Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 02-2019
von Helmut Lämmermeier
Zur Umsetzung des Online-Zugangsverbesserungsgesetzes (OZG) sprach Helmut Lämmermeier mit Christian Pfromm, Chief Digital Officer der Freien Hansestadt Hamburg.
msg: Das OZG wird allgemein als Treiber für die Digitalisierungsvorhaben in der Öffentlichen Verwaltung gesehen. Teilen Sie diese Einschätzung, und ist das OZG hierfür ausreichend?
Pfromm: Ich teile diese Einschätzung, allerdings mit ein paar Einschränkungen. Das OZG schafft die notwendigen Voraussetzungen, um Verwaltungsdienstleistungen zu digitalisieren, also vom Formularwesen wegzukommen, Bearbeitungszeiten zu verkürzen und schlicht die Komplexität für die Bürgerinnen und Bürger deutlich zu verringern. Dadurch lassen sich Dienstleistungen der Verwaltung künftig genauso unkompliziert in Anspruch nehmen wie heute bereits die Dienste von Banken und Versicherungen oder des Onlinehandels. Es ist gut, dass die Umsetzung föderal organisiert ist. Hier braucht es natürlich ein wenig Zeit, um in Schwung zu kommen und Drehmoment aufzubauen, weil 16 Länder zu koordinieren, Arbeitsgebiete aufzuteilen und die Übertragbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen sind. Denn am Ende entwickelt ein Bundesland sein jeweiliges Themenfeld nicht nur für sich, sondern so, dass auch andere Länder die Anwendungen nutzen können. Die im Prinzip sinnvolle Aufteilung in Themenfelder und Lebenslagen ist allerdings nicht immer frei von Problemen. Ein Beispiel: In Hamburg ist uns aus verschiedenen Gründen das Thema „Meldung von Asbest“ wichtig. Das liegt aber nicht in unserem Thermenfeld „Unternehmensführung und -entwicklung“, sondern fällt unter „Arbeitsschutz“ und liegt damit in der Verantwortung eines anderen Bundeslandes. Dieses Land könnte jetzt sagen: Schön, dass Hamburg das machen will, lehnen wir uns zurück. Wenn die Umsetzung des OZG jetzt konkret wird, ist das mehr als ein Detail.
msg: Also führt die föderale Aufteilung der Arbeitsgebiete zu Problemen?
Pfromm: Nein, ich meine: Grundsätzlich ist der Föderalismus die Lösung, nicht das Problem. Zentralistisch organisierte Volkswirtschaften mit vergleichbarer Reife und Größe sind nicht besser. Mit der föderalen Organisation gibt es gewisse Anlaufhürden, die wir gerade überwinden. Aber dann führt sie zu einer schellen Verbreitung der digitalisierten Services.
msg: Wo sehen Sie dann die Einschränkung hinsichtlich der Bedeutung des OZG für die Digitalisierung der Verwaltung?
Pfromm: Mein kleines „Ja, aber“ zum OZG als Treiber der Verwaltungsdigitalisierung richtet sich darauf, dass in der OZG-Umsetzung das Frontend, die Schnittstelle zu Bürgern und Unter nehmen, im Vordergrund steht. Digitalisierung bedeutet aber auch, dass Behörden anders miteinander arbeiten. Beim Thema Kindergeld zum Beispiel haben wir fünf Behördenschnittstellen. Um Komplexität zu verringern, müssen wir erreichen, dass Bürger Behörden ermächtigen können, Daten miteinander auszutauschen. Erst dann haben wir horizontale Integration. Das ist alles andere als Frontend, das ist sozusagen Backoffice-Arbeit. Aber das lässt sich auf der kommunalen beziehungsweise Landesebene allein nicht regeln. Hier muss der Bund handeln, insbesondere hinsichtlich der noch nötigen rechtlichen Anpassungen. Zum Beispiel muss das Schriftformerfordernis aufgehoben werden. Und wir brauchen die Umsetzung von Empfehlungen des Normenkontrollrats zur Melderegistermodernisierung – und noch einiges mehr.
msg: Wie schätzen Sie die Vorgehensweise zur Umsetzung des OZG ein? Ist damit alles Notwendige auf den Weg gebracht?
Pfromm: Die Fach- und Themenfeldlabore sind eine sehr gute Idee. Beispielsweise wurde das Thema Sondernutzungen – also wenn etwa eine Eisdiele eine Außenbestuhlung einrichten möchte oder ein Container für einen Abriss aufgestellt werden muss – im Digitalisierungslabor ganz pragmatisch im Sinne einer einfachen Lösung bearbeitet. Und zwar in einer Art und Weise, die auch auf andere Länder beziehungsweise Städte übertragen werden kann. Wir merken, dass die neuen Methoden, die dabei eingesetzt werden – Design Thinking, Scrum etc. – erheblichen Erfolg bringen. Natürlich muss man berücksichtigen, dass das, was dabei herauskommt, „minimal viable products“ sind. Also erste minimal funktionsfähige Versionen, ein erster Schritt in die Thematik. Nachfolgeinvestitionen sind nötig, um den Funktionsumfang zu erweitern. Aber unterm Strich ist das der richtige Weg.
msg: Funktionieren die Digitalisierungslabore aus Ihrer Sicht, und sind alle betroffenen Parteien gleichberechtigt eingebunden?
Pfromm: Aus unseren Hamburger Erfahrungen kann ich sagen, dass die Digitalisierungslabore sehr gut funktionieren. Ob die richtigen Teilnehmer dabei sind und wie diese dann eingebunden werden, liegt in der Verantwortung der Themenfeldverantwortlichen. Hier nehme ich ein hohes Verantwortungsbewusstsein wahr. Und nach allem, was ich aus anderen Ländern höre, funktioniert das auch.
msg: Was waren die Erfolgsfaktoren für Hamburg?
Pfromm: Wir haben uns im Themenfeld Unternehmensführung und -entwicklung breit aufgestellt. Das heißt, neben unserer Fachexpertise aus den lokalen Behörden haben wir auch eine kleine Kommune integriert sowie Vertreter aus Bundesministerien und natürlich auch aus Unternehmen und Handwerk, die ganz konkret mit den Verfahren arbeiten. Auch das Zusammenspiel zwischen Verwaltungsvertretern und externen Beratern ist ein Erfolgsfaktor und hat in unserem Fall gut funktioniert. Und manchmal ist es eine Frage der Chemie – Projektmanagement ist ja immer auch People-Management.
msg: Sind die Ergebnisse, die die Digitalisierungslabore liefern, für Sie als Umsetzungsverantwortlichen in Hamburg hilfreich und ausreichend?
Pfromm: Bisher konnten wir die Übertragbarkeit von Ergebnissen aus anderen Bundesländern noch nicht testen. Daher habe ich noch keine Erfahrung, aber damit werden wir uns bald beschäftigen. In Vorbereitung dessen spreche ich gern von einer „Beweislastumkehr“ – nicht im juristischen Sinne natürlich. Vielmehr stellen wir uns die Frage: „Was müssen wir tun, damit diese Lösung auch bei uns anwendbar ist?“ Das bedeutet auch, gegebenenfalls die lokale Rechtsetzung anzupassen.
msg: Was braucht es noch, damit die Umsetzung des OZG ein Erfolg wird?
Pfromm: Meines Erachtens benötigen wir noch ein erweitertes Repository, das jederzeit zeigt, wer woran in welchem Status arbeitet. Und wir sollten „Lessons Learned“ etablieren. Darüber hinaus müssen noch weitere Interessengruppen eingebunden werden, die bisher an der Entwicklung gar nicht oder nur indirekt beteiligt sind, beispielsweise Kammern, Personalräte, Datenschutzbeauftragte. Selbst wenn ein Bundesland alles richtig macht, die richtigen Anspruchsgruppen involviert, die technische und methodische Übertragbarkeit sichergestellt hat, und selbst wenn dann die regionale Rechtsetzung angepasst wird, kann am Ende immer noch der Datenschutz ein Veto einlegen. Wir brauchen also einen Mechanismus, mit dem wir auch auf diesen Ebenen eine stetige und professionelle Kommunikation etablieren, damit es die Verwaltungsdienstleistungen über die Ländergrenzen schaffen.
msg: Konnten Sie schon auf Ergebnissen aufsetzen, und wie gehen Sie damit um?
Pfromm: Wir haben in Norddeutschland einige hilfreiche Rahmenbedingungen, die manches beschleunigen. So gibt es in Hamburg bereits eine Plattform für Bürgerservices, die wir „Digital First“ nennen. Diese Plattform ist seit Anfang dieses Jahres online und bietet bereits erste Services an. Das sind teils neue, teils solche, die aus Vorgängertechnologien migriert wurden bzw. werden. Außerdem haben wir mit dem IT-Dienstleister Dataport eine Sechs-Länder-Anstalt, getragen von Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und in Teilen Niedersachsen. Hier gibt es also bereits eine gemeinsame Infrastruktur und damit auch wechselseitige Kompatibilität. Über die Plattform stellt Hamburg den anderen Ländern im Verbund auch „Digital First“ zur Verfügung. Deshalb wird bei uns im Norden das OZG schneller bei den Menschen ankommen, als in anderen Teilen Deutschlands. Was Hamburg entwickelt, ist schnell bei den anderen fünf, und umgekehrt. Darüber hinaus haben wir seit Oktober letzten Jahres den Vorsitz in der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) und engagieren uns dort für verschiedene Digitalisierungsthemen, etwa für den vereinfachten Zugang zu digitalen Leistungen, Stichwort: Authentifizierung.
msg: Bekommt die Digitalisierung in der MPK jetzt angemessen Raum und Zeit?
Pfromm: Wir nutzen den Vorsitz in der MPK, um die aus unserer Sicht relevanten Themen für die Weiterentwicklung des Rechts in der digitalen Welt auf die Tagesordnung zu setzen. Wenn sich die Länder dann, wie in diesem Fall, einig sind, ist das ein klarer Auftrag an das Kanzleramt und an die Bundesministerien, sich des Themas anzunehmen. In Hamburg haben wir beispielsweise in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit, einigen Bundesministerien sowie mehreren Kliniken das Pilotprojekt „Kinderleicht zum Kindergeld“ umgesetzt. Zur Geburt eines Kindes muss man nur noch ein einziges dreiseitiges Formular ausfüllen, alles Weitere organisieren die Verwaltungsinstitutionen untereinander. Eine große Erleichterung für die Bürgerinnen und Bürger. Das ist exakt die Blaupause, die wir brauchen, um daraus die nötigen Änderungen in der Rechtsetzung abzuleiten, etwa im Standesrecht.
msg: Der gesetzliche Auftrag des OZG ist also nur ein Teil der Verwaltungsdigitalisierung?
Pfromm: Genau. Das OZG ist eigentlich nur Frontend, aber Digitalisierung ist mehr als Frontend. Digitalisierung ist Transformation, eine ganz andere Art der Zusammenarbeit, neues Denken. Für Behörden ist das eine besondere Herausforderung, weil sie als Organisation immer 100 Prozent aller Fälle abdecken müssen. Bei der Digitalisierung müssen wir etwas bescheidener sein. Wenn wir einen Verwaltungsvorgang zu 75 Prozent digital organisieren können, haben wir viel erreicht. Diesen Pragmatismus lernt die Organisation gegenwärtig. Und dann wird es auch leichter, die Prozesse innerhalb der Organisation zu ändern.
msg: Existiert eine Facharchitektur für die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen, um OZG-Leistungen medienbruchfrei und durchgängig zu erbringen?
Pfromm: Aus meiner Sicht gibt es eine solche Architektur im Sinne einer Ende-zu-Ende-Betrachtung, horizontal wie auch vertikal, nicht. An ihr müssen wir arbeiten. Aber ich warne auch hier davor, es zu perfekt machen zu wollen. Es ist durchaus akzeptabel, wenn die Hundeanmeldung in Bundesland A anders funktioniert als in Bundesland B. Es wird auch künftig individuelle Lösungen geben und eine unterschiedliche, portalspezifische Benutzerführung, schon deshalb, weil nur die norddeutschen Länder mit unserer Digital-First-Plattform arbeiten werden. Das wird der Bürger nachvollziehen können und froh sein über digitale Services. Was die Architektur angeht, plädiere ich für einen gewissen Pragmatismus.
msg: Wie gehen Sie vor, um die Verwaltungsleistungen vom Antrag bis zum Bescheid online und digital durchgängig zu gestalten? Sie haben mit Digital First ihre technische Plattform, Sie haben aus dem Digitallabor einen Prozess beschrieben, mit einer Datenstruktur hinterlegt. Wie gehen Sie vor, um diesen Prozess zu implementieren?
Pfromm: Wir beginnen mit User Stories, das heißt, wir gehen ganz konkret vom Nutzer aus. Das können Bürgerinnen und Bürger sein oder Unternehmen, die in den Entwicklungsprozess eingebunden werden. Weil unsere Plattform skalierbar und modular ist, können wir einfach Komponenten hinzufügen. Am Anfang steht zunächst die kleine Lösung, ein noch nicht vollständiger Prozess, der in ein Release-Konzept eingebettet ist. Innerhalb von wenigen Monaten gibt es dann vier bis sechs Releases, bis wir dann einen Fachkontext vollständig abbilden. Das geht also Schritt für Schritt, ausgehend von der Nutzerperspektive.
msg: Und wie weit ist die Umsetzung? Der Prozess ist definiert, aber die Arbeit noch wie vorher? Oder ist das schon digitalisiert?
Pfromm: Derzeit haben wir eine Handvoll digitaler Prozesse und gefühlt 100 stationäre, klassische Formularprozesse, die sukzessive digitalisiert werden. Das Verhältnis wird sich langsam ändern. Wobei man auch klar sagen muss, „Digital first“ bedeutet ja auch, dass es die stationären Prozesse, den Gang ins Kundenzentrum, weiterhin geben wird. Aber der Anteil digitalisierter Prozesse steigt natürlich, und damit werden sie die Behördenorganisation immer stärker durchdringen.
msg: Und wie bekommt der zuständige Sachbearbeiter im Bezirk, oder, falls auch mehrere Behörden beteiligt sind, wie bekommen die Personen den digitalisierten Arbeitsauftrag auf den Tisch?
Pfromm: Das erfolgt über das jeweilige Fachverfahren. Das OZG betrifft, wie gesagt, primär das Frontend, den Zugang für Bürgerinnen und Bürger oder Unternehmen. Die Fachverfahren, die Backend-Systeme, sind über bestehende X-Standards der Verwaltung damit verbunden. In ihnen erfolgt, auch im Kundenzentrum, die Bearbeitung der Vorgänge.
msg: Ich möchte abschließend noch einmal auf das Thema Facharchitektur zurückkommen. Natürlich wäre es ideal, es gäbe eine gemeinsame, länderübergreifende Facharchitektur. Aber es kann auch mehrere geben. Die müssen dann nur tragfähig und übertragbar sein. Wenn Sie in Hamburg das Bild noch nicht vollständig definiert haben, haben Sie bei dem Schritt-für-Schritt- Vorgehen keine Sorge, dass es keine einheitliche Abbildung der Prozesse gibt?
Pfromm: In Hamburg haben wir eine Facharchitektur, die die Koexistenz von und den Datenaustausch zwischen den erweiterbaren Fachverfahren und der Plattform vorsieht. Die Zusammenarbeit ist über die Architektur gesichert. Und auch wenn die Behörden zukünftig anders, horizontal kooperieren, bleibt doch die Zusammenarbeit innerhalb einer Behörde fachspezifisch. Eine Sozialbehörde hat andere Kunden als eine Wirtschaftsbehörde. Letztere kümmert sich beispielsweise auf ministerieller Ebene um den Hafen und den Verkehr. Wie sich die Digitalisierung in den einzelnen Fachbehörden ausprägt, ist noch individuell zu klären. Wir moderieren, steuern und unterstützen aus der Senatskanzlei heraus Digitalisierungsstrategien und Change- Prozesse, aber die Antworten muss jedes Ressort für sich finden, vor allem in Bezug auf die horizontalen Beziehungen in der Verwaltung. Da kann es kein 500-seitiges Handbuch geben, in dem alles enthalten ist, weil die Anforderungen einfach zu unterschiedlich sind.
msg: Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben.
Pfromm: Ich danke Ihnen.