Zuerst erschienen in der Ausgabe 02-2019
von Dr. Andreas Zamperoni
Ein Plädoyer für eine technisch kompetentere, globale Basis für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Gesetzgebung von digitalen Angeboten.
Erinnern Sie sich an das ungläubige Erstaunen der Erbauer des Jurassic Parc, als sie mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass sich die geklonte Dinosaurier-Population vermehrt hatte, obwohl sie nur aus Weibchen bestand? Dr. Ian Malcolm (Jeff Goldblum) lieferte damals die lakonische, apodiktische Erklärung: „Das Leben findet einen Weg“.1
Gesetzgebungsinitiativen, wie die DSGVO und die EU-Urheberrechtsreform, oder die Diskussion zum Einsatz von Uploadfiltern sind der oft unzulängliche Versuch der nationalen oder europäischen Gesetzgeber, den durch die Ubiquität des Internets und der digitalen Transformation erzeugten technischen Realitäten ein gesellschaftliches „Gehege“ entgegenzusetzen.
Um jedoch durch nachhaltige, tatsächlich funktionierende Regeln (Gesetze) ein respektvolles und rechtskonformes Zusammenleben zu entwickeln, braucht es bei den Verantwortlichen oder den sich verantwortlich Fühlenden viel mehr (beziehungsweise überhaupt!) technische Kompetenz und einen über nationalstaatliche Grenzen hinausgehenden, globalen gemeinschaftlichen Willen.
Einige aktuelle und historische Beispiele unterschiedlicher Tragweite verdeutlichen diese Forderung nach technischer Kompetenz und globalem Blick. Sie alle machen den krassen Gegensatz zwischen dem langwierigen und häufig wenig wirksamen Weg zur Justiziabilität digitaler Angebote und deren einfacher „commodityhaften“ Verfügbarkeit deutlich.
Illegaler Download von Multimedia: Schon 1999 war Napster ein frühes Beispiel für diese Dichotomie: Während auf der legislativen Bühne dieser „innovative“ Anbieter öffentlich hingerichtet wurde – aber immerhin eine Revolution in der Musikindustrie und spätere legale Angebote wie zum Beispiel iTunes bewirkte –, spielte hinter der Bühne im Wortsinne die Gratismusik über Netzwerke wie eMule/eDonkey2000, Fasttrack/Kazaa oder bittorrent2 ungestört weiter. Während Napster 2001 seinen Betrieb einstellte, war eDonkey noch bis 2006 aktiv.
Blitzerwarner-Apps: Wer Strafzettel für Geschwindigkeitsübertretungen vermeiden will, findet im Netz leistungsfähige Blitzerwarner-Apps. Sind sie, im Auto genutzt, ein verbotenes „technisches Gerät, das dafür bestimmt ist, Verkehrsüberwachungsmaßnahmen anzuzeigen“3? Oder sind die ausgetauschten Warnmeldungen einer Teilnahme an einem sozialen Netzwerk gleichzusetzen – ganz so wie die von Höreranrufen gespeisten Warnmeldungen im lokalen Radiosender? Mehrere Gerichtsurteile interpretieren Ersteres, aber ein oberstes Grundsatzurteil steht noch aus.
Landesspezifische Online-Abo-Angebote: Kann die Lieblingsserie auf Netflix oder das Musikvideo auf YouTube aufgrund landesspezifischer Lizenz- und Abo-Modelle in Deutschland nicht angesehen werden, kann man für (sehr) kleines Geld auf leistungsstarke vpn-Dienste zurückgreifen. Sie umgehen in der Regel die eingesetzte IP-Adressfilterung und gaukeln dem Streaminganbieter die passende nationale Identität vor. Und vielleicht steht der vpn-Server, mit dessen Hilfe man wie ein U-Boot als „Amerikaner“ vor der „Küste Hollywoods“ auftaucht, sogar in derselben Amazon- Cloud wie die Netflix-Server, über den man gerade die Serie streamt4. Diese Nutzung stellt in der Regel „nur“ den Verstoß eines zahlenden Kunden gegen die AGB des Streaminganbieters dar, nicht aber das „Umgehen einer wirksamen Schutzmaßnahme des Streaming- Anbieters“, also keine Urheberrechtsverletzung oder Straftat.
Dazu kommt noch, dass viele vpn-Dienste – legal – keine Verbindungsdaten speichern und damit einfach ein weiteres Gesetz des Digitalisierungszeitalters, die Vorratsdatenspeicherung, aushebeln. vpn-Dienste trennen automatisch den Internetanschluss des Nutzers in der Millisekunde, in dem die vpn-Verbindung abbricht und der Nutzer damit für seinen deutschen Internetprovider mit verpflichteter Vorratsdatenspeicherung sichtbar wird.
(Automatische) Filterung anstosiger Inhalte: Obwohl das Attentätervideo von Christ Church bei Facebook schon längst manuell – denn Facebooks KI griff aufgrund fehlender geeigneter Trainingsdaten für eine automatische Löschung nicht5 – gelöscht wurde, lässt sich das Video nach wie vor auf etlichen Videoplattformen finden. Diese verbreiten hinter den öffentlich diskutierten und „gesellschaftlichen überwachten“ Kulissen von YouTube oder Facebook ungestört, ungehindert, unkontrolliert und ungefiltert auch die extremsten Inhalte.
Wenn man den Betreibern einer solchen Plattform habhaft werden kann6, zieht die Plattform in ein anderes Land um – oder die „Karawane“ weiter zu einem anderen Voyeurismus-Zuhälter.
Rassistische, volksverhetzende Foren: Die oben beschriebene Commodity vpn-Dienst funktioniert natürlich auch für die Teilnahmen an in Deutschland aus moralischen oder juristischen Gründen zu Recht gesperrten Foren rechter Hetze, Gewalt oder Kinderpornografie. Auch hier gilt: Vor der Bühne wird sich – letztlich doch nur werbewirksam – über die Mainstream- Stars Facebook, Twitter oder YouTube ereifert. Hinter der Bühne der öffentlichen Aufregung und der politischen Bemühungen zur Beherrschung bedienen Plattformen wie „4chan“ oder „8chan“ extremste Gesinnungen – und das ironischerweise in Ländern mit höchsten moralischen Ansprüchen (z. B. USA7, Philippinen8) betrieben.
(Automatische) Kommunikationsuberwachung: Dass Terroristen über die Chatnetzwerke von Spielekonsolen (z.B. das Playstation Network PSN) oder über Ingame-Chats ungestört kommunizieren, mag nur filmische Realität sein.9 Dass eine solche Kommunikation noch nicht nachgewiesen werden konnte, könnte natürlich auch schon der Proof of Concept sein. Geht man noch einen kreativen Schritt auf dem „Das Leben findet einen Weg“ weiter, lassen sich in Multiplayer- Onlinespielen Botschaften auch über Münzen (im Nintendo-Spiel „Super Mario Maker“) buchstabieren oder (im Shooter „Call of Duty“) auf die Wand schießen.10 Auch wenn Letzteres zunächst bizarr anmutet – es dient sehr augenscheinlich dazu, die Grenzen einer KI-basierten digitalen Kommunikationsüberwachung aufzuzeigen.
Diese Beispiele zeigen, dass sich ein Schutz unserer tradierten und erhaltenswerten Rechte- und Wertesysteme nicht auf der Ebene des Internets mit seinen weltweiten Plattformen, Infrastrukturen und technischen Commodities erzielen lässt. Es würde ja auch niemand auf die Idee kommen, die Deutsche Bahn und den ÖPNV zu verpflichten, dass in ihnen keine Raubkopien oder chinesische Plagiate oder gar Bankräuber befördert werden.
Hinzu kommt erschwerend, dass die traditionelle Hierarchie von Macht und Aufmerksamkeit – Politik und Medien, Wirtschaft und Konzerne, Bürger und Verbraucher – im Internet nicht existiert. Es herrscht die totale Demokratisierung der Vierten Gewalt. Im Internet kann sich jeder sofort und weltweit mit jeder Meinung Gehör verschaffen und sich verwirklichen, wie das Rezo-Wahlkampf- Video11 eindrucksvoll beweist. Wie im Ersten Weltkrieg, stehen wir – diesmal friedlich? – wieder an einem Punkt, an dem uns die technischen Möglichkeiten gesellschaftlich, politisch und moralisch überfordern. Vieles ist möglich, wenig scheint regelbar.
Vor 100 Jahren wurde mit dem Völkerbund – leider auch ein anachronistisches Beispiel – in einer Weltgemeinschaft der Entscheider ein gesellschaftlich-politischer Weg gefunden, dieser Überforderung nachhaltig zu begegnen. Damals wurde zum Beispiel mit der tatsächlichen dauerhaften Ächtung des Einsatzes chemischer Waffen gezeigt, dass eine Gesellschaft sich gleichzeitig technisch und moralisch weiterentwickeln kann – zumindest eine Zeit lang, bis zur nächsten Katastrophe.
Und heute? Welches weltweite gesellschaftlich-politische Gremium könnte heute, im Erkennen und Verstehen der globalen technischen Realitäten, den Weg zu einer aufgeklärten Weiterentwicklung der Weltgemeinschaft, die wir im digitalen Raum geworden sind, anführen? Bitte möglichst noch vor der Schockwirkung durch eine globale Katastrophe wie vor 100 Jahren…
Quellenverzeichnis:
1 (abgerufen am 05.07.2019).
2 https://www.heise.de/newsticker/meldung/Edonkey-ueberholt-Kazaa-in-der-Nutzergunst-108316.html und https://www.heise.de/newsticker/meldung/eDonkey-Betreiber-wirft-endgueltig-das-Handtuch-161800.html § 23 Abs. 1c der StVO (abgerufen am 05.07.2019).
3 § 23 Abs. 1c der StVO
4 https://aws.amazon.com/de/solutions/case-studies/netflix/ (abgerufen am 05.07.2019).
5 https://www.heise.de/newsticker/meldung/Facebook-Kuenstliche-Intelligenz-erkannte-Christchurch-Video-nicht-4341396.html (abgerufen am 05.07.2019).
6 https://www.vice.com/de/article/gv5a97/hinter-den-kulissen-von-bestgorecom-der-schrecklichsten-website-der-welt-166 (abgerufen am 05.07.2019).
7 https://www.vice.com/de/article/mg78ex/das-ist-der-mann-der-die-jauchegrube-des-internets-am-leben-haelt-444 (abgerufen am 05.07.2019).
8 https://www.morgenpost.de/politik/article214145197/Wenn-der-philippinische-Praesident-toeten-laesst-ohne-Prozess.html (abgerufen am 05.07.2019).
9 https://www.wr.de/leben/digital/vorbild-jack-ryan-nutzen-terroristen-playstation-chats-id215448781.html (abgerufen am 05.07.2019).
10 https://www.stern.de/digital/online/paris--warum-terroristen-anschlaege-mit-der-playstation-4-planen-6558062.html (abgerufen am 05.07.2019).
11 (abgerufen am 05.07.2019).