Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 03-2020
Harald Joos, CIO Deutsche Rentenversicherung Bund (Abt. 11 – Organisation und IT-Services), im Gespräch mit Jürgen Fritsche, Geschäftsleitung Public Sector msg
Abbildung 1: Harald Joos, CIO Deutsche Rentenversicherung Bund
msg: Herr Joos, in der IT der Deutschen Rentenversicherung arbeiten rund 1.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Auf wie viele Standorte verteilen sich diese Beschäftigten?
Harald Joos: Wir haben zwei Hauptstandorte: einmal Berlin mit rund 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dann Würzburg, wo aktuell rund 230 Mitarbeitende beschäftigt sind.
msg: IT-Experten sind im Moment sehr gefragt. Jeder sucht welche. Wie viele offene Stellen haben Sie aktuell?
Harald Joos: Als wir mit unserer Einstellungskampagne Ende 2019 gestartet sind, hatten wir über alle IT-Standorte rund 300 offene Stellen. Die Zahl der offenen Stellen ändert sich allerdings laufend, insbesondere durch die altersbedingte Fluktuation. Allein mit unseren eigenen Auszubildenden können wir den Bedarf nicht decken, insofern sind wir mit der Kampagne „/*echte_IT“ 1 gestartet, um den Bedarf für das Jahr 2020 und die Folgejahre zu decken, und dafür hatten wir intern den Slogan kreiert „Tausend suchen Dreihundert“. Unser Ziel war es, bis Mitte des Jahres für den Standort Berlin 300 neue Mitarbeitende zu gewinnen.
Die Kampagne „Echte IT“ unterscheidet sich stark von dem, wie in der Vergangenheit für die öffentliche Verwaltung Personal rekrutiert wurde. Wir sind als IT anders, arbeiten anders und wollten uns auch nach außen anders darstellen. Neben Webauftritt und Stellenausschreibungen veranstalten wir im Rahmen der Kampagne zum Beispiel Escape Games, zu denen unsere Mitarbeitenden Freunde und Bekannte mitbringen können, die ebenfalls in der IT arbeiten. Wir waren mit unseren verschiedenen Maßnahmen zur Personalgewinnung erfolgreich und befanden uns auf einem guten Weg.
Dann kam Corona. Wichtig war es, unsere Kampagne und unsere Einstellungen auch unter den Rahmenbedingungen von COVID-19 fortzuführen. Das ist uns gelungen, unser Ziel haben wir allerdings trotzdem verfehlt. Bisher (September 2020) haben wir rund 200 neue externe Kolleginnen und Kollegen eingestellt. Wir gehen davon aus, dass wir unsere Zielgröße von 300 für dieses Jahr zum Jahreswechsel erreicht haben. Dann geht es im nächsten Jahr weiter. Es gilt ja, weiterhin den laufend neu entstehenden Bedarf zu decken.
Nicht die Bewerber bewerben sich bei uns, sondern wir werben jetzt um die Mitarbeiter
msg: Sind 300 Neueinstellungen gemessen an der Vergangenheit normal oder außergewöhnlich hoch?
Harald Joos: Diese Zahl ist außergewöhnlich hoch. In der Vergangenheit wurde der Personalbedarf ziemlich restriktiv gehandhabt. Wir konnten in der IT den Personalbedarf zwar halten, aber große Aufwüchse waren nicht möglich. Ebenso gab es wenige externe Einstellungen. Das hat sich jetzt durch die Digitalisierung stark geändert. Wir müssen heute schauen, wie wir möglichst viele interessierte Bewerberinnen und Bewerber zu uns holen. Nicht die Bewerberinnen und Bewerber bewerben sich bei uns, sondern wir werben jetzt um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir drehen den Prozess komplett um und brechen aus den klassischen, sehr spezifisch gefassten Stellenanzeigen aus. Das heißt, wir suchen beispielsweise nicht mehr nach einer Person, die jahrelange Erfahrung mit der Oracle Version 11G hat und bei uns im Datenbankbereich eingesetzt werden soll. Wir fassen die Profile und Anzeigentexte jetzt allgemeiner und versuchen, die Menschen, die bei uns anfangen, an den Stellen einzusetzen, wo sie den größten Mehrwert bringen. Und wenn jemand merkt, dass ihm oder ihr der neue Aufgabenbereich doch nicht liegt, schauen wir, wo es bei uns in der IT vielleicht besser passen könnte.
Abbildung 2: Startseite/*echte_IT
msg: Sie sind im Januar 2020 mit dieser Kampagne gestartet. Welches Resümee ziehen Sie heute daraus?
Harald Joos: Es ist möglich, auch zu den Konditionen des öffentlichen Dienstes Menschen zu gewinnen, die an interessanten und sinnstiftenden Aufgaben arbeiten wollen, diese Aufgaben bei uns finden und in einem guten Arbeitsumfeld dann auch gerne bei uns arbeiten. Corona hat das gesamte Thema Video natürlich noch einmal unheimlich nach vorne gebracht. Wir haben darüber weitere Möglichkeiten erschlossen, Kennenlern- und Bewerbungsgespräche zu führen, und konnten daher auch während Corona weiteres Personal einstellen. Inzwischen haben wir auch die ersten englischsprachigen Kolleginnen und Kollegen bei uns in die Teams integriert. Auch da hilft die erste Kontaktaufnahme per Video erst einmal weiter und baut Barrieren ab. Wie eingangs erwähnt, haben wir bisher rund 200 neue Kolleginnen und Kollegen gewonnen, und die Quote der geführten Gespräche und der daraus resultierenden Einstellungen liegt aktuell bei 47 Prozent.
msg: Das ist eine sehr gute Quote.
Harald Joos: Ja, das ist richtig, und darauf sind wir stolz. Wir sind alle sehr gespannt, wie sich die Zahlen in der Zukunft weiter entwickeln werden, denn wir werden die „Kampagne“ in der Linie dauerhaft fortführen und weiter entwickeln. Sie wird ein Teil unseres gemeinsamen Tagesgeschäfts mit unserer Personalabteilung. Um dafür bestmögliche Voraussetzungen zu schaffen, wird das IT-Recruiting-Team der Personalabteilung auch direkt zu meiner IT-Abteilung ziehen. In einer sehr engen und guten Partnerschaft konnten wir die Kampagne bisher gemeinsam zum Erfolg führen.
msg: Über welche Kanäle bewerben Sie Ihre Kampagnenseite?
Harald Joos: Wir bewerben sie auf XING, LinkedIn und anderen sozialen Medien und versuchen, darüber Verbindungen zu schaffen. Das haben wir früher nicht gemacht. Da tut sich bereits einiges. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle unsere „Hausmesse“, die wir kurz vor dem Ausbruch von Corona noch durchführen konnten. Rund 500 interessierte Personen waren bei uns vor Ort. Wir haben das gesamte Gebäude genutzt, um uns und unsere Arbeit vorzustellen. Im InnovationLab haben wir künstliche Intelligenz anhand eines Beispiels aus Game of Thrones demonstriert, wir haben an Info Points im gesamten Haus über unsere vielfältigen Arbeitsbereiche informiert und hatten Mitarbeitende vor Ort, die Gespräche geführt und Fragen beantwortet haben.
Viele der Besucherinnen und Besucher hatten ihre Bewerbungsunterlagen mitgebracht und standen vor den Büros Schlange, in denen unser Recruiting-Team die Unterlagen direkt entgegengenommen hat. Das war ein Ereignis und Erlebnis, von dem wir als gesamte IT-Abteilung noch heute begeistert erzählen. Wir haben uns alle gegenseitig unterstützt. Es war furchtbar anstrengend für alle, aber es hat auch unheimlich Spaß gemacht, und wir alle konnten daraus viel positive Energie gewinnen. Wir möchten diese Hausmesse gerne wiederholen. Ob und wann das unter den Corona-Rahmenbedingungen möglich sein wird, lässt sich im Augenblick leider nicht prognostizieren. Wir wollen das jetzt noch durch einige digitale Formate ergänzen.
msg: Wen mussten Sie alles davon überzeugen, dass eine solche Kampagne der richtige Weg ist?
Harald Joos: Am Anfang wurde unserem Personalchef und mir häufig von unseren Mitarbeitenden vorgetragen, was alles nicht umsetzbar ist. Gemeinsam haben wir es jedoch geschafft, dass wir uns darauf fokussiert haben, was möglich ist und wie wir es umsetzen können. Da war einiges Neues und Ungewohntes mit dabei. Letztlich haben wir aber gemeinsam so viel Bewegung in das Thema hineinbringen können, dass irgendwann alle mit Herzblut und viel Spaß dabei waren. So hat sich die Kampagne laufend weiterentwickelt.
Weg von Passbildausschreibungen und auch hin zu mehr Zeit, um die Menschen bei uns vor Ort in Empfang zu nehmen, zu betreuen und zum Beispiel ein „Buddy-System“ aufzubauen. Die Buddies kümmern sich von Anfang an um die neuen Kolleginnen und Kollegen. Sie holen diese an ihrem ersten Arbeitstag auch direkt am Eingang ab und begleiten sie. Da müssen wir weiter dran bleiben; noch haben wir zu wenige Buddies. Denn auch diese Aufgabe kostet Zeit, die dann für andere Arbeiten fehlt. Hier haben wir noch einiges zu tun, um es mehr in unserem Bewusstsein zu verankern, dass das intensive Betreuen neuer Kolleginnen und Kollegen auch ein fester Bestandteil unserer täglichen Arbeit und eine sinnvolle, wichtige Aufgabe ist. Insofern mussten und müssen wir vor allem unsere eigenen Mitarbeitenden überzeugen, dass dieser Aufwand eine gute Investition ist.
Wir haben den Einstellungsprozess unheimlich beschleunigt
msg: Und wie lange dauert der Bewerbungs- und Einstellungsprozess bei Ihnen in der IT jetzt?
Harald Joos: Im Vergleich zu früher sind wir wesentlich schneller geworden. Wir schaffen es, eine Einstellung innerhalb weniger Wochen und in Einzelfällen auch innerhalb weniger Tage zu realisieren. Insgesamt bietet allerdings auch dieser Prozess noch Optimierungspotenzial. Personal- und IT-Abteilung sind sich einig, dass wir ein engmaschiges Controllingsystem dafür etablieren. Das bauen wir gerade auf. Wir haben es aktuell allerdings noch nicht in der Form, um damit den Prozess laufend weiter optimieren zu können. Letzten Endes gehört auch viel persönliches Engagement dazu, damit Einstellungsgespräche so schnell wie möglich geführt werden und nicht wegen anderer Aufgaben zurückgestellt werden. Die Bereitschaft, das zu leisten, nehme ich in unserem Mitarbeiterkreis immer mehr wahr. Damit haben wir auch eine gute Chance, Prozesse in der Verwaltung weiter zu beschleunigen.
msg: Die Personalsituation im IT-Bereich wird sich die in den nächsten fünf oder zehn Jahren verändern. Was meinen Sie: wie und warum?
Digitalisierung findet außerhalb der IT-Abteilung statt
Harald Joos: Digitalisierung findet außerhalb der IT-Abteilung statt. Das Prozesswissen liegt in den Fachabteilungen. Insofern ist es unsere Aufgabe, die Fachabteilungen dabei zu unterstützen, damit auch sie mehr IT-Know-how aufbauen. Rollen wie die eines Data-Analysten oder des Product Owners im Rahmen der agilen Entwicklung werden in den Fachabteilungen angesiedelt sein. Wir werden als IT-Abteilung hier zukünftig weniger selbstinitiieren und müssen darauf achten, dass uns die Fachabteilungenfrühzeitig in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Dazu wollen wir ein vertrauensvolles Miteinander aufbauen. Da ist noch einiges zu tun, denn die IT-Abteilung war in der Vergangenheit bei uns mitunter sehr richtungsweisend. Wie können wir die Fachabteilungen gut unterstützen? Auch hierkomme ich wieder auf unsere Personalgewinnung zurück. Wir haben vermehrt einen großen Bedarf an IT-affinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Fachseite.
Allerdings ist es nichtunbedingt zweckmäßig, dass wir qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die IT-Abteilung heranholen und die Fachabteilungenwerben diese für sich ab. Unsere Idee ist, dass wir die Rekrutierung von IT-Personal gemeinsam mit den Fachabteilungen durchführen, damit auch diese von unserer Kampagne profitieren können und unser Haus nicht viele einzelne Kampagnen für ähnliche Aufgaben durchführen muss. Außerdem haben wir damit die Gelegenheit, die IT-Abteilung besser mit den Fachabteilungen zu vernetzen, indem das persönliche Netzwerk laufendweiter ausgebaut wird.
msg: Das bedeutet, dass es eine Aufgabe der IT-Abteilung sein kann, den Fachbereichen neue Impulse zu geben, welche Möglichkeiten die technische Entwicklung bietet. Also Wissen zu aktuellen Anwendungsszenarien zu vermitteln. Machen Sie das schon?
Harald Joos: Ja, auch das machen wir bereits. Aber meiner Meinung nach könnten wir es noch besser umsetzen. Über unseren „Technologieradar“ greifen wir die aktuellen Trends laufend auf und berichten, was wir in der Erprobung haben, was wir zurückstellen oder was nur beobachtet wird. Neben den „technischen“ Impulsen haben wir allerdings auch das Prozessthema als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung.
Grundvoraussetzung ist, dass wir bereit sind, unsere Prozesse auf den Prüfstand zu stellen. Wir haben bei uns Abteilungen, die haben das schon komplett gemacht und bringen das Thema Digitalisierung kontinuierlich weiter voran. Unseren Proof of Concept (PoC) zum Thema Blockchain haben wir zum Beispiel auf Betreiben einer Fachabteilung durchgeführt. Wir als IT waren eigentlich der Meinung, dass dieser an dieser konkreten Stelle eher keinen Mehrwert bringt. Die Ressourcenverantwortung dafür, was wir machen, liegt allerdings nicht bei uns in der IT-Abteilung. Insofern haben wir den PoC gemeinsam mit der Fachabteilung durchgeführt und sind zu einem Ergebnis gekommen, von dem alle profitieren.
Das Verständnis dafür, was die Blockchaintechnologie eigentlich ist, ist auf beiden Seiten – IT- und Fachabteilung– gewachsen. Das hilft uns für die Zukunft. Das Thema Blockchain wird uns wahrscheinlich noch häufiger an anderen Stellen wieder begegnen. Um über neue Lösungen nachdenken zu können, bisherige Prozessabläufe zu überdenken, um auch das Bewusstsein dafür zu ändern, mehr Innovationen nutzbar zu machen, um auch in der Zukunft handlungsfähig zu bleiben und unseren Kundinnen und Kunden den besten Service bieten zu können, haben wir unser InnovationLab eingerichtet. Das haben Sie ja bei unserem Rundgang auch schon besichtigt.
Um Innovationen voranzubringen, haben wir unser Innovationlab eingerichtet
msg: Das InnovationLab ist sehr interessant. Erläutern Sie uns doch bitte kurz, welches Ziel Sie damit verfolgen und wer es bei der Deutschen Rentenversicherung nutzt.
Harald Joos: Wir haben das InnovationLab als IT-Abteilung für das Unternehmen gebaut und Mitte 2019 in Betrieb genommen. Unser Ziel war es, insbesondere cross funktionale Teams mehrzusammenzubringen und enger mit der Fachseite zusammenzuarbeiten, um neue Ideen zu entwickeln. Fünfzig Prozent der Veranstaltungen im InnovationLab sind gemeinsame Veranstaltungen von Fachseite und IT. Manchmal werden die Räumlichkeiten auch vom Management genutzt, gerne auch im Umfeld von Strategieworkshops.
msg: Wie wirkt sich eine Umgebung wie ein Innovationslabor oder auch ein modernes, offenes Gebäude, wie Sie es hier haben, auf die Menschen und die Arbeit aus?
Ich hätte nie gedacht, wie stark ein Gebäude das Verhalten der Menschen beeinflussen kann
Harald Joos: Sehr stark. Ich hätte nie gedacht, wie stark ein Gebäude das Verhalten der Menschen beeinflussen kann. Und ich setze noch einen drauf: Ich hätte nie gedacht, welche direkte Wirkung so ein InnovationLab entfalten kann. Ein kleines Beispiel dazu: In der Rentenversicherung gibt es 16 Träger und dadurch oftmals kontroverse Diskussionen über die richtige Strategie. Trotzdem ist eine Einigung erforderlich. Ich erinnere mich an eine schwierige Veranstaltung. Die Atmosphäre war zu Beginn „verhalten“. Es ging darum, welche Werkzeuge eingesetzt werden sollten. Am Alten festhalten oder etwas Neues machen? In der Pause haben wir den Kolleginnen und Kollegen unser InnovationLab gezeigt. Sie waren eine halbe Stunde dort und waren richtig „geflasht“. Sie fragten, ob sie Bilder machen dürfen, meinten, dass sie so etwas bei ihnen auch bräuchten, etwas Ähnliches schon haben oder im Augenblick daran arbeiten. Und das Verrückte war, als wir danach die Veranstaltung oben in unserem Besprechungsraum fortgeführt haben, war die Atmosphäre völlig anders. Wir konnten seit Langem wieder einma loffen über ein kontroverses Thema sprechen.
Fragen Sie mich nicht warum, aber so eine Kreativatmosphäre scheint die Synapsen des Menschen zu beeinflussen und bisherige Vorurteil ein den Hintergrund zu drängen. Wenn man nicht mehr statisch an einem Tisch sitzt, sondern sich permanent bewegt und in anderen Konstellationen zusammenkommt, anderen Reizen ausgesetzt wird, mehr haptisch, mit ungewohnten, gefühlt „skurrilen“ Methoden arbeiten muss, dann kann man nicht mehr so stark wie vorher an gewohnten, praktikablen Vorgehensweisen festhalten. „Bauen Sie die Rentenversicherung als Hotel. Wie könnte das aussehen? Was sind Sie? Ein Drei-, Vier- oder Fünf-Sterne-Hotel? Welche Services wollen Sie anbieten?“ Wenn anfangs alle sagen, was wollen die jetzt von mir, wir sind doch kein Hotelbetrieb, gehen sie später voll in dieser Aufgabe auf. Die Wirkung ist enorm. Deswegen glaube ich, dass solche Räume gebrauchtwerden, um das Denken zu verändern. Solche Räume haben Einfluss auf die Arbeits- und Denkkultur.
msg: Können auch andere Behörden Ihr Labor buchen?
Harald Joos: Wir haben einen so hohen Bedarf innerhalb unseres Unternehmens, dass wir intern bereits komplett überbuchtsind. Im August letzten Jahres haben wir das InnovationLab eröffnet und bis Ende letzten Jahres haben rund 1.200 Menschen Workshops, Veranstaltungen oder andere Formate im InnovationLab durchgeführt. Schwerpunkt bei der Arbeit im InnovationLab ist für uns das Design Thinking. Zurzeit kann das InnovationLab nicht extern gebucht werden, einzelne Ausnahmensind natürlich immer möglich. Allerdings wird es zukünftig in der Rentenversicherung weitere Labore geben, die nicht mehr von der IT-Abteilung aufgebaut werden. Wir haben hier nur den ersten Impuls gesetzt. Dann wird sich die Ressourcenknappheit, die im Augenblick im InnovationLab herrscht, vermindern, und neue Optionen lassen sich umsetzen.
msg: Sind Sie offen für Besucher und den Erfahrungsaustauschmit anderen Behörden?
Harald Joos: Erfahrungsaustausch und Besucher, immer gerne. Alle, die mich persönlich hier in der Eisenzahnstraße besuchen, gehen grundsätzlich nicht hinaus, ohne dass sie einmal durch das Gebäude geführt wurden – auch um zu erläutern, wie wir hier arbeiten und warum es besser ist, bei uns zu arbeiten – „smile“. Da steht dann natürlich immer ein kurzer Besuch im InnovationLab an. Wenn gerade Workshops stattfinden, sind die Besuche ein bisschen kürzer. Wenn keine Workshops stattfinden, wie wir heute das Glück hatten, dann kann man sich ein bisschen lauter, offener unterhalten. Wir haben uns natürlich mit anderen Organisationen vernetzt – innerhalb und außerhalb der öffentlichen Verwaltung –, sodass ein reger Erfahrungsaustausch stattfindet.
msg: Ich sehe, Sie haben schon viel getan, um die Arbeitgebermarke „Deutsche Rentenversicherung“ vor allem hinsichtlich der IT aufzuwerten und attraktiv darzustellen. Was macht diese Arbeitgebermarke darüber hinaus noch aus?
Harald Joos: Wichtig für die Arbeitgebermarke insgesamt – wir machen das ja nicht nur für die IT – ist herauszustellen, dass wir hier etwas wirklich Sinnvolles machen. Wir haben in Deutschlandeines der besten Sozialsysteme weltweit. Die Deutsche Rentenversicherung ist wesentlicher Bestandteil dieses Systems. Alle, die bei uns in der IT, die in unserem gesamten Unternehmen mitarbeiten, tragen dazu bei, dass die soziale Sicherheit in Deutschland gewährleistet wird. Das machen wir tagtäglich, und deswegen ist unsere Arbeit sinnvoll. Viele von uns sind auch wirklich stolz darauf, denn es ist sehr herausfordernd, dafür zu sorgen, dass die Rentenzahlung minutengenau, sekundengenau auf den Konten ankommt und unsere Kundinnen und Kunden keine Probleme durch zum Beispiel verspätete Zahlungen bekommen. Es ist eine hohe gesellschaftliche Verantwortung zu gewährleisten, dass das alles immer funktioniert.
Daneben sind wir natürlich stolz auf die Arbeitsbedingungen, die wir anbieten. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterkonnten auch vor Corona bereits flexibel arbeiten, natürlich auch von zu Hause aus. Durch Corona hat sich allerdings auch hier einiges geändert. Wir hatten viel mehr Kollegen und Kolleginnen im Homeoffice als vorher. Berührungsängste im Umgang mit Video und anderem waren vielleicht in der IT nicht so hoch wie in anderen Abteilungen, waren aber auch immer noch da und konnten weiter abgebaut werden.
msg: Wenn sich jemand bei Ihnen bewerben möchte, welche Qualifikationen sollte er oder sie mitbringen?
Harald Joos: Erfahrung in der IT. Lust auf Neues. Die Bereitschaft, Veränderungen aktiv mitzugestalten. Und Freude am Arbeiten im Team. Solche Kolleginnen und Kollegen sind uns immer willkommen. Ab und zu suchen wir natürlich Menschenmit einer ausgewiesenen Fachexpertise. Aber es ist nicht so, dass wir in der IT nur mit hoch spezialisierten Fachexpertinnen und -experten arbeiten. Wir schauen, wofür wir die Menschenqualifizieren können. In der Vergangenheit haben wir gesagt, wir qualifizieren nicht, die Menschen müssen die Qualifikation mitbringen. Aber mit dieser Einstellung bekommen wir nicht genug neue Kolleginnen und Kollegen an Bord und vielleicht auch nicht immer die Richtigen, die gut zu uns passen.
msg: Eingangs haben Sie gesagt, dass die IT an zwei Standorten arbeitet. Wie verteilen und organisieren Sie die Aufgaben zwischen den beiden Standorten?
Harald Joos: Wir sind standortübergreifend in Teams organisiert. Den größten IT-Bereich haben wir in Berlin, mit rund 1.000 Menschen. Natürlich versuchen wir, die Menschen, die in Berlin zusammenarbeiten, auch räumlich zusammenzuhalten. Denn trotz aller Methoden oder Werkzeuge, die wir für ein verteiltes miteinander Arbeiten haben – Skype, Teams, Jira, Confluence und andere –, ist der direkte Kontakt untereinander wichtig. Gerade in Fehlersituationen müssen wir schauen, dass wir schnell zusammenkommen können. Für die erste Fehleranalyse helfen diese ganzen Werkzeuge, das ist kein Thema. Aber wenn es wirklich ans „Eingemachte“ geht und die Fehlersuche sich nicht so einfach gestaltet, müssen wir nach wie vor auch im direkten persönlichen Kontakt gemeinsam die Lösung suchen – was natürlich derzeit sehr schwierig und kaum umsetzbar ist.
Eine unserer größeren Herausforderungen ist eher, dass wir in der Organisation noch etwas zu statisch aufgestellt sind. Eigentlich sollten wir mehr in Projekten oder virtuellen Teams arbeiten. Dass es möglich ist, die physischen Teams in den Hintergrund zu rücken und auch in der Linie mehr virtuell und leichter crossfunktional zu arbeiten, ist durch Corona etwas klarer geworden. In dieser Zeit konnten einige Barrieren im Kopf abgebaut werden, da wir nicht mehr nur über zwei, sondern de facto über viele Lokationen hinweg arbeiten mussten, denn jeder Homeoffice-Platz kam als Lokation dazu.
Unabhängig davon versuchen wir nach wie vor, diejenigen Teams, die viele Berührungspunkte haben, in räumlicher Nähe zueinander unterzubringen. Wenn es irgendwann einmal so weit sein sollte, dass wir vermehrt mit Microservices arbeiten, dann werden diese Abhängigkeiten zwischen den Teams abnehmen. Im Augenblick sind wir noch nicht so weit.
Wir brauchen nicht hundert Führungskräfte, wir brauchen hundert Projektleiter*innen
msg: Die zunehmende Projektorganisation betrifft ja auch verschiedene Linien in Ihrer Organisation. Geht das reibungslos oder wollen die Chefs überall im Bilde sein?
Harald Joos: Das ist eine sehr interessante Frage. Ich habe auf einer Veranstaltung einmal gesagt, wir brauchen nicht hundert Führungskräfte, wir brauchen eher hundert Projektleiterinnen und Projektleiter. Ich erwarte durchaus, dass die Führungskräfte immer gutinformiert sind. Und das funktioniert am besten, indem man selbst auch Verantwortung übernimmt und auch selbst in unterschiedlichen Funktionen in Projekten mitarbeitet. Ich selbst versuche, das in meiner täglichen Arbeit umzusetzen, und wenn ich im Projekt bin, versuche ich, das hierarchieübergreifende Arbeiten vorzuleben. Mir persönlich ist es wichtig, dass das Hierarchiedenken immer mehrabnimmt. Deswegen nutzen wir in der IT auch „Großraumbüros“. Keine Separierung mehr von Führungskräften, wir sitzen mittendrin im „normalen Leben“ und kapseln uns nicht ab.
Wenn Sie mich fragen, wie sich mein Job in den letzten zehn Jahren verändert hat, dann verwende ich gerne das Beispiel einer Pyramide. In der Vergangenheit war ich an der Spitze der Pyramide, und die gesamte Organisation hat für mich gearbeitet. Im Augenblick bin ich immer noch an der Spitze der Pyramide. Aber die Pyramide hat sich komplettumgedreht, soll heißen: jetzt arbeite mehr ich für die gesamte Organisation. Mein Job als Führungskraft ist es, für die Mitarbeitenden den Weg frei zu machen, damit sie ihren Job gut erledigen können, Entscheidungen herbeizuführen, Missverständnisse in der Kommunikation aus dem Wegräumen usw. Diese Haltung verankert sich in der Organisation immer mehr. Aber es ist ein langer Weg, und das Thema Matrixorganisation, fraktale Organisation oder „Digitalisierung der Organisation“ wird uns sicher noch länger beschäftigen.
msg: Sie haben sich bereits im September 2018 mit hundert Mitarbeitenden der Deutschen Rentenversicherung getroffen und unter dem Motto „Arbeit neu denken“ über Chancen und Herausforderungen des digitalen Wandels gesprochen und Ideenentwickelt. Welche Impulse und Inhalte sind da bei Ihnen beziehungsweise der Deutschen Rentenversicherung angekommen?
Abbildung 3. Harald Joos und Jürgen Fritsche
Alexa, schick mich in Rente
Harald Joos: Zum einen war es eine Veranstaltung, die nicht von der IT getrieben wurde, sondern rentenversicherungsweit von allen Trägern, und zwar von der Fachseite und von den Auszubildendenausgehend. Das Beeindruckendste war die Begeisterungsfähigkeit der jungen Menschen. Die vielen guten Ideen, die sie hatten, und der Wille, etwas zu verändern. Insbesondere, die Sicht unserer Kundinnen und Kunden einzunehmen und die bestehenden Prozesse infrage zu stellen. Mir persönlich ist unter anderem das Schlagwort „Renten-Alexa“ in Erinnerung geblieben. Die jungen Auszubildenden haben die Idee aufgegriffen, dass Versicherte vielleicht einmal von zu Hause aussagen: „Alexa, schick mich in Rente.“ Da entsteht etwas richtig Gutes für die gesamte Deutsche Rentenversicherung. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich in den nächsten Jahren vieles schneller verändern wird. Wir haben die Ideen bei uns aufgegriffen und gehen das, was sich umsetzen lässt, auch an. Bei einer „Renten-Alexa“ müssen wir natürlich den Datenschutz und die Informationssicherheit beachten. Daher wird es wahrscheinlich ein bisschen länger dauern, bis diese Idee umgesetzt ist. Aber darüber nachzudenken, warum haben wirkeinen oder zu wenige Chat-Bots, warum nutzen wir keine KI – das ist der richtige Weg. Die Auszubildenden haben die richtigen Ideen.
msg: Wir haben jetzt viel über die Räumlichkeiten, Arbeitsplätze und Ihr Innovationslabor gesprochen. Aber Kultur der Zusammenarbeit bedeutet ja auch mobiles Arbeiten, Remote-Zugang, Smart-Devices. Ist die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, remote zuarbeiten, bereits bei der Deutschen Rentenversicherung etabliert?
Harald Joos: Das Remote-Arbeiten praktizieren wir bereits sehr lange in der Deutschen Rentenversicherung. Hier müssen wir zwischen den einzelnen Abteilungen unterscheiden. Die Fachabteilungen wollen zukünftig auch grundsätzlich die Möglichkeit haben, den Arbeitsort flexibel zu wählen. Hierfür haben wir in diesem Jahr für den Standardarbeitsplatz – anders als in der IT-Abteilung – nicht ein Notebook, sondern einen BSI-zertifizierten Nano-PC, der WLAN-fähig ist und mit 500 Gramm und seiner geringen Größe viel leichter als ein Notebook zu transportieren ist, definiert. Im Rahmen des Lifecyles werden alle heutigen Desktop-PCs grundsätzlich gegen einen Nano-PC ausgetauscht. Allein in diesem Jahr bringen wir so rund 3.000 Nano-PCs in die Fläche.
Für das flexible Arbeiten innerhalb aller Dienstgebäudesetzen wir auf ein freies WLAN, das wir zur Verfügung stellen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass insbesondere neue Gebäudemeist sehr gut abgeschirmt sind und es nur einen relativ schlechten oder keinen Mobilempfang gibt. Daher stellen wir in der gesamten Deutschen Rentenversicherung Bund ein komplett freies WLAN zur Verfügung, welches wir sukzessive aufbauen. Hier in der Eisenzahnstraße und im Hochhaus nebenan steht es unter anderem schon komplett zur Verfügung. Physikalisch ist es getrennt von unserem Firmennetz. Trotzdem können wir das Internet nutzen, um die Verbindung zu unserem Firmennetz herzustellen. Damit haben wir auch einen Punkt des Koalitionsvertrags aufgegriffen, der besagt, dass die Behörden gehalten sind, ihren Bürgern ein freies WLAN anzubieten. Dass wir es geschafft haben, dieses freie WLAN als Standard in allen unseren Dienstgebäuden zukünftig bereitzustellen, sodass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch im Büro eine Nachricht ihrer Kinder, ihrer Eltern auf ihren eigenen Smartphones erhalten können, ist relativ innovativ, und wir schaffen damit wieder Rahmenbedingungen, die unsere Attraktivität als Arbeitgeberin erhöhen.
msg: Aus all dem haben Sie viele Erkenntnisse über die Arbeit der Zukunft gewonnen. Was würden Sie anderen Bundesbehörden oder Landesbehörden raten? Wovon würden Sie abraten? Was möchten Sie unseren Lesern noch als Fazit mit auf den Weg geben?
Harald Joos: Ich würde davon abraten, anderen Behörden etwas zu raten. Ich glaube, dass jede Behörde ihren eigenen Wegfinden muss. Das ist extrem abhängig von der Unternehmenskultur. Auch davon, ob Sie die richtigen Leute an den richtigen Stellen haben, die irgendetwas verändern wollen oder nicht. Mitunserem Direktorium haben wir hier bei uns gute Rahmenbedingungen dafür, etwas verändern zu können. Wichtig ist, Lust auf Veränderungen und Spaß an der Arbeit zu haben, nicht am Altenfestzuhalten. Wenn wir uns darauf einlassen, dann, glaube ich, haben wir eine Chance, eine andere Kultur der Zusammenarbeit zu etablieren, und wir kommen dann automatisch zu positiven Veränderungen in der Arbeitswelt.
msg: Vielen Dank, Herr Joos, für dieses interessante Interview.
Harald Joos: Sehr gerne, Herr Fritsche.
1 https://echte-it.de/ (abgerufen am 15.12.2020).