Anwendungen der öffentlichen Verwaltung sollten niemanden frustrieren: weder die Bürgerinnen und Bürger, noch uns, die damit Arbeitenden. Viel lieber wäre es uns, wenn uns alle Services und Produkte, die wir in der öffentlichen Verwaltung verwenden, ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Aber wie gelingt dies? Die Hürden scheinen unüberwindbar: Die Prozesse sind historisch gewachsen, die Digitalisierung geht schleppend voran und geringe Entwicklungskosten sind oft wichtiger als die Zufriedenheit derer, die damit umgehen. Es gibt vielleicht nur einige wenige Vorreiterinnen und Vorreiter in der Organisation, die sich für die Menschzentrierung der Prozesse und Services einsetzen, und allein können sie die öffentliche Verwaltung nicht verändern. Oder doch? In diesem Artikel stellen wir die User-Experience-Reifegradanalyse vor, mithilfe derer in vier einfachen Schritten auf zufriedene Anwenderinnen und Anwender hingearbeitet wird.
Zuerst erschienen in der .public Ausgabe 02/2023
von Dr. Pirjo Friedrich und Dr. Andrea Nutsi
Eine Organisation menschzentriert zu gestalten, wirkt erst einmal wie eine Riesenaufgabe. Das idealistische Ziel ist, dass alle Mitarbeitenden in jedem Prozessschritt immer die Anwenderinnen und Anwender sowie die Bürgerinnen und Bürger im Fokus haben, um ihre Bedürfnisse bestmöglich zu berücksichtigen. Dasselbe sollten auch alle digitalen Services tun. Außerdem sollen die IT-Tools die Mitarbeitenden optimal in ihrer Arbeit unterstützen und Arbeitsschritte einsparen. Damit dies gelingen kann, sind eine menschzentrierte Strategie und ein neues Mindset auf allen Organisationsebenen notwendig. Idealerweise hat man noch Vorgesetzte in zentralen Positionen, die die Änderungsprozesse unterstützen und für finanzielle Mittel sorgen. Dann kann ein Service-Design-Team die Anwenderinnen und Anwender in die Entwicklungsprozesse einbinden und die Ergebnisse sprechen für sich. Ein Traum.
Häufig ist jedoch dies alles nicht vorhanden. Dann ist es hilfreich, die Notwendigkeit der Änderungen in der Organisation sichtbar zu machen. Wir haben gute Erfahrungen mit einem Änderungsprozess gemacht, der auf vier kleinen und machbaren Schritten beruht. Unser Vorgehen basiert auf einer User-Experience (UX)-Reifegradanalyse sowohl in einzelnen Teams als auch in größeren Organisationseinheiten.
Abb. 1: Ablauf der UX-Reifegradanalyse
Die UX-Reifegradanalyse
Die User-Experience-Reifegradanalyse analysiert die Menschzentrierung der digitalen Services und Tools in der Organisation. User Experience bezieht sich auf das Nutzungserlebnis der externen sowie internen Anwenderinnen und Anwender der Softwarelösungen.
Die UX-Reifegradanalyse besteht aus vier Schritten: Interviews, Online-Befragung, Workshop und Follow-up (siehe Abbildung 1). Mithilfe eines Fragebogens wird der aktuelle Stand der Bedeutung von User Experience und zugehörigen Aktivitäten durch einen Coach ermittelt. Die Fragen des Fragebogens und die Begleitung durch einen Coach in einem gemeinsamen Workshop führen die Beteiligten zur Erarbeitung realistischer und sofort umsetzbarer Änderungsmaßnahmen. Anstatt die (fehlende) Verantwortung auf andere zu schieben, müssen alle Beteiligten selbst überlegen, welche Schritte sie tun können, damit die Menschzentrierung und damit auch die Kundenzufriedenheit besser werden. Vor Beginn der Analyse muss festgelegt werden, in welcher Einheit sie durchgeführt werden soll. Es kann in einzelnen Teams genauso begonnen werden wie in gesamten Referaten. Wichtig ist dabei nur, den in den Interviews verwendeten Fragebogen an den jeweiligen Kontext anzupassen.
Dies beinhaltet zum einen die Auswahl der passenden Fragen. Manche Fragen sind für ein Entwicklungsteam sinnvoll, manche für das gesamte Referat. Beispielsweise muss für das Entwicklungsteam einer spezifischen Online-Anwendung bei den Fragen ein anderer Fokus gesetzt werden als für die Perspektive eines ganzen Referats. Auch genannte Beispiele in den Antwortmöglichkeiten müssen an den Kontext angepasst werden. Ein weiterer relevanter Punkt ist die Auswahl der Personen, die an der Analyse teilnehmen sollen. Hier ist eine möglichst heterogene Gruppe von ungefähr acht Personen auszuwählen. Typische Rollen sind dabei Führungskräfte, Mitarbeitende im Service Center, Product Owner, User Experience Designer, Projektleitung und -management sowie Softwareentwicklerinnen und -entwickler.
Das Ergebnis einer UX-Reifegradanalyse ist einerseits die numerische Festlegung der aktuellen UX-Reife (siehe Abbildung 2): Auf welcher Stufe befindet sich die analysierte Einheit aktuell? Viel wichtiger aber sind die Verbesserungsmaßnahmen, die gemeinsam erarbeitet werden sowie generell ein gesteigertes Verständnis für die Bedeutung der User Experience in der analysierten Einheit.
Schritt 1: Einzelinterviews
Einzelinterviews bilden den ersten Schritt der UX-Reifegradanalyse. Sie werden jeweils durch einen Coach und einen Protokollanten oder eine Protokollantin durchgeführt. Der Coach ist idealerweise extern, auf jeden Fall aber eine neutrale Person, damit die Beteiligten offen über ihre Probleme und Wünsche sprechen können. Die Interviews basieren auf einem standardisierten Fragebogen, den die Interviewten im Gespräch mit dem Coach ausfüllen.
Der verwendete Fragebogen enthält etwa zwanzig Fragen, aufgeteilt auf zehn Kategorien mit jeweils ein bis drei Fragen. Beispiele für Kategorien sind User Research, Bewusstsein für User Experience, Strategie und Management.
Jede Frage bietet sechs Antwortmöglichkeiten, die den sechs Stufen des Reifegrades (vgl. Abbildung 2) entsprechen sowie jeweils eine zusätzliche „Kann ich nicht beantworten”-Option. Dabei wird mit der niedrigsten Reifegradstufe angefangen und die folgenden Antwortmöglichkeiten werden stets anspruchsvoller, wie das Beispiel in Abbildung 3 zeigt. Durch diesen Aufbau des Fragebogens lernen die Interviewten die ganze Vielfalt von UX kennen. Außerdem zeigen die sechs verschiedenen Antwortoptionen die Entwicklungsmöglichkeiten bei der Menschzentrierung auf. Diese Art der Durchführung kann somit gleichzeitig auch als Coaching angesehen werden. Der Coach, der die Interviews durchführt, erfährt durch gezieltes Nachfragen, warum der UX-Reifegrad so ist wie er ist. Der Protokollant oder die Protokollantin erfasst alle Aussagen, Zwischentöne, Vermutungen und Unwissen, die im Gespräch geäußert werden.
Schritt 2: Online-Befragung
Im Anschluss an die Interviews ist es optional möglich, eine Online-Umfrage mit dem gleichen Fragebogen durchzuführen. Dies schafft eine breitere Datenbasis und ermöglicht allen Personen der gewählten Einheit, sich zu beteiligen. Die Online-Befragung sollte allerdings nicht die Einzelinterviews ersetzen, da die in den Interviews gewonnenen Aussagen und Hintergrundinformationen von zentraler Bedeutung für den folgenden Workshop sind.
Schritt 3: Workshop
Die ausgefüllten Fragebögen aus Interviews und möglicher Online-Befragung werden ausgewertet, indem pro Frage und pro Kategorie ein Durchschnittswert aller Teilnehmenden gebildet wird. Der Gesamtwert des Reifegrads wird als Durchschnittswert über die Kategorien ermittelt.
Nach Datenerhebung und Auswertung folgt ein zweistündiger Workshop mit den Teilnehmenden der Interviews. Der Workshop beginnt mit der Ergebnispräsentation der Reifegradmessung. Sie erläutert, auf welcher Reifegradstufe die gemessene Einheit steht und wie das Ergebnis in den einzelnen Kategorien ausfällt. Nach der Präsentation kann mit drei ausgewählten Fragen aus dem Fragebogen in die Diskussion eingestiegen werden. Als Fragen kommen beispielsweise solche mit einer großen Spannweite der Antworten in Betracht.
Der nächste Punkt auf der Workshop- Agenda ist die Ist-Analyse. Sie legt dar, was aktuell in Bezug auf User Experience in dieser Einheit gut und was weniger gut funktioniert. Darauf aufbauend wird eine Zielvision erarbeitet und geklärt, wohin sich die Einheit in den kommenden zwei Jahren bezüglich User Experience entwickeln möchte und wie sie das erreichen kann. Hierbei ist es besonders wichtig, möglichst konkrete und realistische Maßnahmen zu definieren. Es besteht nicht der Anspruch, alles auf einmal zu ändern, sondern lieber wichtige und kleinere Schritte vorzunehmen. Die verschiedenen Kategorien des Fragebogens führen dazu, dass jede Einheit selbst entscheiden kann, auf welchen Themen sie den Fokus gerade haben möchte. Zum Abschluss des Workshops werden die nächsten persönlichen Schritte, die innerhalb der kommenden Wochen zu gehen sind, formuliert.
Auch Mitarbeitende der Einheit, die nicht am Workshop teilgenommen haben, sollten die Ergebnisse der UX-Reifegradanalyse und die erarbeiteten Maßnahmen präsentiert bekommen. So können eine größere Akzeptanz und mehr Engagement erreicht werden.
Abb. 3: Beispiel einer Frage in der Kategorie „Evaluierung von User Experience“
Schritt 4: Follow-up
Zur Überprüfung der persönlichen Schritte kann ein Follow-up-Termin etwa zwei Monate nach dem Workshop stattfinden. In diesem einstündigen Termin werden die Maßnahmen und Ziele aus dem Workshop überprüft und weitere Aufgaben priorisiert und verteilt. Zusätzlich können sogenannte Quick-win-Maßnahmen identifiziert werden: Maßnahmen, die schnell oder leicht umsetzbar sind und einen nachhaltigen oder deutlich sichtbaren Erfolg erzielen.
Nach der Analyse einer Einheit kann der Prozess in weiteren Einheiten wiederholt werden. Auch bietet sich eine Wiederholungsmessung nach etwa zwei bis drei Jahren in bereits evaluierten Einheiten an.
Empfehlungen für die Durchführung
Nach unserer Erfahrung hat die UX-Reifegradanalyse einen hohen Nutzen mit wenig Aufwand für die teilnehmenden Einheiten gebracht. Damit die Analyse erfolgreich wird, empfehlen wir folgende Aspekte in der Durchführung zu berücksichtigen:
- Zum Start eine kleine Einheit auswählen, die Vorreitermentalität besitzt und in der bereits ein oder mehrere Mitarbeitende Erfahrungen mit menschzentrierten Designmethoden gesammelt haben und sich weiterentwickeln wollen. Nach dem ersten Referenzprojekt wird es leichter, andere Einheiten für dieses Vorgehen zu motivieren.
- Den Fragebogen an die eigene Organisation anpassen. Nicht alle Fragen sind in jedem Kontext relevant.
- Denselben Fragebogen für verschiedene Teams oder Referate verwenden. Dies ermöglicht einen Vergleich zwischen verschiedenen Einheiten. Es muss allerdings genau überlegt werden, ob dies in der Organisation hilfreich oder schädlich wäre. Es ist auch möglich, nur die vereinbarten Maßnahmen und den zugehörigen Fortschritt als Inspiration für andere zu veröffentlichen.
- Einen heterogenen Kreis an Teilnehmenden für die Interviews und den Workshop definieren: Darunter auch Personen, die Entscheidungen treffen können, und Personen, die als Multiplikatoren in der Organisation agieren.
- Während der Interviews Zitate, Zwischentöne und Hintergrundinformationen erfassen und dokumentieren. Neben der numerischen Analyse begründen die qualitativen Daten, warum der Reifegrad der analysierten Einheit so ist und welche Verbesserungsmaßnahmen passen könnten.
- Die beteiligten Personen erzählen lassen, wie nützlich die Reifegradanalyse für ihre Einheit war. Auch Zitate werden verwendet, um Werbung für weitere Analysen in anderen Einheiten zu machen.
Kleine Schritte machen Änderungen realistisch
Ein großer Vorteil der UX-Reifegradanalyse ist, dass keine Vorkenntnisse in der Organisation benötigt werden. Auch bei den Verbesserungsmaßnahmen wird kein Quantensprung erwartet. Die stufenweise aufgebaute Struktur stellt kleine konkrete Schritte dar, die die Organisation als nächstes angehen kann. Das gemeinsame Gespräch über die Ziele und möglichen Maßnahmen trägt zu einem gemeinsamen Verständnis bei. Dadurch werden auch die Personen für Menschzentrierung sensibilisiert, die bisher wenige Berührungspunkte damit hatten.
Eine kontinuierliche Reifegradanalyse hilft der Organisation langfristig menschzentrierter zu werden. Mithilfe der Reifegradanalyse werden nicht nur die Maßnahmen erarbeitet, sondern auch positive Änderungen sichtbar gemacht und gefeiert. Einige wenige Schritte bringen oft schon viel voran und Erfolge motivieren zu weiteren Maßnahmen.