26.04.2023
Veränderte wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen, neue Geschäftsmodelle und gestiegene Stakeholder-Anforderungen an nachhaltiges Wirtschaften: Das Thema „Business Transformation“ steht bei vielen Unternehmen ganz oben auf der Agenda. Im Standpunkte-Interview erklären Dr. Stephan Melzer, Executive Vice President Industry, und Dr. Wolfgang Bock, Head of Department Industry 4.0 Transformation & Sustainability, warum und wie „Digitale Zwillinge“ die digitale Transformation von Unternehmen anschieben können.
Für viele Unternehmen scheinen die Begriffe „Digitalisierung“ und „Business Transformation“ nahezu synonym zu sein. Ist das nicht etwas zu kurz gesprungen?
Stephan Melzer: Digitalisierung ist keine ‘tiefhängende Frucht’. Ohne das Streben nach Klarheit und Stringenz bleibt es einfach nur ein Thema, mehr nicht. Und wer nur die technische Dimension sieht, wird mit seiner Transformation nicht weit kommen. Eindimensionales Optimieren bringt Unternehmen weiter, aber nicht unbedingt zum Ziel. Daher ist es wichtig, dass wir das vermeintlich technische Thema bewusst aus der Sicht der Faktoren Organisation und Mensch betrachten. Die Digitalisierung, die für mich immer die Balance aus Menschen, Organisation, Technologie und Geschäftszweck ist, ist ein wichtiger Teil der Business Transformation. Wer nur in eine Richtung losläuft, macht aus meiner Sicht einen Fehler. Es ist die größte Gefahr für Fehlinvestitionen.
Wolfgang Bock: Neue Wege zu gehen, erfordert Mut. Das ist für alle eine Kraftanstrengung und finanziell ein Wagnis. Unternehmen wissen, dass sie sich verändern müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Dabei geht es nicht nur um das Verringern von Stückkosten, um Transparenz, um das Verschlanken und Diversifizieren von Supply Chains, sondern verstärkt auch um nachhaltige Aspekte wie das Reduzieren von CO₂ und das Eindämmen des Ressourcenverbrauchs. Nur wer sich die gesamte Wertschöpfungskette anschaut und tief analysiert, kommt zu guten Entscheidungen. In der Praxis fühlen sich viele Unternehmen noch nicht bereit für die weitreichenden und tiefgreifenden Entscheidungen, die für eine erfolgreiche Business Transformation nötig wäre. Das Problem dabei ist, dass sich dieser Entscheidungsknoten leider nicht magisch von allein löst.
Wie lässt sich dieser Knoten lösen? Kann der Einsatz von „Digitalen Zwillingen“ die Transformation vorantreiben?
Wolfgang Bock: Eine Fertigungsanlage oder eine Produktionslinie lässt sich nicht über Nacht erneuern oder komplett austauschen. Also wo starten? Digitale Zwillinge bilden die Prozesse in einer Fertigungsanlage oder Produktionslinie über eine Sensorik 1:1 digital ab. Im digitalen Schatten werden alle physikalischen Daten des IST-Zustands gesammelt. Über einen digitalen Master lassen sich diese Daten nutzen, um daraus Optimierungsmaßnahmen abzuleiten und den SOLL-Zustand vorzugeben. Im Optimalfall helfen Digitale Zwilling schon während der Planung beim Vermeiden von Fehlern. Das steigert die Sicherheit, Leistung und insgesamt die Erfolgsaussichten. Investitionen in die Zukunft werden transparenter, mess- und planbarer.
Stephan Melzer: Jedes Unternehmen wird durch die Einführung Digitaler Zwillinge sofort strategisch und operativ beweglicher. Dabei müssen wir zwischen der Digitalisierung der Produktion und der Digitalisierung des Produkts unterscheiden. Digitalisierte Prozesse können die Effizienz in Unternehmen steigern, die Digitalisierung der Produkte schafft hingegen völlig neue Wert- und Leistungsversprechen. In der idealen Ausbaustufe ermöglichen Digitale Zwillinge Risikoanalysen, Tests, Simulationen, Auswertungen in der Produktentwicklung und sogar die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle.
Laut einer Studie von msg und Fraunhofer IPK haben bereits 85 Prozent der befragten Unternehmen Konzepte für einen Digitalen Zwilling entwickelt. Aber bei der Umsetzung hapert es noch. Woran liegt das?
Stephan Melzer: 35 Prozent der Unternehmen mit einem Konzept für Digitale Zwillinge befinden sich in der Umsetzung von kleinen Projekten, nur acht Prozent der befragten Unternehmen gehen umfangreichere Projekte an. Das ist viel zu wenig. Wenn man sieht, dass ein so zentrales Element wie der Digitale Zwilling noch nicht so flächendeckend angekommen ist, dann macht mir das Sorgen. Vielleicht wird das Thema zu klein gedacht. Denn es geht nicht nur um die technische Optimierung von Prozessen, sondern vor allem um das Schaffen einer nachhaltigeren Produktion. Die Digitalisierung ist für mich der Schlüssel zum Eindämmen unserer Ressourcenentwertung und zum Optimieren der Emissionen. Das sind drängende Themen, die nun unbedingt mit vollem Einsatz angegangen werden sollten.
Wolfgang Bock: Ein derzeit besonders dringendes Thema, Lieferkettenengpässe, könnte bei Unternehmen zum schnellen Umdenken führen. Denn mit Digitalen Zwillingen lassen sich Supply-Chain-Prozesse von den Rohstoffen über Lieferanten und Sub-Lieferanten bis zu den Distributoren und Transportwegen End-to-End digital erfassen. Damit können Lieferengpässe frühzeitiger identifiziert und die Transportkosten optimiert werden. Das zahlt gleichzeitig ein auf das nachhaltige Wirtschaften von Unternehmen. Damit wäre der Weg unter anderem frei für energie- und emissionsoptimierte Liefermodelle, die den CO₂-Fußabdruck von Produkten reduzieren.
In der Luftfahrt, Automobilbranche und im kommunalen Bereich werden Digitale Zwillinge bereits eingesetzt. Wie sieht es in anderen Industrien aus? Haben Sie konkrete Beispiele?
Wolfgang Bock: Ich möchte hier zwei Beispiele aus zwei unterschiedlichen Bereichen nennen – aus dem Industrieanlagen- und aus dem Energiebereich. Das erste Beispiel ist ein Rohrwalzwerk, in dem in mehreren hintereinandergeschalteten Walzaggregaten nahtlose Stahlrohre aus einem Metallzylinder gewalzt werden. Vor dem Eintritt in ein Aggregat wird das Längenprofil des Rohres vermessen. Die Daten werden an den Digitalen Zwilling des Aggregates übertragen, der dann basierend auf historischen Daten und KI-Methoden in quasi Echtzeit die Frequenzen der Walzmotoren als Funktion der Zeit ausrechnet, um Unebenheiten auszugleichen und die sogenannte beidseitigen Trompetenenden, die abgetrennt werden müssen, in der Größe zu reduzieren. Dadurch lässt sich die Qualität der Rohre deutlich verbessern, aber auch der Energieverbrauch reduzieren, da die abgetrennten Trompetenenden wieder eingeschmolzen werden müssen.
Jedes gewalzte Rohr wird ebenfalls durch einen Digitalen Zwilling repräsentiert, der neben der Seriennummer, dem finalen Längenprofil und dem Material auch den Stromverbrauch, die CO₂-Emissionen, den Wasserverbrauch und diverse Prüfzertifikate enthält. Der Digitale Rohr-Zwilling wird mit dem physischen Rohr ausgeliefert.
Auch im Energiebereich gibt es spannende Einsatzmöglichkeiten. Bei einem Fernwärmeversorger übermittelt jede der Hausanschlussstationen alle drei Minuten Sensor- und Wärmezählerdaten an einen Digitalen Zwilling. Basierend auf historischen Daten überprüft jeder Zwilling fortwährend, ob Störungen oder energetisch ungünstige Einstellung vorliegen. Falls dies der Fall ist, generiert der Digitale Zwilling einen Alarm, sodass die Störung zeitnah behoben werden kann. Erzeuger können die historischen Daten der Digitalen Zwillinge darüber hinaus nutzen, um die notwendige Energieeinspeisung in das Fernwärmenetz besser zu prognostizieren. Das ist ja angesichts der hohen Kosten für fossile Energieträger und der Reduktion von CO₂-Emissionen ein hochaktuelles Thema.
In den beschriebenen Projekten wird der Digitale Zwilling innerhalb eines Unternehmens eingesetzt. Wenn Digitale Zwillinge künftig weitläufig und unternehmensübergreifend im Einsatz sind, müssen sie sich auch virtuell austauschen können - sozusagen dieselbe Sprache sprechen.
Wolfgang Bock: Der Digitale Zwilling ermöglicht generell eine bereichs- und prozessübergreifende Zusammenarbeit verschiedener Partner. Damit der Digitale Zwilling auch unternehmensübergreifend zum Einsatz kommen kann, sind Datenökosysteme unerlässlich. Catena-X und GAIA-X sowie Interoperabilitätsstandards wie die Asset-Administration-Shell sind hier wichtige Ansätze. Die Entwicklung hat Fahrt aufgenommen – nun bleibt zu hoffen, dass sich hier am Ende auch weltweite Standard etablieren. So können auch kleinere Unternehmen einen Digitalen Zwilling aufbauen, ohne die Infrastrukturen selbst betreiben zu müssen.
Wir haben nun über die nahe und die etwas fernere Zukunft gesprochen. Welche Herausforderungen sollten Unternehmen jetzt mit hoher Priorität angehen, um ihre Transformation zu beschleunigen?
Stephan Melzer: Die Herausforderung für Unternehmen liegt nicht in der Technologie selbst. Primäre Herausforderungen sind neben der Kompetenz der Mitarbeitenden vor allem auch der Zugang und die Qualität der Daten, die zu den eigenen Produkten gehören. Die Datenqualität ist hoch, wenn die Daten vollständig, genau, konsistent, zuverlässig und aktuell sind. Unternehmen in allen Branchen sollten sich kontinuierlich mit den Daten der eigenen Produkte und deren Qualität beschäftigen. Nur so können sie wettbewerbsfähig bleiben. Denn ob zur Produktoptimierung, Prozessautomatisierung oder Simulation durch einen Digitalen Zwilling – die systematische Erhebung und Analyse von Daten wird künftig unerlässlich sein.
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