Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 03-2020
von Dr. Katrin Ehlers und Georg Jülke
Die Digitalisierung bedeutet eine Herausforderung für das Personalmanagement – aber sie bietet auch Lösungen. Damit verbunden ist aber in jedem Fall ein organisatorischer Umbruch.
Neue Aufgaben, neue Qualifizierung
Die Digitalisierung lässt in zunehmend rasantem Tempo neue Aufgaben, Berufe und Tätigkeitsfelder entstehen. Das gilt für die öffentliche Verwaltung wie für nahezu jede andere Branche. Von den Beschäftigten fordert das die Bereitschaft, sich stetig fortzubilden und weiterzuentwickeln, manchmal sogar sich gänzlich neu zu orientieren. Das gilt selbstverständlich ebenso für Führungskräfte, die darüber hinaus (im gegenwärtigen Verständnis) die neue Arbeit organisieren müssen: Welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lassen sich dafür einsetzen? Welche Qualifizierung brauchen sie, und wo können sie diese bekommen? Welche Qualifikationen müssen neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeitermitbringen, um die Aufgaben, die jetzt und in Zukunft anstehen, übernehmen zu können? Wer das in den Grenzen des eigenen Referats, der Abteilung, des Zuständigkeitsbereichs denkt, dem wird eine Antwort auf diese Fragen vielleicht noch punktuell gelingen, doch schon mittelfristig ist sie oder er chancenlos. Die Notwendigkeit neuer Formen der Zusammenarbeit agiler, interdisziplinärer und organisationsübergreifender Teams als tragende Säule der digitalisierten Arbeitswelt ist längst erkannt – nicht zuletzt für die Digitalisierungsprojekte selbst. Die Notwendigkeit besteht auch für die Aufgabe, das Mitarbeiter*innen-Potenziale einer wissensgetriebenen Organisation immer wieder neu aufzustellen. Denn diese Aufgabe betrifft die Arbeitsfähigkeit der Organisation in ihrem Kern, und eine Antwort darauf muss unbedingt Teil einer Digitalstrategie sein, die Auswirkungen auf die gesamte Organisationsstruktur und -kultur berücksichtigt.
Wenn die Organisation wüsste, was die Organisation weiß...
Überwindet man nämlich das eingespielte Silo-Denken und das in den Silos einzelner Einheiten gepflegte Herrschaftswissen und betrachtet die Qualifikationen und Fähigkeiten aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus einer übergeordneten Perspektive, dann zeigt sich, wie viel Wissen und Können in der Organisationeigentlich vorhanden sind! Dann aber scheint auch die schiere Menge an Informationen über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Qualifikationen, Verfügbarkeiten, Interessen und Weiterbildungsoptionen kaum überschaubar. Zumindest ist eine Auswertung durch einzelne Personen schon zeitlich viel zu aufwendig und faktisch nicht mehr zu leisten, wenn außer den Lebensläufen (oder im Falle der Weiterbildungsmöglichkeiten: eine Datenbank) auch vergangene Projekte – und öffentliche und freigegebene Informationen aus dem Internet (!) – einbezogen werden.
Das Organisationswissen ist die Summe aller in ihr versammelten Kenntnisse – die in den Köpfen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie die, die in Form von strukturierten (Datenbanken)und unstrukturierten Daten vorliegen, also in Dokumenten und Texten, die für die Organisation von Nutzen sein können. Fast achtzig Prozent der Daten in einer Organisation sind unstrukturiert. Mit herkömmlichen technischen Mitteln – und der herkömmlichen Organisation – lässt sich dieses Potenzial nichtheben. Aber die gute Nachricht ist: Auch unstrukturierte Datensind Daten. Daten bieten einen leistungsfähigen Weg zur Innovation. Die kombinatorische Kraft von Daten inspiriert zu neuen Überlegungen über die Umgestaltung bestehender Prozesse und die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen.
Die technische Lösung
Was wäre daher, wenn man neue Technologien einsetzt? Wenn man also den Herausforderungen der Digitalisierung – hier das Management der Mitarbeiter*innen-Potenziale – mit digitalen Mitteln begegnen würde? Ein Denkexperiment: Stellen wir uns vor, sämtliche Lebensläufe, aber auch alle anderen von den Beschäftigten erstellten Dateien liegen vor – in der Cloud. Stellen wir uns weiterhin vor, wir hätten ein Werkzeug, das aus all diesen unstrukturierten Daten die Namen derjenigen herausfiltert, die wahrscheinlich geeignet sind, eine bestimmte neue oder auch nur anstehende Aufgabe zu erfüllen. Oder das den Qualifizierungsbedarf erfasst und entsprechende Angebote vorschlägt. Das würde Suchmaschinen erfordern, künstliche Intelligenz, die Verarbeitung natürlicher Sprache und maschinelles Lernen. Die gute Nachricht: All dies steht zur Verfügung.
Denken wir also weiter: ein KI-basiertes System, selbstlernend, die natürliche Sprache – in Textform oder gesprochen – analysierend, verarbeitend (Natural Language Processing – NLP) und verstehend (Natural Language Understanding – NLU), das nach den geeigneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sucht – und sie findet. Das dafür keine vorgegebenen Taxonomien und Stichworte benötigt, sondern ebenso natürlich sprachliche Anfragen verarbeitet und „versteht“. Das System wäre in der Lage, die Zusammenhänge, in denen bestimmte Begriffe vorkommen, zu identifizieren und zu clustern und damit auch dort Potenziale zu erkennen, wo bestimmte Kenntnisse nicht ausdrücklich formuliert oder gar als Stichwort hinterlegt beziehungsweise abgefragt worden sind. Noch einen Schritt weiter gedacht wäre dieses System eine Plattform, die nicht zentral verwaltet und mit einem restriktiven Zugang versehen ist, sondern die jedem oder jeder in der Organisation offensteht. Das bedeutet, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mittels derselben kognitiven Suche ihr eigenes Profil als Suchvektor für offene Aufgaben und Projekte nutzen könnten. Anstelle der vielleicht eingefahrenen Sicht und vorgefassten Einschätzung der Vorgesetzten kämen damit individuelle Interessen und Vorlieben ins Spiel, um geeignete Kandidatinnen und Kandidaten zu finden und dort einzusetzen, wo diese hin wollen.
Konsequenzen für die Organisation
Spätestens an diesem Punkt, bei der offenen Plattform, wird deutlich, welche Sprengkraft in dem Ansatz steckt. Wird schon die Fragenach der Speicherung und dem Schutz personenbezogener Daten Widerstände auslösen, so erst recht die Nutzung dieser Datendurch potenziell jeden Beschäftigten zur eigenen Disposition.
Denn eine digitale Plattform kann eine grundlegende Demokratisierung der Information bedeuten, die den Beschäftigten eine weitaus größere Beteiligung an den Entscheidungsprozessen bezüglich ihrer beruflichen Entwicklung ermöglicht. Diese Vorstellung liegt weit außerhalb des Denkens in der heutigen Verwaltungswelt mit ihren klaren Hierarchien und regelgebundenen Arbeitsweisen. Auf der anderen Seite könnte die Aussicht auf eine bessere Nutzung der Ressourcen und eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit ein Motivator für die Veränderung sein und die Bereitschaft zur Bereitstellung von Daten erhöhen.
Klar ist auch: Die digitale Transformation ist integrativ, demokratisiert Informationen und Wissen, und ihre Ausbreitung scheint kaum kontrollierbar. Dadurch bricht sie die strikten formalen odertraditionellen Schablonen disruptiv auf. Die Bereitschaft zur gemeinsamen Nutzung relevanter Daten – auch über die Qualifikation und Fähigkeiten der Beschäftigten – und zur übergreifenden Zusammenarbeit auf Basis dieser Daten ist ein gesellschaftlicher und ökonomischer Imperativ. Die gemeinsame Nutzung von Daten ohne eine Kultur der Zusammenarbeit und die organisatorische Ausrichtung ohne integrierte Daten und Prozesse ergeben keinen Sinn und wird langfristig gegenüber Organisationen, die diese Potenziale nutzen, nicht erfolgreich sein. Organisationen müssen technisch und kulturell darauf vorbereitet werden – im Personalmanagement wie auch darüber hinaus.
Tatsächlich gerät manches bereits in Bewegung: Zum Beispiel werden unter dem Dach der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ Projekte wie KIDD gefördert. Die Ergebnisse aus den Experimentierräumen werden, so das Ziel, Eingang finden in den Arbeitsalltag.
KIDD - KI im Dienste der Diversität
Förderung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter dem Dach der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“
Zielsetzung der Förderung
Ziel des Projekts KIDD ist es, die technologischen, wirtschaftlichen und organisationalen Veränderungsprozesse, die der digitale Wandel der Arbeitswelt mit sich bringt – insbesondere der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) – mit sozialen Innovationen zu verbinden. Unter dem Dach der Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ und mit Mitteln des BMAS werden innovative Projekte für eine zukunftsgerechte Gestaltung der Arbeitswelt unterstützt. Gefördert werden insgesamt dreißig sogenannte betriebliche Lern- und Experimentierräume, die als Orte der Erprobung neuer Ansätze verstanden werden, um im digitalen und demografischen Wandel Innovationen zu fördern, gute Arbeitsbedingungen zu stärken und die Fachkräftebasis zu sichern.
Abbildung 1: KIDD-Projektmeeting
In den Lern- und Experimentierräumen KI soll die Anwendung digitaler Technologien in den Betrieben gefördert werden. Hierbei liegt der Fokus auf einer menschenzentrierten Anwendung digitaler Systeme, die die Arbeitsqualität verbessern sollen, also:
- auf einer transparenten, diskriminierungsfreien und ethischen Anwendung von KI-Entwicklung und -Anwendung im Betrieb,
- insbesondere im Umgang mit arbeitsplatz- und personenbezogenen Daten und
- unter frühestmöglicher Beteiligung der Beschäftigten und ihrer Interessenvertreter.
Die im Lern- und Experimentierraum gefundenen Lösungen sollen auf ihre Übertragbarkeit auf das ganze Unternehmen und in andere Betriebe getestet werden.
Partner im KIDD-Projekt
Unter der Führung der nexus GmbH sind im KIDD-Projekt chemistree, EPSON, femalevision, msg, Qperior sowie die Technische Universität Berlin, Fachgebiet Arbeitslehre, Technik und Partizipation, zusammengeschlossen. Die Mitglieder des Konsortiums sind mit jeweils eigenen Themen beauftragt, entweder methodisch/theoretisch oder in praktischer Umsetzung.
ProfileMap
ProfileMap ist eine von msg entwickelte KI-gestützte Analyse von Kompetenzbedarfen am Markt in Relation zum Profil der Beschäftigten. Ziele der Erprobung im Experimentierraum sind:
- mehr Partizipation und Mitspracherecht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an ihrem Arbeits- und Projekteinsatz und an ihrer Weiterbildung,
- eine Demokratisierung von Managementinformation und dadurch ausgelöster organisatorischer Wandel,
- die „Weisheit der Menge“ nutzen, anstatt auf das Entscheidungsmonopol weniger zu setzen.
Dabei wird KI als Motivation und Instrument für organisatorischen Wandelbegriffen. Die Überzeugungen oder auch Voreingenommenheit von Linienvorgesetzen bei der Auswahl von Beschäftigten für Projekte wird ausbalanciert durch eine zahlenmäßig sehr viel größere und vielfältige Gruppe von Beschäftigten, die bei dem Prozess eine aktive Rolle spielen. Im Experimentierraum wird mit Mitarbeitern, Vorgesetzen und Mitarbeitervertretern geprüft, inwiefern eine unmittelbare Partizipation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einer effizienteren, faireren, dem oder der Einzelnen angemessenen und diversifizierten Allokation von Arbeitspaketen (Projekteinsatz; Tätigkeitsfeld) führt.
Die Ergebnisse werden dokumentiert und für Behörden und andere Unternehmen reproduzierbar gemacht. Bewertet werden sie in verschiedenen Iterationen und Quality Games von Gremien aus Behörden und aus dem universitären Umfeld.
Zeitraum der Förderung
Das Projekt läuft über 36 Monate. Der Projektstart ist für Januar 2021 geplant.
Für weitere Informationen zum Projekt und Ihre Fragen steht Ihnen Georg Jülke gerne zur Verfügung: Georg.Juelke@msg.group