Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 01-2020
von Dr. Ulrike Kruse und Dennis Jacobs
Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen nach dem Onlinezugangsgesetz
Eine der dringlichsten Aufgaben in der öffentlichen Verwaltung ist die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Neben der Beschaffung und Bereitstellung von Digitalisierungswerkzeugen braucht es Geschäftsprozesse, mit denen schnell und standardisiert Onlineformulare publiziert werden können. Die Fertigungsstraße für digitale Formulare ist solch ein Geschäftsprozess. Zweck der Fertigungsstraße ist die standardisierte Erstellung und Verwaltung digitaler Formulare, unabhängig von der Art der Dienstleistung und der Verwaltung, für die gearbeitet wird. Als generisches Modell kann sie nicht nur an die Gegebenheiten der jeweiligen Behörde angepasst werden, zum Beispiel an Beteiligungsprozesse, sondern ist auch unabhängig von den verwendeten Umsetzungslösungen. Dadurch ist sie für alle Verwaltungen nutzbar, für die das Onlinezugangsgesetz gilt. Die Fertigungsstraße liegt als BPMN-Modell vor und enthält Prozessdokumentationen, Teilprozesse, Rollenbeschreibungen, Zuständigkeiten (DEMI-Matrix) und Artefakte.
Einführung
Mit der digitalen Fertigungsstraße werden digitale Formulare konzipiert, modelliert, implementiert, getestet und ausgerollt. Ihr Ziel ist es, digitale Formulare transparent und planbar zu erstellen und zu veröffentlichen. Dafür sind Verantwortlichkeiten definiert und Qualitätskriterien für Lieferobjekte transparent und vollständig dokumentiert. In der Fertigungsstraße werden digitale Formulare qualitätsgesichert und vollständig dokumentiert publiziert. Kommunikationsregeln sichern die Einbeziehung aller relevanten Stakeholder. Die Fertigungsstraße besteht aus
- generisch definierten Aufgaben,
- Lieferobjekten und Artefakten,
- Rollen und Zuständigkeiten jedes Prozessschritts,
- Meilensteinen mit definierten Zuständen eines Formulars und
- der detaillierten Beschreibung des Vorgehens der Prozessbeteiligten.
Vorgestellt wird in diesem Beitrag die Fertigungsstraße mit ihren Prozessschritten, Lieferobjekten und Verantwortlichkeiten. Verbindungen zu anderen Prozessen werden angedeutet, aber nicht ausgeführt, da sie sich von Verwaltung zu Verwaltung unterscheiden. „Out of scope“ sind also die Verwaltungsszenarien, die die Fertigungsstraße umgeben beziehungsweise in die die Fertigungsstraße eingebettet werden kann, sowie Details zu Werkzeugen, die im Rahmen der Fertigungsstraße eingesetzt werden können, wie zum Beispiel der Formularserver des Bundes.1
Rollen, Einheiten und Stakeholder in der Fertigungsstraße
Zentral in der Fertigungsstraße ist die Rolle „Kundenbetreuung“. Sie trägt die Gesamtverantwortung für die Bereitstellung eines digitalen Formulars. Darüber hinaus verantwortet sie inhaltlich das Anforderungsmanagement und organisatorisch alle Kommunikations- und Steuerungsaspekte. Sie ist die direkte Ansprechperson sowohl für die Fachseite als auch für alle anderen Prozessbeteiligten und Stakeholder. Als Kernrolle des Prozesses benötigt sie gute Kenntnisse über Methoden für das Anforderungsmanagement, zur Prozessanalyse/-modellierung sowie zum Projektmanagement und grundlegende Kenntnisse über die Erstellung von Formularen, um Aufwände abzuschätzen und die Fachseite hinsichtlich der Umsetzungsmöglichkeiten zu beraten. Die Rolle „Formularerstellung“ ist der „Baumeister“ der Formulare, verantwortlich für die Erstellung und Implementierung. Sie verfügt über Expertise bezüglich der eingesetzten Software und der Programmiersprachen und wird von der Rolle „Kundenbetreuung“ gesteuert. Die Rolle „Testmanagement“ erstellt die Testfälle, organisiert die Tests und übermittelt Testunterlagen und -ergebnisse. Sie wird ebenfalls von der Rolle „Kundenbetreuung“ gesteuert. Zu ihren Aufgaben gehören auch die Bewertung der Testergebnisse und das Ableiten einer Empfehlung (Freigabe oder Anpassung), die an die Rolle „Kundenbetreuung“ übergeben wird.
Abbildung 1: Prozessbeteiligte und Prozesse der Fertigungsstraße
Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung der Fertigungsstraße
Die „betriebsführende Einheit“ für das System, auf dem das digitale Formular laufen soll, ist für den Betrieb und damit für die benötigten technischen Konfigurationen und Zugänge verantwortlich. Bei ihr liegen Deployment und Freischaltung. Sie wird von der Rolle „Kundenbetreuung“ getriggert. Die Fachseite (als Organisationseinheit) ist Auftraggeber des digitalen Formulars und für Umfang und Qualität der Anforderungen verantwortlich. Sie bewertet Zwischenergebnisse, erteilt Freigaben und beauftragt beziehungsweise steuert Servicestellen und Dienstleister, die außerhalb der Fertigungsstraße Leistungen erbringen – zum Beispiel Fachverfahrensanbieter, wenn Daten über Schnittstellen in das jeweilige Fachverfahren übernommen werden sollen. Der Fachverfahrensanbieter (als Stakeholder) betreut das Fachverfahren und ist für die Anbindung des Fachverfahrens an das System, auf dem das digitale Formular läuft, verantwortlich. Der Fachverfahrensanbieter wird von der Fachseite beauftragt und gesteuert. Empfohlen wird die Einrichtung einer übergeordneten Geschäftsstelle, die alle vorhandenen digitalen Formulare inklusive aller zugehörenden Prozesse fachübergreifend verwaltet und die Bereitstellung neuer digitaler Formulare zentral steuert (vgl. dazu Seite 20 ff. „Steuerungsprozesse für das Management von Plattformen“).
Die Fertigungsstraße als Prozess
Die Fertigungsstraße setzt sich aus den folgenden fünf Teilprozessen zusammen:
- Konzeption
- Modellierung
- Implementierung
- Test
- Deployment
Um diese Teilprozesse herum existieren begleitende Aktivitäten, die technisch-administrative Rahmenbedingen schaffen und organisatorische Schritte einleiten, um die spätere Veröffentlichung der Onlineformulare sicherzustellen. Nach Durchlaufen jedes Teilprozesses ist ein Meilenstein in der Fertigungsstraße erreicht, zu dem definierte Artefakte und Lieferobjekte vorliegen müssen. Entsprechende Vorlagen (Patterns) sind in der Fertigungsstraße enthalten.
Das wichtigste Artefakt in der Fertigungsstraße ist das Produktblatt. Es ist eine Art Laufzettel, der das digitale Formular über die gesamte Fertigungsstraße begleitet und auf dem alle Informationen festgehalten werden, die für die Administration und Konfiguration des Formulars benötigt werden. Es dokumentiert, was das digitale Formular technisch leistet (zum Beispiel, ob bestimmte Standards oder auch die eID verwendet werden, ob Webservices angesprochen werden etc.), über welche fachlichen Besonderheiten es verfügt und wer es beauftragt hat. Es wird von der Rolle „Kundenbetreuung“ verwaltet.
Ein weiteres Artefakt ist die Checkliste, in der im Vorfeld Informationen für erste Anforderungen erfasst werden. Die Informationen in der Checkliste erlauben die Entscheidung darüber, ob ein Formular online angeboten werden kann, indem zum Beispiel die Grundanforderungen der Fachseite mit den technischen und organisatorischen Möglichkeiten abgeglichen werden. Nachfolgend werden die fünf Teilprozesse der Fertigungsstraße steckbriefartig vorgestellt.
Teilprozess „Konzeption“
In der Konzeptionsphase werden die Anforderungen an das digitale Formular durch die Rolle „Kundenbetreuung“ mit der jeweiligen Fachseite (Auftraggeber) erhoben. Welche Methode gewählt wird, ist abhängig von den Rahmenbedingungen und den Kundenwünschen. Aus den Erhebungsergebnissen werden durch die Kundenbetreuung Daten- und Prozessmodelle erstellt sowie notwendige Schnittstellen identifiziert. Die Fachseite spricht nach Abnahme der Anforderungen und Modelle eine Modellierungsempfehlung aus.
Durchführend: | Kundenbetreuung Fachseite |
Verantwortlich: | Fachseite |
Lieferobjekte: | Anforderungsliste, Prozessmodell (Antrag), Modellierungsempfehlung |
Artefakte: | Checkliste, Produktblatt |
Teilprozess „Modellierung“
In der Modellierungsphase wird ein Prototyp erstellt, der in einem inkrementellen Verfahren weiterentwickelt wird (durch Kundenbetreuung, Formularerstellung, Fachseite). Weitere Anforderungen werden dokumentiert (durch Kundenbetreuung) und umgesetzt (durch Formularerstellung). In dieser Phase werden gegebenenfalls Schnittstellen zu Fachverfahren, basierend auf den Datenmodellen und den entstehenden Onlineformularen, in Auftrag gegeben. Die Fachseite spricht nach Abnahme des noch nicht voll funktionsfähigen, aber inhaltlich vollständigen Prototyps (Anordnung der Felder, Beschriftung, Zusatztexte etc.) die Implementierungsempfehlung aus.
Durchführend: | Kundenbetreuung, Formherstellung, Fachseite |
Verantwortlich: | Fachseite |
Lieferobjekte: | Anforderungsliste, Prototyp, Implementierungsempfehlung, gegebenenfalls Datenauszug für Fachverfahrensanbindung |
Artefakte: | Checkliste, Produktblatt |
Teilprozess „Implementierung“
In der Implementierungsphase wird der Prototyp durch Einfügen von Berechnungen, Datenübernahmen und Formularlogiken erweitert. Außerdem wird er durch Erstellung einer möglichen Druckvariante finalisiert. In dieser Phase werden die Testfälle erstellt. Die Fachseite spricht nach Kenntnisnahme der Testmappen eine Testempfehlung aus.
Durchführend: | Kundenbetreuung, Formularerstellung, Fachseite |
Verantwortlich: | Fachseite |
Lieferobjekte: | Onlineantrag, Druckvariante, Testmappe(n),Testempfehlung |
Artefakte: | Produktblatt |
Teilprozess „Testen“
In der Testphase werden vier Tests durchgeführt. Diese werden von der Rolle „Testmanagement“ verantwortet:
- Fachtest (inhaltlich-funktionale Tests, wie Formularablauf, Berechnungen etc.) durch die Fachseite,
- gegebenenfalls Test der Anbindung an das Fachverfahren durch Fachverfahrenshersteller und beauftragte technische Testpersonen,
- Funktionstest (technische Tests für Standardfunktionalitäten) durch beauftragte technische Testpersonen
- BITV-Test (stichprobenartig als Test oder vollumfänglich als Gutachten) durch beauftragte Testpersonen, die den Grad der Barrierefreiheit des Formulars prüfen.
Der Zuschnitt der Tests ist von den Vereinbarungen zwischen den Vertragsparteien abhängig. Die Testergebnisse werden konsolidiert und bewertet (durch Testmanagement) sowie eine Deployment- oder eine Anpassungsempfehlung ausgesprochen. Gegebenenfalls werden iterativ Anpassungen vorgenommen und weitere Tests durchgeführt.
Durchführend: | Tests managen, Tester, Fachseite |
Verantwortlich: | Testmanagement |
Lieferobjekte: | Onlineformular, Druckvariante, Testmappe(n), Empfehlung |
Artefakte: | Produktblatt |
Teilprozess „Deployment“
Im Deployment wird das Onlineformular für die Freischaltung bereitgestellt. Verantwortlich ist die betriebsführende Einheit für das System, auf dem der Onlineantrag laufen soll, in der Regel eine zentrale IT-Organisationseinheit, weshalb sich der Teilprozess „Deployment“ an den im IT-Bereich verbreiteten ITIL-Prozessen orientiert. Ansprechperson für die betriebsführende Einheit ist die Rolle „Kundenbetreuung“. Nach dem Deployment auf die Produktiv-Umgebung wird von der Rolle „Kundenbetreuung“ die Freigabeempfehlung in Richtung Fachseite (Auftraggeber) ausgesprochen. Anschließend wird das Formular freigeschaltet. Dadurch wird das neue Formular für die Bürgerinnen und Bürger zugänglich und die Fachseite befähigt, die Antragsdaten online entgegenzunehmen und weiterzuverarbeiten.
Durchführend: | Kundenbetreuung, Fachseite |
Verantwortlich: | Fachseite |
Lieferobjekte: | Anforderungsliste, Prozessmodell (Antrag), Modellierungsempfehlung |
Artefakte: | Checkliste, Produktblatt |
Zusammenfassung
Die Fertigungsstraße wurde im Rahmen von OZG-Umsetzungsprojekten praxisnah entwickelt und wird dort produktiv eingesetzt. Sie dient als Referenzmodell für Digitalisierungen aller Art in der Verwaltung, zum Beispiel Antragsverfahren. Die Fertigungsstraße berücksichtigt nicht nur die fachlich und technisch motivierten Kernaktivitäten, sondern auch wesentliche nichtfachliche Randbedingungen, wie Gebrauchstauglichkeit, Barrierefreiheit, Beteiligungsprozesse und notwendige Vertrags- und Geschäftsbeziehungen zu Stakeholdern und zentralen Einheiten. Als generisches Modell kann sie nicht nur an die Gegebenheiten der jeweiligen Behörde angepasst werden, sondern ist auch unabhängig von den verwendeten Umsetzungslösungen. Auch die bereitgestellten Artefaktvorlagen sind entsprechend der jeweiligen Anforderungen veränderbar.
1 https://www.cio.bund.de/Web/DE/Dienstekonsolidierung/bestehende_it_verfahren/Basis-IT/Formularserver/formularserver_node.html (abgerufen am 05.03.2020, aktualisiert am 07.06.2022).