Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 04-2019
von Jürgen Fritsche
Neue Handlungsräume für staatliches Handeln
Eine moderne, effiziente Verwaltung, die die Weiterentwicklung des Landes insgesamt unterstützt und nicht behindert, erfordert weitreichende Vernetzung und medienbruchfreie digitale Prozesse. Um dies tatsächlich zu erreichen und das darin liegende Potenzial für mehr Effektivität und Effizienz zu heben, müssen allerdings auch Strukturen und Aufgabenzuschnitte im politischen Handeln und im Verwaltungshandeln neu gedacht werden.
Mit dem OZG hinter die Fassade schauen
Derzeit treibt das Onlinezugangsgesetz (OZG) die Digitalisierungsvorhaben in der öffentlichen Verwaltung voran. Dieses Gesetz schafft die Basis dafür, Online-Verwaltungsdienstleistungen anbieten zu können und das Formular- und Antragswesen ein Stück weit abzulösen. 575 Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 online verfügbar zu machen, ist eine ehrgeizige Aufgabe. Um das zu schaffen, gehen Bund und Länder – gemeinsam (!) – neue Wege und erproben, wenn man so will, neue Handlungsräume. Die Umsetzung erfolgt arbeitsteilig entlang von Themenfeldern und Lebenslagen. Was federführend von einem Land entwickelt wurde, soll in den anderen Ländern übernommen werden. Das ist nicht unproblematisch: Was passiert mit lokalen Spezifika? Wie geht man mit regional unterschiedlichen Regelungen um, die das föderale Staatswesen im Sinne der Gewaltenteilung aus gutem Grund zulässt? Im günstigen Fall – wenn Bestimmungen geändert und Verfahren pragmatisch normiert und vereinfacht werden – bietet die Umsetzung des OZG Möglichkeiten, Ballast über Bord zu werfen. Im ungünstigen Fall werden es doch wieder Einzellösungen, und es entsteht ein digitaler Flickenteppich. Der gewünschte Zugewinn an Effizienz bliebe aus, und fertig würde das in den nächsten drei Jahren auch nicht. Dabei könnte das OZG den Anstoß geben, nicht nur die hinter der Fassade eines Portals oder Portalverbundes liegenden Prozesse zu digitalisieren, sondern beispielsweise auch Zuständigkeiten neu zu organisieren.
Zuständigkeiten abgeben, wenn gemeinsame Aufgabenerledigung besser ist
„Wie das staatliche Handeln in unserem Land schlanker, schneller, nachvollziehbarer, effizienter und zustimmungsfähiger gemacht werden kann“, beschreibt der ehemalige Bundesinnenminister und heutige Bundestagsabgeordnete Thomas de Maizière.1 In seinem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem auch das Zitat als Titel für diesen Artikel entnommen ist, regt er unter anderem an, das Ressortprinzip zu hinterfragen, da es sich bei Organisations- und Verfahrensthemen, die mehrere Ressorts betreffen, zum Hemmnis entwickelt hat. Ein offensichtliches Beispiel dafür ist nicht zuletzt die auf mehrere Ressorts verteilte Zuständigkeit für Digitalisierung. De Maizière macht als Ursache rechtlich abgesicherte Egoismen einzelner Ministerien aus. Daher sollen die Ressorts gezwungen werden können, Zuständigkeiten abzugeben, wenn eine gemeinsame Aufgabenerledigung besser als die Verfolgung von Einzelinteressen ist.
Außerdem fordert er eine konsequente Entbürokratisierung. Die gängige Praxis seien immer mehr Regelungsvorschläge statt Vorschläge, bestehende Gesetze abzuschaffen. De Maizière rät zu einer Selbstverpflichtung zur Halbierung der Dauer aller Verfahren, aller Statistiken, aller Formulare, aller Beauftragungen für alle Verwaltungsebenen, alle Behörden, alle Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften. Das solle neben der öffentlichen Verwaltung im engeren Sinne zum Beispiel auch für verwaltungsähnliche öffentliche Institutionen wie Berufsgenossenschaften, Ärztekammern, Industrie- und Handelskammern gelten.
Eine effizientere Organisation von Aufgaben und ein konsequentes „Weniger ist mehr“ in den Regelungen zu ihrer Erfüllung (de Maizière übertitelt seinen Beitrag mit „Von allem die Hälfte“): Dies könnte der eigentliche Auftragsinhalt zur Modernisierung und Digitalisierung des Staates sein, von seiner Spitze bis hinein in jede Amtsstube; die zeitgemäße Technik ist „nur“ das Werkzeug, die Grundlage, die dies möglich macht.
Als Auftrag an den Gesetzgeber hat der Normenkontrollrat Ähnliches formuliert² – „Erst der Inhalt, dann die Paragraphen!“ – und fordert, ebenfalls Ende Oktober 2019, für die nächste Legislaturperiode ein „Arbeitsprogramm Wirksames Regieren“. Auch die übrigen Kernbotschaften des Berichts sind klar:
- Die Politik muss die seit 1949 unveränderte Gesetzgebungspraxis überdenken, um sowohl wirksame als auch praxistaugliche Gesetze zu entwickeln.
- Gute Gesetzgebung ist der Schlüssel zu gutem Regieren, und die Gesetzesvorbereitung in den Ministerien ist der zentrale Geschäftsprozess des Regierens. Eilig beschlossene Gesetze sind jedoch zu vermeiden, da qualitativ mangelhafte Regelungen die Bürokratiekosten bei verminderter Wirksamkeit erhöhen.
- Wirkung und Vollzugsfähigkeit müssen in den Mittelpunkt der Gesetzgebung rücken und zu echten Zielgrößen werden.
- Die Politik muss ihre heutige Arbeitsweise grundsätzlich ändern und Zielsetzungen vorgeben, nicht Lösungen.
- Ministerielle Gesetzesvorbereitung braucht mehr Verbindlichkeit und Qualitätskontrolle.
- Die Legisten in den Ministerien brauchen moderne Werkzeuge für eine gute Gesetzgebung. Die bestehenden Werkzeuge müssen modernisiert und gegebenenfalls ausgesondert werden.
- Es braucht interdisziplinäre Teams für gute Gesetze.
Zielsetzungen statt Lösungen und Arbeit in interdisziplinären Teams? Das klingt, als solle der Gesetzgeber die Arbeit von Legislative und Exekutive nach modernen Führungsprinzipien hin ausrichten. Auch von der ausführenden Verwaltung wird dies vielfach gefordert. Für alle ist das mit Sicherheit ein neuer, herausfordernder Handlungsraum.
Staatliches Handeln als Service für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen
Aus so viel Veränderung könnte sich ein weiteres Umdenken ergeben, nämlich, staatliches Handeln als Service für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen zu konzipieren. Die Servicenehmer würden dann für Verwaltungsleistungen nicht mehr primär einen Antrag stellen, sondern die Verwaltung würde ihnen ein Angebot machen. Auch diese Idee wird von Vordenkern bereits propagiert. Die (technische) Voraussetzung dafür ist die Vernetzung, der Zugriff von Behörden auf bisher an vielen Stellen (mehrfach) vorliegende Daten. Thomas Bönig, IT-Referent der Landeshauptstadt München, spricht im Interview in dieser .public beispielsweise über die Lebenslage Geburt. Die Verwaltung könnte die jungen Eltern über Kindergeld, Krippenplätze usw. aktiv informieren. Bönig geht sogar noch einen Schritt weiter und will auf seiner München-Plattform und in der München-App Leistungen der Stadt und von nichtstädtischen Anbietern für Bürgerinnen und Bürger zusammenführen. Denn die Kommune ist mehr als nur Verwaltung.
Die Kommunen stellen die Verwaltungsebene, die durch das OZG am stärksten gefordert ist – und die durch das OZG potenziell am meisten Entlastung erfahren könnte. Vielleicht sieht man gegenwärtig deshalb dort die größte Bereitschaft, die eigenen Handlungsräume neu zu denken.³
Die Kommunen von nichtkommunalen Aufgaben befreien
Ebenfalls in einem Beitrag in der .public hinterfragte Peter Onderscheka die föderale, in diesem Fall örtlich orientierte Aufteilung der Verwaltungszuständigkeiten.4 Viele Aufgaben des den Kommunen übertragenen Wirkungskreises können unabhängig von Zeit und Raum erledigt und damit von Land oder Bund selbst wahrgenommen werden. Zum Zeitpunkt der Regelung mag die räumliche Nähe des Amts eine Rolle gespielt haben. Heute ist dies nicht mehr der Fall. Das Führungszeugnis beispielsweise könnte auch direkt online beim Bundesamt für Justiz beantragt werden. Die geeignete staatliche Aufgabenverteilung wird genauso als Frage aufgeworfen wie die bisher unveränderlichen Grenzen im föderalen Staatsaufbau.
Von unnötigen, eigentlich nichtkommunalen Aufgaben befreit könnte die Kommune das sozial verträgliche örtliche Zusammenleben, die lokale Infrastruktur, den lokalen Handel und die Industrie unterstützen sowie Sensorik, Daten und Datenbanken für die lokale Verkehrssteuerung zur Verfügung stellen. Weiterhin kann die Kommune auch den Unsicheren durch den digitalen Dschungel helfen und bei der digitalen Daseinsvorsorge unterstützen. Aktuell ist die Kommunalverwaltung das „Frontend“ der Landes- beziehungsweise Bundesverwaltung. Aber die Aufgabenverteilung kann mit den neuen digitalen Möglichkeiten geändert werden. Denn die Begründung der notwendigen örtlichen Nähe ist, abgesehen von der Unterstützung von „Digital Immigrants“5, nicht mehr gegeben.
Für eine solche Herangehensweise gibt es auch bereits ein Beispiel: Die Kraftfahrzeugzulassung ist seit Kurzem online möglich.6 Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) hat mit dem Projekt „i-Kfz“ (internetbasierte Fahrzeugzulassung) das Fahrzeugzulassungswesen in Deutschland digitalisiert, um die Fahrzeugzulassung einfacher, bequemer und effizienter zu machen und dadurch Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und die öffentliche Verwaltung zu entlasten. Mit der Digitalisierung können Fahrten zur Zulassungsbehörde vermieden werden, was ein erhebliches Zeit- und Wegeeinsparungspotenzial für Fahrzeughalterinnen und Fahrzeughalter bedeutet.
Jenseits von OZG und kommunalen Bürger-Services gibt es allerdings noch ein staatliches Aufgabenfeld, das, gerade aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung, stetig wächst und für das die föderale, regionale Aufgabenteilung wenig sinnvoll erscheint: die Abwehr von Cyber-Crime, -Terror, oder -War. Tatsächlich aber gründet jedes Land ein eigenes Cyber-Abwehrzentrum – der Bund übrigens gleich in mehreren Ressorts. So werden zwar Stellen geschaffen, doch es gibt keine Menschen, die sie ausfüllen könnten, weil die Behörden untereinander und mit Unternehmen um Fachkräfte konkurrieren.
Mehr digital Natives, mehr Digitalisierungsdruck
Die Zeit steht nicht still, technische Möglichkeiten und deren Anwendungsfelder entwickeln sich weiter. Daraus ergeben sich neue Notwendigkeiten und Zwangsläufigkeiten, denen der Staat gerecht werden muss. Künstliche Intelligenz und der Einsatz automatischer oder autonom agierender Systeme werden in den nächsten Jahren noch stärker auf die Agenda rücken. Damit wachsen auch die Ansprüche und das Selbstverständnis der Bürger: Immer mehr „Digital Natives“ treffen künftig nicht nur als „Kunden“, sondern auch als Bewerber und neue Mitarbeiter auf die Behördenstrukturen. Dabei will der gut ausgebildete Nachwuchs, den die Verwaltung in Zeiten demografischen Wandels und Fachkräftemangels dringend braucht, umworben werden. Der „Digitalisierungsdruck“ wird also stärker werden, und der Staat wird sich in vielerlei Hinsicht ins Zeug legen müssen, um in der digitalen Welt nicht den Anschluss zu verlieren.
Das OZG ist ein lobenswertes weiteres Programm, das der Staat auf den Weg gebracht hat, um sich selbst zu modernisieren. Viele mögen glauben, dass sich trotz aller Bemühungen die erhofften Resultate am Ende kaum erreichen lassen werden. Die seither erreichten Erfolge sind jedoch sehr beachtlich. Vor allem spürt man den Willen in der Politik und der Verwaltung, etwas zu verändern, sich zu modernisieren. Diesen Keim des Kulturwandels in der Verwaltung gilt es, weiter wachsen zu lassen, damit die Schritte nach vorne im Sinne der Bürger, der Gesellschaft, der Unternehmen und im Sinne des Staates und seiner Mitarbeiter gelingen.
Quellenangaben:
1 Thomas de Maizière, Von allem die Hälfte. Wie das staatliche Handeln in unserem Land schlanker, schneller, nachvollziehbarer, effizienter und zustimmungsfähigergemacht werden kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Oktober 2019.
2 Erst der Inhalt, dann die Paragraphen. Bericht des Normenkontrollrats vom 22.10.2019, vgl. https://www.normenkontrollrat.bund.de/resource/blob/72494/1680506/031c-2177c968abf4b7e12dff189d219c/2019-10-22-nkr-jahresbericht-2019-des-nationalen-normenkontrollrates-data.pdf (abgerufen am 26.11.2019).
3 Siehe auch Henrike Neulen & Stefan Walter: „Digitale Geschäftsmodelle als Herausforderung für Stadtwerke“, .public 01-2019, https://www.msg.group/docs/665-beitrag-in-der-public-ausgabe-01-2019-digitale-gesch%C3%A4ftsmodelle-als-herausforderung-f%C3%BCr-stadtwerke.pdf (abgerufen am 26.11.2019).
4 Peter Onderscheka: „Konsequent digital: Das ‚Geschäftsmodell Kommune‘ weiterdenken“, .public 02-2019, https://www.msg.group/docs/742-beitrag-in-der-public-ausgabe-02-2019-konsequent-digital.pdf (abgerufen am 26.11.2019).
5 Eine Person, die etwa vor 1980 geboren ist und somit den Umgang mit digitalen Technologien als Erwachsener aus eigenem Antrieb lernen muss, bezeichnet man als „DigitalImmigrant“.
6 https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/StV/Strassenverkehr/internetbasierte-fahrzeugzulassung.html (abgerufen am 26.11.2019).