Zuerst erschienen in der public Ausgabe 03-2021
von Dr. Andreas Zamperoni
Warum tut sich die öffentliche Verwaltung mit agilen Methoden so schwer? Und warum sollte sie sich trotzdem damit auseinandersetzen?
An diesen beiden Fragen entzünden sich oft hartnäckige Diskussionen! Nicht zuletzt spiegelt auch die vorliegende Ausgabe der .public die Bandbreite der Standpunkte und Argumente im Spannungsfeld agil und klassisch durchgeführter Projekte wider. Statistiken zu Erfolgen oder Misserfolgen werden beiderseits aufgefahren, hybride Ansätze, die beide Lager befriedigen sollen, zur Konfliktvermeidung zusammengesteckt. In der Privatwirtschaft dagegen ist nicht nur in der Software-Entwicklung die Transition zu agilen Vorgehensweisen und Organisationen flächendeckend in vollem Gange oder schon abgeschlossen.
Warum tut sich gerade die öffentliche Verwaltung so schwer, nachzuziehen und agile Methoden erfolgreich und nachhaltig in ihr Methodenportfolio aufzunehmen? In meiner mehrjährigen Praxis, Behörden bei der Einführung agiler Methoden zu begleiten und zu unterstützen, bin ich immer wieder den gleichen kritischen Haltungen, den gleichen herausfordernden Verhaltensund Organisationsmustern begegnet. Ich nenne sie zu Ehren des „Pattern-Namensgebers“ Erich Gamma1 „Agile Anti-Pattern der öffentlichen Verwaltung“. Aber schon avant la lettre beschrieb Projektmanagement-Urgestein Frederick P. Brooks problematische Projektmanagement-Muster2.
Nicht alle dieser umgangssprachlich manchmal auch „Scrum- But“ oder „ScrumAnd“ klassifizierten Vorgehens- und Organisationsmuster sind notwendigerweise Anti-Pattern. Die feine Grenzlinie zwischen Mustern und Antimustern verläuft meiner Beobachtung nach häufig entlang eines versteckten (manchmal aber auch offen gelebten) „Motivationswendekreises“: Aufrichtiges agiles „Inspect-and-Adapt“ auf der einen Seite, „Triumph der Beharrung über der Neugier“ auf der anderen.
Hier ein paar Beispiele für solch agile Pattern in der öffentlichen Verwaltung (die nicht alle notwendigerweise Anti-Pattern sind):
- Sprints-mit-Releases: „Wir arbeiten in Sprints – aber unser Betrieb kann nicht alle vier Wochen Software produktiv setzen.“ Oder: „Wir können unseren Nutzern nicht alle vier Wochen neue Features zumuten. Deshalb liefern wir unsere Ergebnisse weiterhin in Releases aus.“
- Helvetische-Entscheidungsprozesse: „Da das Team verantwortlich ist, dürfen/müssen immer alle über alles mitentscheiden (wobei ein benannter oder auch unbenanter Teil des Teams dann doch ausgeschlossen ist).“
- Kein-Impfzwang „Man darf sich aussuchen, ob man agil mitarbeitet oder nicht.“
- Babylon-Berlin: „Die Teammitglieder haben völlig unterschiedliche Vorstellungen von den technischen oder methodischen Schlüsselbegriffen und haben sich nicht auf einen gemeinsamen Sprachgebrauch geeinigt.“
- Babylon-Babylon: Babylon-Berlin plus „Die externen Coaches verwenden nicht die eingeführten Begriffe aus der öffentlichen Verwaltung (z. B. Verfahren, ertüchtigen), sondern solche, die sie aus der Privatwirtschaft mitbringen.“
- Überstehende-Ladung: „Unsere Sprintplanung reicht über das Sprintende hinaus, aber wir schieben das dann einfach in den nächsten Sprint weiter, ohne unsere Sprintplanungen grundsätzlich zu hinterfragen.“
Für viele Anti-Pattern gibt es auch Schmerz- oder Heilmittel. Helvetische-Entscheidungsprozesse lassen sich durch Einführen von sog. „Konsent-Entscheidungen“ (Disagree-and-Commit3) statt Konsens-Entscheidungen pragmatisch und nachhaltig ersetzen. Babylon-* lässt durch ein gemeinsam erarbeitetes Glossar auflösen. Jenseits dieser methodischen Beschäftigung mit den titelgebenden Fragen kommt man jedoch nicht umhin, agile Transition aus einem anderen, viel wirkmächtigeren, nämlich dem soziokulturellen Blickpunkt zu betrachten. Die sich in Richtung Agilität bewegende Arbeitswelt spiegelt eine sich „agilisierende“, eine agilisierte Gesellschaft wider – und umgekehrt.
Die „agile Gesellschaft“ ist, an dieser Stelle zugegebenermaßen nur plakativ und holzschnittartig charakterisiert, geprägt von egalitären Entscheidungs- und Selbstverwirklichungsprozessen, von kurzen Aufmerksamkeitsspannen, Konsum und Individualisierung und dem Rückzug ins Private. In der Gesellschaft ersetzt beim Berufseinstieg der zweijährige Bachelor das fünfjährige Diplom. Die Popularität der MINT-Disziplinen, die eine akribische Beschäftigung mit Details erfordern, schwindet. Konsum in Form konstanter Ströme neuer Produktversionen ist zwingend. Homeoffice wird der neue betriebliche Organisationsstandard.
Mit den oben genannten Charakteristika lassen sich auch wesentliche Merkmale agiler Methoden skizzieren. Teamverantwortung ersetzt den klassischen Projektleiter, monatliche Sprints (halb-)jährliche Releases. Strikte Orientierung an Kundenwünschen und -bedürfnissen nimmt in der Lehre und Praxis agiler Methoden einen wesentlich prominenteren Raum ein als fundierte Ingenieurskunst.
Wichtig ist, diese schon stattgefundene Veränderung nicht emotional, sondern wertfrei und phänomenologisch (also die Erscheinung als gegeben) zu betrachten und zu bewerten. Denn ganz unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob Agilität das bessere Prinzip ist, ist es auf Dauer – ganz wertfrei – das überlegene, also das sich im Darwin’schen Sinne durchsetzende Prinzip.
Agilität hat sich in großen Teilen unserer Arbeitsorganisation bereits durchgesetzt. Privatwirtschaftliche Firmen und Organisationen orientieren sich schon lange in Richtung agiles uns und vernetztes Arbeiten, weil sie erkannt haben, wie erfolgskritisch Agilität ist. Erfolgskritisch ist sie als Prozess und Arbeitsorganisation für die – und mit den – Mitarbeitenden unter 40 Jahren, die wir heute ausgebildet haben, heute unter Vertrag nehmen und die wir künftig in einem immer anspruchsvoller werdenden Arbeitsmarkt für unsere Organisationen gewinnen wollen. Für und von Mitarbeitenden, die (schon lange) nicht mehr in Unternehmen und Verwaltungen arbeiten wollen – oder können –, die zu „militärisch“ oder zu (oder zu „Bonner-republikanisch“) organisiert sind.
Agilität zu meistern, um die in der öffentlichen Verwaltung noch größeren Herausforderungen bei der Personalgewinnung zu bewältigen, ist daher auch jenseits einer potenziellen methodischen Überlegenheit einer der Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Zukunft der Behörden. Und als Nebeneffekt kann ich aus eigener Erfahrung berichten: Mit Agilität kann man – wenn richtig angewendet – überzeugend gute Software und Projekte für die Kunden und die Probleme von heute realisieren!
Mehr zum Schwerpunkt Agiles Arbeiten lesen Sie hier
Quellen
1 Gamma, Erich, John Vlissides, Richard Helm, Ralph Johnson: Design Patterns. Elements of Reusable Object-Oriented Software. Addison-Wesley, 1995.
2 Brooks, Frederick P. Jr.: The Mythical Man-Month. Essays on Software Engineering. Addison-Wesley, 1975.
3 https://digitaleneuordnung.de/blog/konsent/ (abgerufen am 08.12.2021).