Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 04-2019
von Katayoun Wiesener-Rahimian
Die Erfolgskriterien fürstörungsfreie Wahlen in der Landeshauptstadt
Als der Münchner Stadtrat 2015 beschloss, die Geschäftsprozesse bei Wahlen in der Landeshauptstadt München unter anderem durch eine neue IT-Infrastruktur und neue IT-Systeme besser zu unterstützen, wurde der Grundstein zum Programm „Wahlagenda 2017“ gelegt. Die Landeshauptstadt München ist mit mehr als einer Million Wahlberechtigten die größte Wahlbehörde in Deutschland. Es werden mehr als zehn verschiedene Wahlarten wie beispielsweise Bundestags-, Landtags-, Kommunal-, Europawahlen, aber auch Volksentscheide durchgeführt. Nach der Wahl ist vor der Wahl! Ist eine Wahl beendet, beginnen oft bereits die Vorbereitungen für die nächste Wahl. Dies bedeutet für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wahlamtes hohe organisatorische und logistische Herausforderungen.
Das Programm „Wahlagenda 2017“ hat die bestehenden IT-Systeme und die Geschäftsprozesse des Wahlamtes unter die Lupe genommen und sich zum Ziel gesetzt, die Leistungsfähigkeit der IT in mehreren Projekten zu optimieren. Die Prozessanalyse ergab, dass nicht weniger als fünf IT-Systeme zum Teil neu entwickelt und zum Teil erweitert werden mussten. Die neuen Systeme sollten durch den Einsatz neuester IT-Technologien und durch erheblich verbesserte Benutzerfreundlichkeit überzeugen. Zugleich wurden gleich mehrere Geschäftsprozesse automatisiert. Die Fortentwicklung dieser Systeme brachte und bringt eine große Entlastung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wahlamtes.
Beispiele für die optimierten und automatisierten Prozesse sind: „Versand der Wahlbenachrichtigungen“, „Briefwahlausstellung“, „Automatischer Abgleich der Daten der Wahlberechtigten mit dem Melderegister“, „Verwaltung von Wahlhelferinnen und Wahlhelfern und Wahllokalen“, „Übermittlung der Wahlergebnisse vom Wahlkoffer an das Wahlamt“, „Automatische Erstellung der Wahlniederschrift im Wahllokal“.
Hohe Qualitätsansprüche
Anforderungen an die zu entwickelnde Software waren auf der einen Seite die Verbesserung und Vereinfachung des Wahlprozesses sowohl im Wahlamt als auch in den Wahllokalen und bei der Briefwahlauszählung. Auf der anderen Seite bestanden und bestehen aufgrund der sensiblen Daten hohe Anforderungen an die IT-Sicherheit und den Datenschutz sowie an die Stabilität, Verfügbarkeit, das Back-up und das Recovery. Um die Qualität aller fünf IT-Systeme auf höchstem Niveau sicherzustellen, wurden parallel zu den fachlichen Tests auch ausführliche technische Tests durchgeführt.
Ein wichtiger Schritt in der Testvorbereitung war der Aufbau der Testumgebungen. Im Projekt Wahlagenda wurden zusätzlich zu den Testumgebungen für den produktiven Betrieb und die Schulungen drei weitere Testumgebungen bereitgestellt: jeweils eine Testumgebung für die Integrations- und die Systemtests und eine weitere für die Performance-, Last- und Usability-Tests. Die Testumgebungen für den Integrations- und den Systemtest sollten gewährleisten, dass zwei mögliche Wahlkombinationen gleichzeitig getestet werden können. So ist es beispielsweise möglich, in der einen Umgebung eine Landtagswahl zu testen und in der anderen eine Wahlkombination aus einer Landtagswahl und einem Volksentscheid.
Fachliche Tests
Zu jeder Wahlart und jeder Wahlkombination – von Wahlkombinationen spricht man, wenn mehr als zwei Wahlarten auf einen Wahltag fallen – werden spezifische fachliche Tests durchgeführt. Die Tests erfolgen iterativ. In jeder Iteration werden die Teststufen Unit-Test, Integrations- und Systemtest durchlaufen. Die Teststufe Abnahmetest wird einmalig am Ende der letzten Iteration vor dem jeweiligen produktiven Termin absolviert.
Wenn das Quality Gate BzI (Bereit zur Integration) erreicht ist, können die fachlichen Tests beginnen. Am Anfang stehen ein Annahme- und ein Regressionstest. Diese sollen sicherstellen, dass die Software in der Testumgebung lauffähig ist und die bereits in der vorangegangenen Iteration erreichte Funktionalität weiterhin besteht. Falls nicht, müssen die aufgetretenen Hindernisse unmittelbar beseitigt werden. Dazu kann es auch erforderlich sein, die Implementierungsiteration anzuhalten, um das aktuelle Release in Ordnung zu bringen.
Technische Tests
Für die technischen Tests werden plattformunabhängige Web-Oberflächen und Mikroservice-Architekturen eingesetzt. Die technischen Tests umfassen sowohl Last- und Performancetests als auch Tests externer Schnittstellen und technischer Dokumentationen.
Ziel der Performancetests ist es, zu prüfen, ob das System unter den Lastanforderungen am Wahltag die Laufzeitanforderungen einhält, sowie den Punkt zu ermitteln, ab dem das System die geforderte Performance nicht mehr erbringt.
Dazu werden zunächst für bestimmte Aktionen Lastszenarien definiert, bei denen die Performance gemessen wird. Ein mögliches Lastszenario spielt den Einsatz von 1.000 Wahlkoffern durch, bei dem innerhalb eines definierten Zeitraums die Wahlergebnisse über das LTE-Netz an den zentralen Server übermittelt werden. Damit überprüft man die Stabilität der örtlichen Netze sowie die Performance der Server unter Last. Denn eine zentrale Anforderung an die Software ist, dass die Ergebnisse möglichst schnell dem Wahlamt vorliegen.
Wahlsimulation
Nach jedem erfolgreichen Abnahmetest und ca. sechs Wochen vor einem Wahltermin findet die finale Wahlsimulation statt. Dabei werden über mehrere Stunden der Wahltag simuliert und alle am Wahltag beteiligten Komponenten getestet. Im Vorfeld wird in der produktiven Umgebung eine Wahl konfiguriert, die der tatsächlichen Wahl möglichst weitgehend entspricht. Fiktive Wahllokale und Wahlvorschläge werden in den verschiedenen IT-Systemen eingerichtet, wie sie auch am Wahltag zum Einsatz kommen. Dieser Test wird zugleich dazu genutzt, die Komponente „Präsentationsserver“ zu testen – auch wenn er für das Lastverhalten nicht relevant ist.
Ein Team aus Mitarbeitern der Stadt München überwacht, unterstützt durch IT-Experten aus dem Realisierungsteam, von einem Leitstand aus die Funktionalität der Systeme und die Qualität der Ergebnisse. Mit ausgewählten fiktiven Wahllokalen werden Sonderabläufe/Problemfälle simuliert, die – wie es die Vergangenheit gezeigt hat – am Wahltag immer wieder auftreten können und die vom Leitstand zusammen mit den fachlichen Spezialisten vom Wahlamt gelöst werden müssen. Das Erzeugen von Sonderabläufen ermöglicht es, die Prozesse im Leitstand und im Wahlamt zu testen.
Wahllokalsystem und Wahlkoffer
Der Wahlkoffer ist das Herz des Projekts „Wahlagenda 2017“. Seit der Bundestagswahl 2017 ist der Münchner Wahlkoffer, auch durch Berichterstattung in den Medien, die bekannteste IT-Lösung des Wahlamts München. Nach der Bundestagswahl wurden ein Bürgerentscheid, die Landtagswahl 2018 und die Europawahl 2019 mithilfe der Wahlkoffer durchgeführt.
Bei einer Wahl können bis zu 1.300 Wahlkoffer zum Einsatz kommen. Ein Wahlkoffer enthält einen Laptop mit Smartcard und einen Drucker. Dadurch kann er unabhängig von der örtlichen Infrastruktur in sämtlichen Wahllokalen eingesetzt werden. Auf dem Laptop steht die Webanwendung „Wahllokalsystem (WLS)“ zur Verfügung, mit der die Wahlvorstände am Wahltag die Wahlhandlung durchführen. Eine Smartcard ermöglicht die Kommunikation und den Datenaustausch mit der zentralen Serverlandschaft. Die Schnellmeldungen und die Niederschriften im Wahllokal und bei der Briefwahlauszählung können mit dem eingebauten Drucker ausgedruckt und anschließend von den Wahlhelfern unterzeichnet werden. Nach der Auszählung werden die Zwischenergebnisse und anschließend die vollständigen Ergebnisse verschlüsselt per LTE an das Wahlamt übermittelt. Die Wahlergebnisse stehen somit sofort nach dem Abschluss der Wahlhandlung im Wahlamt zentral zur Verfügung. Die Wahlpräsentation kann permanent mit aktuellen Daten versorgt werden. Der Zeitgewinn ist immens.
Mittels eines Monitoringtools kann das Wahlamt die Abläufe in den verschiedenen Wahllokalen in Echtzeit überwachen und Nachrichten mit dem Wahllokal, statt wie bisher telefonisch, über ein Chatsystem austauschen. Es können in der gleichen Zeit mehr Anliegen bearbeitet werden, da eine Person mehr als einen Chat gleichzeitig bearbeiten kann.
Lessons Learned
Die Landtagswahl 2018 hat gezeigt, dass die technischen Anforderungen insgesamt sehr hoch sind und deren Umsetzung noch verbesserungswürdig ist. Das gilt insbesondere für die Anbindung hunderter Wahlkoffer und deren gleichzeitige Datenübertragung – Stichwort: Netzstabilität – sowie für die Auslegung der Server. Nach den Problemen mit der technischen Infrastruktur am Wahlsonntag der Landtagswahl 2018 und den daraus resultierenden Performanceeinbußen wurden weitere Verbesserungen am Wahllokalsystem vorgenommen.
Im Rahmen der Erweiterungen des Wahllokalsystems (WLS) für die Europawahl 2019 wurden u. a. Verbesserungen am Layout der Webanwendung und an den Offline-Fähigkeiten vorgenommen. Neben der Sicherheit ist die Offline-Fähigkeit, also die Fähigkeit des Systems, bei einem Verbindungsausfall uneingeschränkt weiterarbeiten zu können, eine der wichtigsten fachlichen, nicht-funktionalen Anforderungen an das System. Die Daten werden dann so lange lokal im Wahlkoffer gespeichert, bis wieder eine Verbindung zustande kommt und die Ergebnisse an das Wahlamt übertragen werden können.
Die "besondere" Wahlsimulations zur Europawahl
Für die Europawahl am 26. Mai 2019 wurden 944 Wahlkoffer eingesetzt, 618 davon in Wahllokalen und 326 an den Briefwahltischen. Mehr als 7.000 Freiwillige hatten sich gemeldet, um die Europawahl als Wahlhelfer zu unterstützen.
Das war eine enorme technische und organisatorische Herausforderung – sowohl für die Wahlhelfer vor Ort als auch an die IT-Systeme. Um einen reibungslosen Ablauf der Arbeit mit den Wahlkoffern zu gewährleisten und die Fehler der vergangenen Wahl nicht zu wiederholen, hatte man sich entschlossen, am 6. Mai 2019 die Wahlkoffer unter den realen Bedingungen eines Wahltags zu testen. Für diesen Großtest wurden 944 Wahlkoffer in einer riesigen Halle auf dem Münchner Messegelände bereitgestellt. Den sogenannten „Wahlkoffer-Stresstest“ führten anschließend ca. 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt München erfolgreich durch. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Es traten keine technischen Probleme bei der Durchführung der Wahlsimulation auf, und es gab keine Probleme bezüglich Last und Performance. Das gesamte Projektteam konnte mit einem guten Gefühl in die Europawahl gehen. Die sehr gute Vorbereitung hat sich gelohnt. Die Europawahl verlief reibungslos bis auf einzelne kleinere Probleme.
Seitdem werden die IT-Systeme kontinuierlich für die Kommunalwahl 2020 erweitert und verbessert. Am Ende wird die Landeshauptstadt München über eine starke IT-Lösung verfügen, die die Durchführung zukünftiger Wahlen wesentlich erleichtert und beschleunigt.