Leadership ist maßgeblich für den Erfolg von Teams. Welche Erfahrungen machen „Leader“, wenn sie agile Prinzipien in Behörden und in der öffentlichen Verwaltung einsetzen? Dazu hat Dr. Heinke von Lucke Michael Mengel, IT-Referatsleiter und Gesamtprojektleiter des PNR-Projekts im Bundesverwaltungsamt, befragt.
Zuerst erschienen in der public Ausgabe 01-2022
von Heinke von Lucke
Agile Leadership gehört mittlerweile zu den wichtigen Ansätzen, Organisationen zu ertüchtigen, digitale Kompetenz aufzubauen und sich an sich schnell ändernde und oft unvorhersehbare, komplexe Anforderungen der Märkte anzupassen. Der Umgang mit Krisensituationen und das Informationssicherheitsmanagement sind Herausforderungen, denen sich auch Behörden und die öffentliche Verwaltung stellen müssen. Neue Gesetzgebungen erfordern komplexe Umsetzungen in der öffentlichen Verwaltung, und nicht zuletzt muss einem veränderten Selbstverständnis der Mitarbeitenden sowie dem Wunsch der Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen in der digitalisierten Gesellschaft begegnet werden.
Softwareentwicklung ist heute maßgeblich durch kurze Entwicklungszyklen und Feedback-Schleifen von den Entwicklungsteams bis hin zu den Auftraggebern geprägt. Im Jahr 2001 hat sich eine Gruppe von Vorreitern aus der IT-Beratung im „Manifest der agilen Softwareentwicklung“ (Agile Manifesto, 2001) vier Leitsätzen und zwölf Prinzipien verschrieben mit der Absicht, mehr Flexibilität und Kundenfokus in die Abläufe der Softwareentwicklung zu bringen. Seitdem steht Agilität für eine Haltung, die diesen Leitsätzen folgt. Ken Schwaber und Jeff Sutherland haben mit dem Scrum Framework einen Rahmen für agile Leitsätze in Organisationen geschaffen und Teams Praktiken an die Hand gegeben, um agile Prinzipien umzusetzen.1
Das Fluggastdatenregister (Passenger Name Record = PNR) ist eines der größten IT-Verfahren der öffentlichen Verwaltung. Rechtsgrundlage für die Übermittlung von Fluggastdaten an die Fluggastdatenzentralstelle beim Bundeskriminalamt (BKA) und für deren Verarbeitung ist das am 25.05.2018 vollständig in Kraft getretene Fluggastdatengesetz..Das Bundesverwaltungsamt (BVA) übernimmt für das Bundeskriminalamt im PNR-Projekt den großen Bereich Auftragsdatenverarbeitung. Dabei profitiert das BVA von seiner hohen Kompetenz in der technischen Umsetzung sowie interdisziplinären Zusammenarbeit. Das IT-Verfahren PNR verarbeitet rund 200 Millionen Datensätze (= Flugbewegungen/Passagiere) im Jahr und bindet mehr als 260 Luftfahrtunternehmen sowie über 30 internationale deutsche Flughäfen an.Auf europäischer Ebene ist PNR eine moderne, zukunftssichere und anpassungsfähige Anwendung und gewährleistet ein prädiktives Verfahren für nachhaltige Sicherheit. Das IT-Verfahren PNR wird seit 2016 entwickelt und befindet sich seit Juli 2021 im uneingeschränkten Wirkbetrieb. Aktuell arbeiten im BVA etwa 170 Mitarbeitende gemeinsam in dem Projekt.
Überwiegend bürokratisch geführte Linien-Organisationen, wie sie in Behörden und in der öffentlichen Verwaltung anzutreffen sind, neigen bei steigender äußerer Komplexität dazu, übersteuert (over-managed) und gleichzeitig „unterführt“ (under-led) zu sein.2 Hier kann Agile Leadership helfen: Statt sich in Mikromanagement komplexer Inhalte zu verlieren, wird zur Reduktion der Komplexität ein Führungsstil postuliert, der eine Verteilung der Verantwortung vorsieht. Agile Leadership eröffnet Optionen, wenn zum Beispiel die Mitarbeiterentwicklung nicht mehr zwingend in der Verantwortung derselben Person liegt wie die Steuerung der Inhalte oder der Vorgehensweise. Leadership als Führen am System steht dann für die Arbeit an der Zukunft der Organisation und ermöglicht Lösungen in einem komplexen Umfeld.3 Die Steuerung im System, das Management für eine zuverlässige und planbare Lieferung der versprochenen Leistung, verteilt sich auf mehrere Schultern: Im Scrum Framework führt der Product Owner das Team über die Priorisierung der umzusetzenden Inhalte, der Scrum Master befähigt als Servant Leader das Team und verantwortet den Prozess. Agile Leadership baut auf Vertrauen und steckt einen klaren Rahmen, um den Teams zu ermöglichen, eigenverantwortlich dort zu handeln, wo sie über die größere Expertise verfügen. Leadership heißt, Verantwortung zu übernehmen, und ist gerade in Organisationen, die sich umgestalten und transformieren wollen, auf allen Ebenen gewünscht. Die agile Haltung ermöglicht Führung auch losgelöst von festen Rollen. Mitglieder einer Organisation können auch situativ Führung wahrnehmen.4 Agile Prinzipien kommen im Großprojekt Fluggastdatenspeicherung (Passenger Name Record = PNR) zur Anwendung, in dem das Bundesverwaltungsamt den Bereich der digitalen Auftragsdatenbearbeitung für die Fluggastdatenzentralstelle des Bundeskriminalamts übernommen hat.
msg: Vielen Dank, Herr Mengel, dass Sie sich die Zeit für das Gespräch genommen haben. Was ist aus Ihrer Sicht am PNR-Projekt das Besondere für die Bundesverwaltung?
Michael Mengel: Das Besondere für die Bundesverwaltung ist die Arbeit in einer komplett neuen fachlichen Domäne. Das Projekt ist sowohl für das Bundesverwaltungsamt als auch für das BKA sozusagen „Neuland“. Darüber hinaus ist die zur Gesetzgebung begleitende Umsetzung eine besondere Herausforderung gewesen. Das heißt, wir haben schon während des Gesetzgebungsverfahrens das BMI dahingehend beraten, was sinnvoll ist, und parallel dazu bereits das Projekt aufgesetzt und gesteuert. Dazu gehörte auch, das BMI zu beraten, sodass es durch ein sukzessives Inkrafttreten des Gesetzes den agilen Ansatz ermöglicht hat.
msg: Warum haben Sie sich für den Einsatz der Agilität im Großprojekt PNR entschieden, und was ist Ihre Vision beziehungsweise welche Wirkung wollen Sie erzielen?
Mengel: Agilität bedeutete für uns vor allem die Möglichkeit, im und mit dem Projekt zu lernen. Denn von Anfang an war uns klar, dass man sich mit diesem Komplex der Fluggesellschaften erst einmal auseinandersetzen und folglich über eine lange Zeit auch viel lernen muss. Mit dem agilen Ansatz waren alle Beteiligten, also das Bundesverwaltungsamt und andere Behörden, wie zum Beispiel das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei und Dienstleister, immer in der Lage, das Erlernte umzusetzen und zu schauen, ob man mithilfe des neu Erlernten noch mal nachsteuern muss.
Ein weiterer entscheidender Punkt war die schon erwähnte Agilität in der Gesetzgebung. Im Rahmen der Gesetzgebung ist es üblich, dass Konsultationen mit Behörden und Industrie stattfinden, um zu präzisieren oder Kompromisse hinsichtlich der Aufgabenverteilung oder unterschiedlicher Interessen zu finden. Der agile Ansatz erlaubt es, dann entsprechend nachzujustieren. Unsere zugrunde liegende Vision war einfach: aus etwas Kleinem etwas Großes zu machen. Getreu dem Motto: Start small, think big.
Gestartet sind wir im BVA mit drei Mitarbeitern und drei externen Kollegen. Uns war vollkommen klar, dass wir im Aufbau viele neue Kolleginnen und Kollegen werden einstellen müssen – intern, extern, mit viel Erfahrung – und dass wir ein riesiges Mitarbeitergebirge zu bewältigen haben würden. Uns und mir war von Anfang an klar, dass man das nicht im Mikromanagement-Modus machen kann, sondern dass jede Person, die neu an Bord kommt, auch ihre Kompetenzen einbringt, und dass wir es ihnen möglich machen müssen, diese einzubringen. Den Rahmen dafür bietet Agilität und auch natürlich Agile Leadership. Anders wäre es aus meiner Sicht nicht zu schaffen gewesen. Klassisch kann man nicht ein Projekt von null auf hundert skalieren.
Michael Mengel ist IT-Referatsleiter und Gesamtprojektleiter für Passenger Name Record (PNR) mit ca. 170 Beschäftigten im Bundesverwaltungsamt. Das Großprojekt unter seiner Führung erfordert eine enge Zusammenarbeit der beteiligten Behörden, das sind neben dem BVA und BKA auch die Bundespolizei (BPOL), das Zollkriminalamt (ZKA), das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) sowie das Informationstechnikzentrum Bund (ITZBund). Das Gesamtprojekt PNR skaliert die agile Vorgehensweise auf Teamübergreifender Ebene im Behördenumfeld. Die Koordinierung der Umsetzung liegt beim Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI).
"Agilität bedeutet für uns vor allem die Möglichkeit, im und mit dem Projekt zu lernen."
von Michael Mengel
msg: Wie autark sind die Scrum-Teams in der eigenverantwortlichen operativen Steuerung? Können Sie sich in Ihrer Rolle als Gesamtprojektleiter im BVA beziehungsweise in der Rolle als IT-Referatsleiter auf die Arbeit am System, sich auf Ihre Leadership-Vision konzentrieren?
Mengel: Es gilt immer, die Eigenverantwortlichkeit der Teams zu maximieren. Jedes Team sollte maximal eigenverantwortlich arbeiten. Natürlich gibt es immer wieder Grenzen. Aus meiner Sicht gibt es die aber nicht nur in Behörden, sondern auch in großen Organisationen – durch Vertragskonstellationen, Verantwortung für Mitarbeiterführung, Budget oder aufgrund der Einhaltung von IT-Sicherheitsvorgaben vom BSI. Wenn man an diese Grenzen der Verantwortlichkeiten stößt, muss man sich Kniffe einfallen lassen, um eine Brücke von der agilen in die klassische Welt zu bauen. Aber keine Freiheiten sollten beschnitten werden, ohne dass es dafür gute Gründe gibt. Das Grundprinzip lautet: Im Zweifel immer für die Freiheit! Mir persönlich war es immer ganz wichtig, mich auf meine Aufgabe als Visionär, auf Leadership zu konzentrieren und dann dafür Multiplikatoren zu suchen. Man braucht auch Multiplikatoren, die die eigene Vision verstehen und ihrerseits vorleben. Es geht um viel mehr als das Scrum-Instrumentarium.
"Das Grundprinzip lautet: Im Zweifel immer für die Freiheit!"
von Michael Mengel
msg: Welche Entscheidungen werden von den Teams dezentral getroffen und welche Verantwortung wird übernommen?
Mengel: Die Teams treffen alle Entscheidungen, die für die Sprintroutinen notwendig sind, also fachliche und technologische Entscheidungen. Das erfolgt aber in einem guten Rahmenwerk. Wir verfügen über eine solide Fach- und technische Architektur. In diesem Rahmen können alle inhaltlichen Entscheidungen getroffen werden. Es kommt manchmal, allerdings eher selten, vor, dass ein Team gegen die Rahmenarchitektur, die technische oder die fachliche, verstößt. Dann muss man sich mittelfristig wieder rausarbeiten. Das Team lernt im Laufe der Zeit, wann es auch die Domänenarchitekten mit hinzuzieht, um gute Entscheidungen zu treffen. Innerhalb des Rahmens, der von den Domänen- und Enterprisearchitekten vorgegeben wird, arbeitet das Team völlig autonom und trägt die Verantwortung für die zu entwickelnden Artefakte.
Abbildung 1: Ressortübergreifend zusammengesetzte (crossfunktionale) und durch externe Dienstleister unterstützte Scrum-Teams entwickeln in kurzen Zyklen weitestgehend unabhängig voneinander, aber im Gleichtakt das IT-Verfahren PNR stetig weiter.
msg: Wie fördern Sie im PNR-Projekt die Selbstorganisation in den Teams und wie kann sich diese teamübergreifend entfalten?
Mengel: Man kann nur Impulse geben. Man kann einem Team zum Beispiel nicht vorschreiben, welche Teamrituale es entwickelt. Es gibt auch Teamrituale, die nicht in Projekthandbüchern stehen: das gemeinsame Frühstück, das gemeinsame Kaffeetrinken am Freitagnachmittag. Man kann die Selbstorganisation eines Teams nicht vorschreiben, man kann nur Impulse geben. Und man kann Ziele setzen, also dem Team vermitteln: Euer Ziel ist es, eure verantworteten Komponenten zu dem Da-und-dorthin hin zu entwickeln. Wie ihr das macht, ist mir völlig egal.
Teamübergreifend bedeutet, aus den Silos auszubrechen und zu zeigen, dass es nicht nur Teams in Silos gibt. Spotify ist dafür ein Beispiel, das über die Welt verteilte verschiedene Teams hat, die als Community of Practice zusammenarbeiten. Auch Teamleiter müssen verstehen, dass die Teamleiter untereinander wieder ein Team sind. Genauso müssen die Tester in den unterschiedlichen Teams verstehen, dass sie auch wieder ein horizontales Tester-Team sind. Wenn man dieses Team-Verständnis kultiviert, dann passiert das automatisch. Genauso ist es auf der Ebene der Führungskräfte. Die Zusammenarbeit zwischen mir und den verantwortlichen Referatsleitern und Gruppenleitern auf IT- und Fachbereichsseite im BVA erfolgt letztlich auch in einem Team.
Das muss man fördern. Natürlich gibt es die Tendenz in einem großen Projekt, innerhalb des Teams in ein Silodenken zu verfallen. Um dem entgegenzuwirken, muss man die Retrospektiven fördern, generell sensibel sein und darauf achten, ob irgendwo etwas nicht klappt, nicht passt, ob noch mal nachgesteuert werden muss. Oder ob vielleicht noch mal ein oder zwei Hinweise helfen können.
"Man kann die Selbstorganisation eines Teams nicht vorschreiben, man kann nur Impulse geben."
von Michael Mengel
msg: Wie werden die Teams vor Über- und Unterforderung geschützt? Woran merken Sie, wenn Teams in den Flow geraten?
Mengel: Es gibt Anzeichen für Über- oder Unterforderung. Die Architekten zum Beispiel, fachliche wie technische, sind ja übergreifend tätig und nicht in jedem Sprint in den Teams dabei. Wenn also irgendwo überdurchschnittlich häufig diese übergeordneten Instanzen angerufen werden, dann ist das ein Zeichen für Überforderung. Genauso ist es auch bei der Unterforderung. Wenn aufseiten der übergreifenden Themen, sei es IT-Sicherheit oder wieder auch bei der Architektur oder dem Release Management, ein Team praktisch unter dem Radar bleibt, dann schaue ich mir das genauer an. Den Flow eines Teams kann man gut an der Stimmung erkennen. Wenn ein Team einen guten Flow hat, wird auch immer eine gute Stimmung widergespiegelt. Der Stimmungsindikator ist schon wichtig. Und wenn man merkt: in diesem Team, da knirscht es und die haben immer schlechte Laune, dann gehe ich da auch rein.
Abbilung 2: Agile Leader Wheel – Rad der Kompetenzen agiler Führung
msg: So habe ich die gute Stimmung im PNR-Projekt auch erlebt, das leuchtet mir ein. Zeigen Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern regelmäßig Wertschätzung? Wie erreichen Sie, dass sie sich wahrgenommen fühlen?
Mengel: Wertschätzung erfolgt oft aus den agilen Routinen heraus. Man muss natürlich seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schon regelmäßig Personalgespräche anbieten. Das erfordert einige Disziplin. Und man muss direktes Feedback geben, positiv wie negativ. Meiner Erfahrung nach empfinden die Beschäftigten auch Hinweise auf Fehler als wertschätzend. Man muss jedem das Recht eingestehen, seine eigenen Fehler selbst wieder auszubügeln – entgegen der Tendenz, als Projektleiter diejenige oder denjenigen zu suchen, der das entstandene Problem am besten aus der Welt schaffen kann. Wertschätzender Umgang ist: Du hast diesen Fehler begangen, lass dir was einfallen, wie du diesen Fehler behebst. Und wenn du Unterstützung brauchst, dann sag Bescheid. Und, last but not least, man darf keine Vergleiche zwischen Beschäftigten ziehen und sagen, ich möchte, dass du nächstes Jahr genauso gut bist wie die oder der. Also wertschätzend ist, sich mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern individuell auseinanderzusetzen, ihre persönlichen Stärken und Schwächen zu sehen und diese zu adressieren. Zu sagen, ich möchte, dass du an dieser oder jener Schwäche arbeitest. Eine solche Einzelfallbetrachtung, ohne zu vergleichen, wird auch als Wertschätzung wahrgenommen.
Literaturhinweise agile Leadership
Die Prinzipien von Agile Leadership sind mannigfaltig beschrieben, beispielsweise in:
- Agile Leadership Competence: Fundament des House-of-Lean / Scaled-Agile-Framework, SAFe, last updated 2021, https://www.scaledagileframework.com/lean-agile-leadership/ (abgerufen am 06.10.2021).
- Dimensionen des transformationalen Leadership. In: Forsgren, Nicole, Jez Humble, Gene Kim (2018): Accelerate. The Science of Lean Software and DevOps: Building and Scaling High Performing Technology Organizations, Portland: IT Revolution.
- Dimensionen des Agile Leadership. In: Sieroux, Sandra, Stefan Roock, Henning Wolf (2020): Agile Leadership. dpunkt.verlag.
- Key Competence Indicators / Measures of Leadership. In: PMA Reference Guide in an Agile World Version 2.3. (2018). IPMA Reference Guide in an Agile World Version 2.3. Von https://www.pma.at/files/downloads/577/ipma-icb4-in-agileworld-v23.pdf (abgerufen am 06.10.2021).
msg: Wie haben Sie Vertrauen in einem solch großen Team aufgebaut und wie inspirieren Sie die Teams und motivieren Sie die Beschäftigten?
Mengel: Das Wichtigste ist, mit gutem Beispiel voranzugehen. Nur wenn man als Projektleiter Prinzipien vorlebt, kann man auch von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwarten, dass sie diese ihrerseits leben und weitergeben. Neue Kolleginnen und Kollegen erfahren von mir als einen der ersten Punkte, dass es völlig in Ordnung ist, Fehler zu machen. Es geht nicht darum, dass man etwas immer richtig macht. Vielmehr geht es darum, dass man auch dann, wenn man mal etwas nicht richtig macht, daraus lernt. Jeder und jede muss für sich selbst reflektieren, jedes Team muss für sich reflektieren, das Gesamtprojekt muss für sich selbst reflektieren. Das ist ein ganz wesentliches agiles Prinzip. Auch das führt zu Vertrauen. Also wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – intern oder extern – wissen, dass es diese Fehlerkultur gibt, dann können sie anfangen, entlang ihrer Fehler zu lernen. Ich sage immer gerne: Jeder hat das Recht, seine eigenen Fehler zu machen. Das meine ich auch so. Der Fehler sollte dann nicht zwei-, drei-, viermal vorkommen, aber viele Fehler müssen ja auch erst mal gemacht werden, um zu erkennen, warum man es anders machen sollte.
Und um das Team zu inspirieren und Menschen zu motivieren, muss man ein Stück weit als Visionär agieren. Als Gesamtprojektleiter im BVA denke ich ein System vom Ende her. Also, wie sieht das System am Ende aus, wie arbeiten am Ende die Bereiche zusammen? Diese Vision kann man aufschreiben, sie ist aber auch in stetigem Wandel. Und man muss sie immer wieder kommunizieren, transferieren und transportieren. Daraus entsteht dann die Motivation. Nicht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Arbeiten anweisen, sondern ihnen die Vision und das Ziel begreiflich machen. Und entweder sie folgen einem oder nicht. Und wenn sie einem folgen, dann entsteht Begeisterung.
"Das wichtigste ist, mit gutem Beispiel voranzugehen."
von Michael Mengel
msg: Hat sich Ihr Verhalten bezogen auf Agile Leadership über die Zeit verändert?
Mengel: Mein Verhalten und meine Denkweise in Bezug auf Agile Leadership haben sich im Laufe der Zeit ganz sicher verändert. Am Anfang war ich Teamleiter und im BVA verantwortlich für fünf Leute, dann war ich Leiter eines Projekts mit zehn Leuten. Und schließlich geht es um ein Projekt mit weit über hundert Menschen. Das bedeutet, ich sah mich fortlaufend mit neuen Situationen konfrontiert und musste entsprechend meine Expertise zu Agile Leadership ausbauen. Ich meine, je größer das Projekt, das man leitet, desto besser muss man in Agile Leadership sein. Ich hatte die Chance, mich in einer natürlichen Lernkurve stetig zu verbessern. Was sich zudem geändert hat, ist meine Einstellung zu Arbeitsweisen, wie sie auch schon in klassischen Welten gelebt wurden. Viele Dinge, die heute zu Agile Leadership vermittelt werden, findet man dort auch schon. Von dem dogmatischen Denken in Schubladen sollte man dringend wegkommen. Ich bin überzeugt, dass die verschiedenen Modelle und Vorgehensweisen als ein Portfolio an Ideen zu verstehen sind, aus dem man sich bedienen kann. Das habe ich auch im Rahmen meiner Masterarbeit „Konzeptentwicklung zur adaptiven Vorgehensweise bei organisationsübergreifenden agilen IT-Großprojekten“ ausgearbeitet. In der Masterarbeit habe ich geschaut, welche Bausteine aus der klassischen und der agilen Welt es für das Großprojekt-Management gibt und was und wie man das kombinieren kann. Diese Arbeit hat mir interessanterweise aufgezeigt, warum ich einige Dinge so gemacht habe, wie ich sie gemacht habe. Und sie hat mir gezeigt, dass es da draußen viele Best Practices für Aufgabenstellungen gibt, die wir in der Praxis ähnlich gelöst haben.
"Mein Verhalten und meine Denkweise in Bezug auf agile Leadership haben sich im Laufe der Zeit ganz sicher verändert."
von Michael Mengel
msg: Die reine Anwendung des Scrum Frameworks in den Teams bringt nicht den Kulturwandel. Inspect & Adapt der Prozesse und der Zusammenarbeit auf Scrum-Team-Ebene erfolgt kontinuierlich in den Sprint-Retrospektiven. Wie wird teamübergreifend gelernt und wie gelingt es, die Zusammenarbeit auf PNR-Gesamtprojektebene im BVA zu reflektieren?
Mengel: Wir versuchen, agile Prinzipien, agile Methodiken, so gut es denn geht, auf allen Ebenen zu installieren. Auch die Teilprojektleiter machen Retrospektiven und die Führungskräfte der Organisationseinheiten ihrerseits, ebenso wie es auf Führungsebene mit dem Fachbereich übergreifend moderierte Retrospektiven gibt. Das Format ist jeweils ein wenig unterschiedlich. Man kann sagen, je weiter weg von einem softwareentwickelnden Scrum-Team, desto mehr muss man adaptieren. Aber diese Feedback-Schleife ist als Prozess zur kontinuierlichen Verbesserung wichtig. Das gibt es ja auch in der klassischen Welt, und daran sollte man unbedingt festhalten. Das ist auf allen Ebenen wichtig, auch auf Gesamtprojektebene. Und zwar nicht nur, um Fehler abzustellen, sondern auch für die Weiterentwicklung. Ein Projekt in der Größe von PNR ist ein lebender Organismus. Deshalb ist eine sehr gute Struktur heute in einem Jahr vielleicht nicht mehr sehr gut, weil sich das Projekt weiterentwickelt hat.
"Ein Projekt in der Größe von PNR ist eigentlich ein bisschen ein lebender Organismus. Deshalb ist eine sehr gute Struktur von heute in einem Jahr vielleicht nicht mehr sehr gut."
von Michael Mengel
msg: Die BVA-Beschäftigten im Großprojekt verbinden mit Ihrer Person die Aussage: „Stetig ist der Wandel.“ Oft werden neue Formate bei den Meetings erprobt, es gibt kein Verharren im Bewährten. Warum folgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihnen gerne?
Mengel: Ich glaube, sie folgen gerne, weil sie spüren, dass wir eine Vision haben. Es braucht jemanden, der schon eine Vorstellung davon hat, wo es hingeht und wo man als Mitarbeiterin, als Mitarbeiter hingehen kann. Und ich glaube, sie folgen auch deshalb gerne, weil sie merken, dass es kein statischer Job ist, weil niemand genau den gleichen Job macht, den er oder sie vor zwei Jahren gemacht hat. Das ist für die persönliche Weiterentwicklung wichtig. Die Leute wollen keine Fließbandarbeit, sondern wollen sich ausprobieren, sich entwickeln, sich einbringen. Also: Wenn man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Raum dafür bietet, dann entsteht eigentlich automatisch ein Fluss, der nirgendwo Lücken entstehen lässt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben deshalb keine Angst vor den Veränderungen, weil sie durch die eingeübten Arbeitsprozesse und durch die gelebte Kultur sehr gut mit dem Wandel umgehen können.
msg: Wie fördern Sie Innovation im PNR-Projekt und wie offen sind Sie selbst für Neues?
Mengel: Es kommt darauf an, die Augen offen zu halten. Schon die Vorstudie zum PNR-Projekt war dadurch geprägt, dass man sich rund um die Welt andere Systeme anschaut. Und so haben wir das weiterhin gehandhabt: Die Beschäftigten sollen auf Konferenzen gehen und im Austausch mit anderen Ländern bleiben, die ähnliche Systeme haben. Man braucht prinzipiell immer diesen Input von links und rechts. Und nur, wenn wir im PNR-Kontext auch mal erzählen, was wir tun, merken wir überhaupt, ob das gut ist oder nicht – auf Konferenzen, aber auch intern. Wenn zum Beispiel im BVA ein Komponentenverantwortlicher vorstellt, wie die Pflege und Wartung in seinem Bereich aussieht, dann kann ein fruchtbarer Austausch entstehen. Es geht also nicht nur darum, Wissen und Inspiration einzuholen, sondern auch zu geben. Um für Impulse von außen und für Neues offen zu bleiben, muss man eine Kultur etablieren. Klar ist: Es ist normal, dass etwas Neues kommt. Wir wollen auch der Politik den Service bieten, immer wieder neue Themen zu bearbeiten. Man muss Innovation und Neuigkeiten einfach als etwas Normales betrachten.
msg: Seit Juli 2021 gilt der uneingeschränkte Wirkbetrieb für das IT-Verfahren PNR. Einige Teams des Gesamtprojekts sind bereits in die Linie des Bundesverwaltungsamts übergegangen. Sie leiten das entsprechende IT-Referat. Wie geht es weiter, was möchten Sie in Bezug auf Agile Leadership auf der Ebene der Behördenorganisation erreichen?
Mengel: Ich möchte die Dinge, die sich auf Projektebene bewährt haben – Best Practices und Routinen etwa – in die Linie überführen. Dieser Organismus, diese Kultur muss in der Linie unabhängig von den Köpfen funktionieren. Im PNR-Projekt ist es völlig normal, dass es Vordenker gibt, Kolleginnen und Kollegen, die voranschreiten. Aber bei dem Übergang in die Linie muss man eine Struktur, eine Kultur, ein Instrumentarium schaffen, das sich selbst weiterentwickelt. Das möchte ich erreichen. Und ich möchte das, was wir im Projekt gelernt haben, in der Behörde weitertragen, sodass es auch anderswo verwendet und weiterentwickelt werden kann. Das ist mir für die Behördenorganisation sehr wichtig.
msg: Das Großprojekt PNR im BVA gilt bei manch einer Behörde bereits als Vorbild für neue Arbeitsmethoden und Technologien. Wie teilen Sie das Wissen über das Gesamtprojekt hinaus und wie ordnen Sie in diesem Zusammenhang Agile Leadership ein?
Mengel: Wir versuchen eigentlich jede Gelegenheit zu nutzen, also bei Konferenzen oder anderen Foren, wo sich Behörden austauschen, unseren Beitrag zu leisten und Wissen und Erfahrungen weiterzugeben. Das ist natürlich sehr arbeitsintensiv und geht nur in einem gewissen Umfang. Aber ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass wir dadurch mittelfristig Zeit sparen und davon profitieren, von anderen zu lernen. Und wenn wir unsere Expertise weitergeben, werden wir selbst auch irgendwann wieder etwas lernen.
"Aus Entscheidern in der klassischen Welt werden in einer agilen Welt Stakeholder."
von Michael Mengel
Agile Leadership spielt dabei eine wichtige Rolle, insofern es eine Veränderung der Arbeitsweisen von verschiedenen Rollen mit sich bringt. In klassischen Behördenstrukturen ist es oftmals so, dass Hierarchieinstanzen, Sicherheitsentscheider vorgeben, ob wir rechts- oder linksherum gehen. Viele Behörden sind davon geprägt, dass Entscheidungen auf allerhöchster Ebene getroffen werden. Das skaliert aus meiner Sicht nicht, und so erfüllen wir als Behörde auch nicht die Erwartungshaltung der Politik, schnelle und gute Lösungen zu schaffen. Wir müssen versuchen, das Prinzip des Agile Leadership in so vielen Köpfen wie möglich zu verankern und zu leben. Nur dann kann man auch viele Dinge schaffen. Dafür gilt es, ein neues Verständnis zu erzeugen. Wenn man Entscheidern, die bis dato Entscheidungen getroffen haben, mitteilt, dass für sie diese Rolle im Projekt jetzt entfällt, dann muss man natürlich auch einen Ersatz bieten. Dabei kann im modernen Projektmanagement das Instrumentarium des Stakeholdermanagements helfen. Aus Entscheidern in der klassischen Welt werden in einer agilen Welt Stakeholder, die gebührend miteinbezogen werden. Ich persönlich habe es noch nicht erlebt, dass eine Führungskraft nicht mitmacht, wenn man das beim Etablieren von Agile Leadership in Behörden gleich berücksichtigt. Das ist meine Erfahrung im Agile Leadership.
msg: Vielen Dank, dass Sie Ihre Agile-Leadership-Erfahrungen mit uns geteilt haben!
1 Schwaber, Ken & Jeff Sutherland: SCRUM Guide (2020). https://scrumguides.org/docs/scrumguide/v2020/2020-Scrum-Guide-US.pdf (abgerufen am 06.10.2021).
2 Hegele-Raih, Cornelia: Was ist Leadership? In: Harvard Business Manager Magazin. https://www.manager-magazin.de/harvard/fuehrung/was-ist-leadership-a-dd27207d-9b5b-40ff-84fb-cc199419507c (abgerufen am 06.10.2021).
3 Kotter, John P.: Management Is (Still) Not Leadership: In: Harvard Business Review. https://hbr.org/2013/01/management-is-still-not-leadership (abgerufen am 06.10.2021).
4 Lenz, Ulrich: Coaching im Kontext der VUCA Welt, der Umbruch steht bevor. In: Resilienz für die VUCA Welt, hrsg. von Jutta Heller, 2019, S. 49–68. https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-21044-1.pdf (abgerufen am 06.10.2021).