektspezifisch ausgewählt werden.
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Quelle
1 15th State of Agile Report, https://digital.ai/catalyst-blog/15th-state-of-agile-report-agile-leads-the-way-through-the-pandemic-and-digital (abgerufen am 12.11.2021).