Rechtliche Verankerung barrierefreier Informationstechnik und deren Umsetzung
Zuerst erschienen in der .public Ausgabe 02/2023
von Peter Sörgel und Dr. Johannes Wolf
Gut gestaltete digitale Anwendungen sind für alle Mitglieder der Gesellschaft wichtig. Für Menschen mit dauerhaften Beeinträchtigungen müssen alle wichtigen Angebote selbstständig nutzbar sein und auch bei einer vorübergehenden Einschränkung soll die Teilnahme am täglichen Leben möglichst leichtfallen. Manche werden sich der Problemfelder in der digitalen Welt erst bewusst, wenn sie selbst betroffen sind, weil beispielsweise wegen eines gebrochenen Arms die Computermaus nicht bedient werden kann und auf Tastatursteuerung ausgewichen werden muss.
Welche Anforderungen an eine barrierefreie Nutzung gestellt werden und welche Vorgaben im öffentlichen und privatwirtschaftlichen Sektor zwingend eingehalten werden müssen, ist in einer Vielzahl von Gesetzen und Regelwerken festgeschrieben. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die rechtliche Stellung barrierefreier Informationstechnik und beginnt dafür bei der grundlegendsten globalen Verankerung: den UN-Menschenrechten.
Wer Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) produziert und sie nicht barrierefrei gestaltet, verstößt gegen die Menschenrechte.
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Barrierefreiheit als UN-Menschenrecht
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), auch bekannt als UN-Menschenrechtscharta, beschreibt die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Grundsätze der Menschenrechte.1
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Erklärung wurden inzwischen weitere Menschenrechtsabkommen in Kraft gesetzt. Darunter befindet sich auch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz „Behindertenrechtskonvention“ UN-BRK)2 aus dem Jahr 2006. Im Gegensatz zur AEMR, die eine rechtlich nicht bindende Resolution der UN-Generalversammlung ist, wurde die BRK in vielen Ländern der Welt durch Ratifikationen völkerrechtlich verbindlich. So unter anderem in Deutschland (2009) und in der gesamten EU (2010).
Durch die BRK fand ein Paradigmenwechsel von einem medizinisch defizitären Verständnis von Behinderung (Erkrankung, Heilung und Rehabilitation im Vordergrund) hin zur Betrachtung von Beeinträchtigungen statt. Diese machen es für die gleichberechtigte Teilhabe von Betroffenen an der Gesellschaft notwendig, Barrieren zu beseitigen oder zumindest zu reduzieren.
Barrierefreiheit bezeichnet die Zugänglichkeit von Umgebungen und Produkten für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und wird in verschiedenen Bereichen unseres Lebens durch Gesetze, Richtlinien, Normen und Verordnungen geregelt. Betroffene Bereiche unseres Alltags sind beispielsweise der ÖPNV, Kultur und Freizeit, Wohnen, Bildung und Beruf sowie auch die Nutzung digitaler Angebote.
Digitale Barrierefreiheit umfasst speziell die Anforderungen, Kriterien, Praktiken und Techniken für Inhalte bei Informationsund Kommunikationstechnik (IKT) wie Websites oder mobile Anwendungen. Unter anderem wird darauf geachtet, Inhalte semantisch zu gliedern (Überschriften, Absätze und Ähnliches), damit sie auch bei der Nutzung von Screenreadern leicht aufzunehmen und zu navigieren sind oder Abschnitte übersprungen werden können. Zudem müssen unter anderem Kontraste und Schriftgrößen wohlgewählt sein und für auditive Inhalte bedarf es Transkriptionen.
Menschen mit Behinderungen müssen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Dafür müssen Barrieren beseitigt oder zumindest reduziert werden. |
Auf digitale Barrierefreiheit wird in Artikel 9 (Zugänglichkeit) der Konvention eingegangen: „Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, […] den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation […] zu gewährleisten. Diese Maßnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren einschließen, gelten unter anderem für […] Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.“
Barrierefreiheit im europäischen Recht
Der Europarat hat 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedet. Alle 46 Mitgliedsstaaten (darunter auch alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union) verpflichten sich, die darin festgelegten Menschenrechte und Grundfreiheiten „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ zuzusichern.3 Die Verantwortung ist damit auf Personen bezogen und erstreckt sich über die jeweiligen Staatsgebiete hinaus. Die Konvention regelt unter anderem auch die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Barrierefreiheit wird in der EMRK nicht adressiert, sie kann aber als Grundlage und Treiber für die weiteren europäischen Richtlinien und Gesetze in Bezug auf Barrierefreiheit betrachtet werden.
Ein Meilenstein in der EU-weiten Regelung digitaler Barrierefreiheit ist die 2016 verabschiedete Richtlinie 2016/2102 („Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen“)4, mit der die verschiedenen Vorschriften der einzelnen Mitgliedsländer angeglichen und auf einen gemeinsamen Standard gehoben wurden. Es wird darin festgehalten, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, „dass öffentliche Stellen die erforderlichen Maßnahmen treffen, um ihre Websites und mobilen Anwendungen besser zugänglich zu machen, indem sie sie wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestalten“.
Die konkreten Anforderungen für diese Zugänglichkeit werden in der Norm EN 301 549 („Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen“)5 festgehalten. Für Websites ist es zum Beispiel notwendig, mindestens den Anforderungen an Level AA der WCAG 2.16 zu entsprechen. Neben den Anforderungen an Websites werden auch die Anforderungen an Nicht-Web- Dokumente, Software allgemein und Dokumentation definiert.
In der EU wird digitale Barrierefreiheit nicht nur für Behörden vorgeschrieben. Auch etwa Verkehrsunternehmen, Banken oder Smartphone-Hersteller müssen die Nutzbarkeit für Menschen mit Behinderungen sicherstellen.
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Im Gegensatz zu obiger Richtlinie, die nur Vorschriften für öffentliche Stellen enthält, greift die Richtlinie 2019/882 („Richtlinie über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen“, auch bekannt als „European Accessibility Act“)7, weiter. Sie findet unter anderem Anwendung auf Computer und Smartphones sowie deren Betriebssysteme, auf elektronischen Geschäftsverkehr, auf Selbstbedienungsterminals wie Geld- und Fahrkartenautomaten, auf E-Books und deren Lesegeräte und die europäische Notrufnummer 112.
Abb.1: Zusammenhänge zwischen rechtlichen Vorgaben und Standards auf UN-, EU- und deutscher Ebene
Gefordert wird hier eine Gewährleistung der Mitgliedsstaaten, „dass die Wirtschaftsakteure nur Produkte in Verkehr bringen und nur Dienstleistungen erbringen, die die Barrierefreiheitsanforderungen in Anhang I erfüllen“.8
Regelungen zur Barrierefreiheit in Deutschland
Auf Basis der UN-BRK hat die Bundesrepublik Deutschland 2011 den „Nationalen Aktionsplan“ (NAP) verabschiedet, der 2016 als NAP 2.09 noch einmal neu aufgelegt wurde. Darin enthalten sind 175 Maßnahmen wie „Gebärdentelefon bei der Bundesagentur für Arbeit“, „Inklusiver Unterricht an deutschen Auslandsschulen“ und „Beratung zur behindertengerechten Gestaltung der häuslichen Umgebung“, damit „Inklusion als in allen Lebensbereichen zu berücksichtigendes Prinzip Einzug hält.“ Barrierefreiheit wird als zentrales Thema wiederholt aufgegriffen, so unter anderem in Bezug auf Wohnraum, das Gesundheitswesen, den Personenverkehr und in Unternehmen.
Bestandteil des NAP 2.0 ist die bereits erfolgte Novellierung des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG).10 Das BGG legt beispielsweise fest, dass öffentliche Stellen des Bundes für Websites und mobile Anwendungen Erklärungen vorlegen müssen, die bei unvollständiger Barrierefreiheit eine Begründung beinhalten. Zudem müssen in der Erklärung barrierefreie Wege zur Kontaktaufnahme für die Meldung weiterer bestehender Barrieren gegeben sein. Auch für die Beschäftigten bestimmte Anwendungen im Intranet und die „elektronisch unterstützten Verwaltungsabläufe, einschließlich ihrer Verfahren zur elektronischen Vorgangsbearbeitung und elektronischen Aktenführung“ müssen barrierefrei gestaltet sein.11
Auch im NAP 2.0 festgehalten ist die Überarbeitung der Barrierefreie- Informationstechnik-Verordnung (BITV)12, die jetzt als BITV 2.0 vorliegt. Diese entspricht der Umsetzung der oben beschriebenen Richtlinie 2016/2102 beziehungsweise der EN 301 549 in nationales Recht, wodurch ein Übergang von der ursprünglichen deutschen Individuallösung der ersten BITV zu einer europäischen Standardisierung vollzogen wurde. Mindestanforderungen an digitale Inhalte öffentlicher Stellen sind seitdem erstmals europaweit gleich.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)13 ist die deutsche Umsetzung der Richtlinie 2019/882. Damit werden nun auch Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen der oben beschriebenen Bereiche anbieten, in die Pflicht genommen, ihre Angebote bis spätestens 2030 barrierefrei zu gestalten. Ausgenommen davon sind lediglich Kleinstunternehmen. In Kombination mit der BITV soll damit zumindest für den überwiegenden Teil des öffentlichen digitalen Angebots in Deutschland digitale Barrierefreiheit erreicht werden.
Umsetzung in die Praxis
Für die Umsetzung in die Praxis spielen neben den rechtlichen Grundlagen mitunter auch weitere Standards und Vorgehen eine Rolle. In der EN 17161 („Design for All“)14 werden Anforderungen beschrieben, wie Produkte, Waren und Dienstleistungen entworfen, entwickelt und ausgeliefert werden können, um dem breitestmöglichen Kreis von Benutzerinnen und Benutzern zu genügen. Dafür werden Empfehlungen gegeben, wie unterschiedliche Bedürfnisse, Fähigkeiten und Präferenzen durch direkte oder indirekte Einbeziehung von Benutzerinnen und Benutzern Einfluss finden und wie die Interoperabilität mit Assistenztechnologien gefördert werden kann. Im Gegensatz zu konkreten Anforderungen wie bei den WCAG wird hier aber keine technische Spezifikation vorgegeben. Die beschriebenen Aktivitäten beziehen sich stattdessen auf das Prozessmanagement; die enthaltenen Checklisten können während der Produktgestaltung und -entwicklung eingesetzt werden.
In direktem Zusammenhang kann auch die zurzeit aus über 50 Teilen bestehende Normenreihe ISO 9241 („Ergonomie der Mensch-System-Interaktion“)15 betrachtet werden. Sie dient in der EU-Rechtsprechung als Standard zur Bewertung von Benutzerfreundlichkeit. Ziel der Richtlinie ist es, durch geeignete Umsetzung von Systemen die Benutzung und Ausführung von Aufgaben zu erleichtern sowie gesundheitliche Schäden zu vermeiden. Bestandteile des Standards sind zum Beispiel „Benutzerführung“, „Interaktionsprinzipien“, „Grundsätze der Informationsdarstellung“ und „Leitlinien für die Zugänglichkeit von Software“.
Auf Grundlage dieser Standards können bei der Neuentwicklung und Anpassung von Softwaresystemen konkrete Maßnahmen zur Sicherstellung der Barrierefreiheit im Rahmen der nichtfunktionalen Anforderungen definiert werden. Für die Beratung zur Umsetzung der Barrierefreiheit bei der Entwicklung und Optimierung von digitalen Produkten sowie für die Durchführung von Tests, die die Konformität mit europäischen Normen prüfen, gibt es vielfältige Angebote. Beispielsweise bietet der Inklusionsbetrieb msg BiN (Barrierefrei im Netz)16 ein umfassendes Portfolio für die Optimierung von Anwendungen und setzt bei der Testdurchführung auf die langjährige Erfahrung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen.
Unser Alltag wird von Jahr zu Jahr stärker durch digitale Angebote geprägt. Nur wenn diese barrierefrei gestaltet sind, können sie von der gesamten Bevölkerung genutzt werden und schließen niemanden aus. Websites barrierefrei zu gestalten ist genauso wichtig, wie ebenerdige Einstiege für Straßenbahnen zu schaffen. Egal ob ich dauerhaft in der Bewegung meiner Arme eingeschränkt bin, kein Hörvermögen besitze oder im Alter nicht mehr so gut sehen kann – Barrierefreiheit ist im digitalen Raum eine essenzielle Anforderung, die immer mitgedacht werden muss. Digitale Barrierefreiheit als grundsätzliches Menschenrecht zu verstehen und ausnahmslos umzusetzen, ist der richtige Weg, um niemanden mit körperlichen Einschränkungen daran zu hindern, vollwertig am Alltag teilzunehmen.
Quellen
1 Praetor Verlagsgesellschaft: Geschichte der UN-Menschenrechtserklärung, www.menschenrechtserklaerung.de (abgerufen am 08.12.2022).
2 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen: UN-Behindertenrechtskonvention (amtliche Übersetzung), www.behindertenbeauftragter.de (abgerufen am 09.12.2022).
3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Artikel 1, dejure.org (abgerufen am 23.12.2022).
4 Europäische Union: Richtlinie 2016/2102, eur-lex.europa.eu (abgerufen am 23.12.2022).
5 ETSI: EN 301 549, etsi.org (abgerufen am 23.12.2022). Eine deutsche Übersetzung kann nach Registrierung bei der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (https://www.bfit-bund.de) heruntergeladen werden.
6 W3C: W3C Web Content Accessibility Guidelines, www.w3.org (abgerufen am 23.12.2022).
7 Europäische Union: Richtlinie 2019/882, eur-lex.europa.eu (abgerufen am 23.12.2022).
8 ebenda, Artikel 4 Absatz 1.
9 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Nationaler Aktionsplan 2.0, www.bmas.de (abgerufen am 23.12.2022).
10 Bundesministerium der Justiz: Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, www.gesetze-im-internet.de (abgerufen am 23.12.2022).
11 ebenda, § 12a (1).
12 Bundesministerium der Justiz: Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz, www.gesetze-im-internet.de (abgerufen am 06.01.2023).
13 Bundesgesetzblatt: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, www.bgbl.de (abgerufen am 23.12.2022).
14 DIN: EN 17161, www.beuth.de (abgerufen am 05.01.2023).
15 ISO: Normenreihe ISO 9241, www.iso.org (abgerufen am 05.01.2023).
16 msg BiN: Webseite, www.msg.group/barrierefrei-im-netz (abgerufen am 05.01.2023).