15.05.2020
„Wir stehen am Beginn einer neuen Evolutionsstufe der Ökosysteme“, betont Karsten Redenius. Der msg-Vorstand ist überzeugt: Wer sich jetzt traut, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und den Kunden noch mehr in den Mittelpunkt zu stellen, der ist für die Zeit nach Corona bestens gerüstet. Die Krise lehre uns doch, dass komplexe gesellschaftliche Herausforderungen nur mittels Kooperation und Vertrauen zu meistern sind. Die Bereitschaft, sich vielmehr durch generalisierbare Fähigkeiten als durch das aktuelle Produktportfolio zu definieren zahle auf den künftigen unternehmerischen Erfolg ein.
Herr Redenius, gibt es in dieser Krise Gewissheiten, an denen man sich orientieren kann?
Eine Gewissheit ist, dass diese globale Krise ein Ende haben wird. Danach wird es darum gehen, die Themen, die schon vor der Corona-Pandemie relevant waren, fortführen zu können. Das gilt für die Unternehmen ebenso wie für die Gesellschaft als Ganzes. Wir müssen also versuchen, die Krise operativ zu bewältigen, uns aber ebenfalls darauf einstellen, unsere langfristigen Projekte wieder aufzunehmen. Natürlich werden wir dabei neue Rahmenbedingungen und veränderte Perspektiven zu berücksichtigen haben, gerade im Hinblick auf die Philosophie und die Gestaltung der Ökosysteme.
Welcher Art werden diese Veränderungen sein?
Ich glaube, die wesentliche Veränderung wird sein, dass der Druck deutlich zunehmen wird, Ökosysteme wirklich kollaborativ zu denken. In der Vergangenheit war der Blick doch sehr stark von der Frage geleitet: Entstehen durch Ökosysteme – etwa im Bereich der Mobilität oder der Energieversorgung – neue Wege, um meine bestehenden Produkte und Dienstleistungen abzusetzen? Ich gehe davon aus, dass sich dieser Fokus verändern wird: hin zu neuen Geschäftsmodellen, die wirklich durch Kollaboration möglich werden. Bei denen sich verschiedene Marktteilnehmer zusammentun, um gemeinsam einen Mehrwert zu erzeugen. Das wird allein schon aus der Notwendigkeit heraus entstehen, sehr schnell zukunftsorientierte, skalierbare Geschäftsmodelle zu kreieren.
Inwiefern erfordert das einen Perspektivenwechsel beim Aufbau von Ökosystemen?
Weil man in solchen Modellen konsequent vom Kunden her denken muss. Und berücksichtigen muss, dass sich nach einem solchen Ereignis wie Corona individuelles und kollektives Verhalten verändern wird. Bestimmte Mechanismen werden anders ablaufen. Das ist heute noch nicht vollkommen absehbar, dafür sind wir noch zu stark in der Dynamik. Aber man wird diese Mechanismen verstehen und beherrschen müssen, um in der Lage zu sein, sich in diesen Systemen richtig zu positionieren. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene lernen wir gerade, dass komplexe Herausforderungen eine enge Kooperation und sehr viel Vertrauen zwischen den unterschiedlichsten Akteuren erfordern. Das wird auch auf wirtschaftlicher Ebene fortwirken.
Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Seit einigen Jahren wird daran gearbeitet, im Gesundheitswesen ein umfassendes, effizientes Ökosystem aufzubauen. Das passiert aber bislang stark aus der Perspektive der Anbieter. Der Versicherungen, Pharmaunternehmen, Kliniken, nur um einige zu nennen. Dabei setzen alle an der eigenen starken Position an. Jetzt stellt sich die Frage aber anders: Wie kann man die Bedürfnisse des Patienten oder des Versicherten optimal berücksichtigen? Wenn man das ernst nimmt, kann man nicht vom eigenen Offering her denken, nicht von der Frage, wie bringe ich mein Produkt am besten da unter. Sondern man muss vom Endkunden her denken, in diesem Fall dem Patienten. Von dort aus muss man sich in Richtung seines bestehenden Angebots oder auch neuer Angebote bewegen. Ich glaube, das wird ein ganz wesentlicher Faktor sein, um mit der sich verändernden Welt Schritt zu halten.
Globale Parfumproduzenten fertigen Desinfektionsmittel, Autohersteller nutzen ihre Supply Chains, um für den Bund Schutzausrüstung im Ausland zu beschaffen. Das ist in dieser Form neu. Lassen sich diese Phänomene im Sinne neuer Ökosysteme interpretieren?
Ja, das ist exakt die Veränderung. Bis vor wenigen Monaten, ich vereinfache das jetzt natürlich, wäre die Frage vermutlich gewesen: „Wie können wir als Duftmittelhersteller uns mit diesem Produktportfolio und diesen Fertigkeiten in Ökosysteme und damit in neue Absatzwege hinein bewegen?“ Während heute die Frage lautet: „Was braucht unser Kunde gerade und welchen Beitrag können wir dazu leisten?“ Das führt dann genau zu der Antwort, dass man mit den bestehenden Produktionskapazitäten auch etwas anderes tun kann, als Parfum herzustellen.
Außerdem glaube ich, dass genau dieser Impuls, der jetzt da ist, zu einem tiefgreifenden Umdenken in den Unternehmen führen muss und führen wird. Das ist im Falle der automobilen OEMs nicht anders. Da wird die Fähigkeit, eine globale Fahrzeugentwicklung und -produktion zu beherrschen, dafür genutzt, andere Dinge damit zu tun, wenn sie notwendig sind. Hier zeichnet sich ein Perspektivenwechsel ab: die Bereitschaft, sich in erster Linie durch generalisierbare Fähigkeiten und nicht durch das aktuelle Produktportfolio zu definieren.
Also der Weg, den beispielsweise Amazon mit den AWS gegangen ist?
Ganz genau. Im Prinzip hat Amazon mit den AWS einen Teil seiner Fähigkeiten, das Geschäft zu betreiben, als Service zur Verfügung gestellt. Das werden andere in Zukunft ebenfalls tun und ich denke, da haben wir in Europa sehr gute Ausgangsbedingungen. Denn wir verfügen über hohe prozessuale und methodische Kompetenzen, die wir vielfältig einsetzen können. Für einen Autohersteller ist es letztlich nicht entscheidend, ob am Ende ein Sportwagen entsteht oder ein Transaktionsvolumen, das über seine Prozesse getragen wird. Es spricht vieles dafür, dass wir am Beginn einer neuen Evolutionsstufe der Ökosysteme stehen.
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Wie wirkt sich die Corona-Krise auf das Zusammenspiel zwischen Management und Leadership aus? Im Kurzinterview auf advisors.msg.group schildert Karsten Redenius, welche Führungsqualitäten aktuell gefordert sind und wie Entscheider auch langfristig Strukturen erhalten und Auflösungserscheinungen vermeiden.