Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 04-2019
von Dr. Andreas Kahnert
In den letzten Jahren stieg die Tendenz in der Bundesverwaltung, Rahmenverträge mehr und mehr ressortübergreifend zu bündeln und zentral auszuschreiben. Insbesondere in den großen IT-Programmen, wie beispielsweise der IT-Konsolidierung und der Dienstekonsolidierung, werden Soft- und Hardware für die gesamte Bundesverwaltung beschafft.
Die Vergabeverfahren zu solchen Rahmenverträgen bergen aufgrund der zum Teil enormen Auftragshöhe und nicht selten wegen damit verbundenen Monopolstellungen der Bezuschlagten eine Menge von Stolperfallen, denen man in den bisherigen Verfahren nur selten oder gar nicht begegnete. Nicht zu unterschätzen ist die Gefahr, sich an Rügen der Bieter eine Projektverzögerung einzufangen, hinderliche Hürden in den Weg gestellt zu bekommen oder gar zu scheitern. Oft geht dies mit ungeplanten und schmerzlichen Kosten einher. Im Folgenden erfahren Sie, wie sich diese Risiken in solche Vergabeverfahren durch den Einsatz einer Bewertungskommission mindern, wenn nicht sogar ganz vermeiden lassen.
Anfang 2017 bat einer der Bietergemeinschaften im Vergabeverfahren einer der großen Maßnahmen der Dienstekonsolidierung mehr als die elf erlaubten Mitarbeiter zur ersten Verhandlungsrunde mitbringen zu dürfen. Das Produkt sei so vielschichtig und besitze einen so großen Funktionsumfang, dass Personen aus mehreren Fachbereichen vor Ort sein müssten, um kompetent antworten zu können. Das Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern gab der Bitte nach weiteren fünf Personen statt. Bei der ersten Angebotspräsentation erschien diese Bietergemeinschaft mit fünf Rechtsanwälten, sechs Vertrieblern und „nur“ fünf Produktspezialisten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass sich der Fokus bei den Bietern von der Produktpräsentation deutlich mehr auf den versierten Vertrieb verschiebt. Was aber waren die Aufgaben der fünf Juristen? Der vertragliche Rahmen war durch den EVB-IT abgesteckt und die Vertragsverhandlungen sollten erst nach Zuschlag beginnen. Der Beitrag der Juristen hielt sich dann auch in der ersten Verhandlungsrunde in Grenzen.
Betrachtet man den weiteren Verlauf des Verfahrens, so wird klar, dass die Anwälte nicht nur zur Vertragsgestaltung ins Vergabeverfahren einbezogen wurden: Das Verfahren musste drei Rügen begegnen.
Das Beschaffungsamt setzt in seinen Vergabeverfahren eigene Juristen ein. Diese sind jedoch in der Regel nicht nur in einem Verfahren tätig, sie begleiten meist mehrere Verfahren gleichzeitig. Betrachtet man den obigen Fall, so herrschte hier also ein deutliches Ungleichgewicht. Es wurde daher noch rechtzeitig weitere juristische Unterstützung durch anerkannte externe Beratung eingekauft. Fundierte Kenntnisse der rechtlichen Gegebenheiten in großen Verfahren sind eine wichtige Maßnahme zur Vermeidung von Verfahrensfehlern. Ebenso wichtig ist jedoch auch eine gute Planung und Vorbereitung des gesamten Vergabeverfahrens.
Auswahl und Einarbeitung einer Bewertungskommission
Die Rügen drehen sich meist um vom Bieter als ungerecht empfundene Bewertungen. Je größer der Auftragswert, desto eher lohnt sich eine juristische Prüfung vor der Vergabekammer. Eine transparente Entscheidungsfindung und eine verständliche Aufarbeitung des Ergebnisses erschwert einem Bieter den Einspruch. Auch lohnt es sich, viel Sorgfalt in die Auswahl und Vorbereitung der Bewertungskommission zu investieren. Sie sollte möglichst früh ins Leben gerufen werden und sich, wenn möglich, aus Personen zusammensetzen, die bereits an der Anforderungserhebung und der Erstellung der Leistungsbeschreibung mitgewirkt haben.
Der Erfolg einer Vergabe bemisst sich an mehreren Faktoren, wie zum Beispiel der Zeit bis zum Zuschlag, den Kosten der bezuschlagten Lösung und, besonders wichtig, aber oft vernachlässigt, der inhaltlichen Qualität der Ausschreibung selbst. Damit ist gemeint, wie gut die Lösung auf die Anforderungen passt, aber auch wie gut die Lösung am Ende von den unterschiedlichen Stakeholdern angenommen wird. Den stärksten Einfluss kann die Bewertungskommission auf diese Qualität nehmen. Dazu sollte die Kommission die Gesamtheit der Stakeholder abbilden. Die Interessen der Stakeholder sind nicht immer deckungsgleich. Daher ist es wichtig. Interessensgruppen (IG) zu identifizieren. Üblicherweise sind dies:
1. die Nutzer (in Amt und Behörden, aber unter Umständen auch Bürger und Unternehmen),
2. die Betreiber (die IT-Dienstleister des Bundes),
3. die Gremien und Beauftragten (BSI, BfDI und Datenschutzbeauftragte, Personalvertretung und Vertrauensperson der (schwer-)behinderten Personen),
4. das beschaffende Projekt und
5. die Beschaffungsstelle.
Um effizient in den Abstimmungen zu sein, Ausfälle zu verkraften und die Arbeitslast des Einzelnen zu reduzieren, empfiehlt es sich, mindestens drei, höchstens fünf Mitglieder je Interessensgruppe (IG) für die Bewertungskommission zu gewinnen. Bei ressortübergreifenden Beschaffungen sollten pro Interessensgruppe Personen aus mehr als einem Ressort eingesetzt werden, aber auch hier sollten es nicht mehr als fünf Personen je IG sein, da sonst die Zeiten für die Abstimmungen zu groß werden.
Jede Interessensgruppe bewertet im Laufe des Verfahrens diejenigen Anforderungen in den eingehenden Angeboten, die ihre Interessen betreffen. Bewerten mehrere Interessensgruppen dieselbe Anforderung, sollte vorher festgelegt werden, welches Stimmrecht eine Interessensgruppe hat.
Die Zeit eines Vergabeverfahrens hängt zum einen von den gesetzlich vorgegebenen Fristen ab, zum anderen von den Zeiten, die die Bewertungskommission für ihre Aufgaben benötigt. Bei großen Verhandlungsverfahren mit zwei oder drei Verhandlungsrunden kommt – in Abhängigkeit der Komplexität der zu beschaffenden Lösung und der Anzahl der zugelassenen Bieter – eine beträchtliche Arbeitslast auf die Mitglieder der Bewertungskommission (Bewertende) zu. Beispielsweise kamen in der Maßnahme „E-Akte Bund“ im Laufe des Verhandlungsverfahrens mehr als 10.000 Angebotsseiten und mehr als 20 ein- oder mehrtägige Verhandlungs- und Abstimmungstermine zusammen. Umfang und Aufgaben der Bewertenden sollten mit möglichen Kan didaten im Vorhinein intensiv besprochen werden, und wenn nötig eine Zustimmung ihrer Vorgesetzten eingeholt werden.
Abbildung 1: Prüfreihenfolge der Kriterien: a) alle Kriterien eines Anbieters b) Vergleich eines Kriteriums über alle Anbieter
Der Bewertungsprozess
Wie bereits oben angesprochen spielt die Transparenz der Entscheidungsfindung bei Rügen eine große Rolle. Die klare, offene Kommunikation der zur Bewertung eingesetzten Prozesse ist hierzu eine der entscheidenden Voraussetzungen. Die Bewertenden müssen sie genau kennen und sich exakt daran halten. Daher bietet es sich an, die Prozesse im Rahmen eines Konzeptes oder einer Geschäftsordnung niederzulegen. Das hilft nicht nur der Bewertungskommission, sondern im Fall einer Rüge auch der Vergabekammer.
Ein in der Praxis sehr bewährter Bewertungsprozess sieht eine Einzelbewertung, eine Abstimmung in der eigenen IG und eine abschließende Abstimmung mit allen Interessensgruppen vor. In Abhängigkeit von ihrer Interessensgruppe lesen alle Bewertende die eingehenden Angebote durch und bewerten die für sie relevanten Anforderungskriterien.
Wichtig ist es, bei der Bewertung sowohl ein Gefühl für jedes einzelne Angebot zu bekommen als auch die einzelnen Angebote miteinander zu vergleichen. Die Praxis hat gezeigt, dass viele Bewertende überfordert sind, wenn sie umfangreiche Angebote miteinander vergleichen müssen. Sie starten mit dem Lesen eines Angebots, bis sie auf etwas stoßen, das sie besonders interessiert, springen dann zu einem oder mehreren weiteren Angeboten, wechseln dort das Kriterium und vergleichen dann nach diesem Kriterium. Das spontane Springen führt zu häufigen Wiederholungen und oft auch zu vergessenen Bewertungen einzelner Kriterien.
Mit der Vorgabe des folgenden Prozesses kamen die meisten Bewertenden hingegen besser zurecht:
1. Lesen des Angebots von Bieter 1
2. Bewerten der Kriterien, die der eigenen Interessensgruppe zugeteilt sind, anhand des Angebotsschreibens in der Bewertungsmatrix
3. Notieren von Punkten, die geklärt werden müssen
4. Nacheinander Wiederholung von Schritt 1 bis 3 für die Bieter 2 bis 5 (Abbildung 1a)
5. Vergleichen jedes einzelnen Kriteriums aller Anbieter miteinander in einer zweiten Bewertungsrunde (Abbildung 1b)
Die Bewertenden notieren die Begründungen für ihre Bewertung. Nach Fertigstellung der Einzelbewertung findet in einer Sitzung der eigenen Interessensgruppe die Abstimmung der IG-Bewertung auf Basis der Einzelbewertungen der Bieterangebote nun kriterienweise statt. Die offenen Punkte aller Bewertenden werden diskutiert und gegebenenfalls für die Gesamtabstimmung notiert.
Die Ergebnisse der verschiedenen Interessensgruppen werden in eine gemeinsame Bewertungsmatrix übernommen. Dort, wo mehrere Interessensgruppen gleichzeitig bewerten und es zu unterschiedlichen Bewertungen kommt, muss man sich für jedes Kriterium auf einen gemeinsamen Punktwert einigen (Abbildung 2a). Dabei werden die offenen Punkte aus den IG-Abstimmungen diskutiert und gegebenenfalls für die Verhandlungsrunden vermerkt. Aus der gemeinsamen Punktevergabe ergibt sich die Rangfolge der Angebote. Abschließend muss überprüft werden, ob die Rangfolge den Gesamteindruck eines Bieters wiedergibt (Abbildung 2b).
Vorbereiten, Durchführen und Nachbereiten der Verhandlungsrunden
Aufgrund der unterschiedlichen Fragen an die jeweiligen Bieter werden die folgenden Punkte für jede Verhandlungsrunde und jeden Bieter gesondert durchgeführt.
1. Besprechung der bieterunabhängigen offenen Punkte: Was sollen alle gefragt werden?
2. Besprechung der offenen Punkte zu diesem Bieter aus dem Bewertungsprozess und der vorherigen Verhandlungsrunde: Was soll speziell mit diesem Bieter geklärt werden?
3. Festlegung der Verhandlungsziele
4. Festlegung der Fragen je Interessensgruppe
5. Festlegung der Teilnehmer
6. Festlegen der Rollen und Aufgaben der Teilnehmer in der Verhandlungsrunde:
- Verhandlungsführer/-in
- IG-Führer/-in – stellt die Fragen der IG (je IG eine Person)
- Protokollant/-in
Abbildung 2: a) Vergleich der Punktwerte für ein Kriterium b) Bewertung des Gesamteindrucks
Die Leistungsbeschreibung sorgt im Allgemeinen für eine gute Vergleichbarkeit der schriftlichen Angebote. Besonderes Augenmerk muss aber auch auf eine Vergleichbarkeit in den Angebots- beziehungsweise Produktpräsentationen und Verhandlungen gerichtet werden. Verhandlungsführende können durch gezielte Fragen die Richtung der Gespräche steuern. Dazu muss im Vorfeld genau herausgearbeitet werden, welche Fragen den anderen Bietern gestellt wurden oder noch gestellt werden müssen. Ohne systematische Protokollierung und Vorbereitung verliert man schnell den Überblick und damit die Kontrolle über das Verfahren. Bei komplexen Fragen kann es sinnvoll sein, diese vor der kommenden Verhandlungsrunde dem Bieter mitzuteilen, um ihm so die Möglichkeit der Aufbereitung der Antwort zu geben und gegebenenfalls Demonstrationen vorzubereiten.
Im Gegensatz zur ausschließlichen Angebots- und Produktpräsentation stellt das Verhandlungsverfahren zusätzliche Anforderungen an die Mitglieder der Bewertungskommission. Oft liegen mehrere Wochen zwischen den einzelnen Verhandlungsrunden und ein Erinnern der vergangenen Gesprächsinhalte je Bieter fällt schwer. Eine möglichst genaue Protokollierung von Präsentation und Verhandlung hilft, sich zu erinnern, und verhindert, dass man aus Versehen Inhalte von Gesprächen mit anderen Bietern preisgibt. Offeriert einer der Bieter eine Funktionalität, die in die Bewertung einfließen soll, müssen die anderen Bieter spätestens zur nächsten Angebots- beziehungsweise Verhandlungsrunde die Möglichkeit erhalten, ihr Angebot entsprechend nachzubessern. Dies geschieht üblicherweise über eine Anpassung der Leistungsbeschreibung. Oftmals ergibt sich das Interesse an weiteren Funktionalitäten erst im weiteren Verlauf des Vergabeverfahrens. Auch hier gilt es, ein Bewusstsein zu schärfen, dass Bewertungen und Entscheidungen, die auf nicht abgestimmte Notizen Einzelner zurückgehen, im Fall einer Rüge zu Vorteilen für die Gegenseite führen können.
Am Ende jeder Verhandlungsrunde sollte sich die Bewertungskommission daher zu einem Review-Gespräch zurückziehen, in dem sowohl Verlauf als auch Inhalte besprochen und wichtige Punkte sowie Erläuterungen als Anhang zum Protokoll niedergeschrieben werden. Protokoll und Anhang sollten der Bewertungskommission möglichst zeitnah zur Freigabe vorgelegt werden. Verschriftlichung und Gegenzeichnung durch die Bewertenden stellen eine „starke Waffe“ bei der Begegnung von Rügen dar. Da sie nicht erst erstellt werden müssen, wenn der Schadenfall eingetreten ist, spart dieses Vorgehen zudem wichtige Zeit ein.
Mit dem oben beschriebenen Vorgehen konnte die Vergabekammer im eingangs erwähnten Verhandlungsverfahren in Rekordzeit die Rügen prüfen und als nicht gerechtfertigt ablehnen. So war es möglich, das Vergabeverfahren mit vorgeschaltetem Teilnahmewettbewerb, zwei Verhandlungsrunden und einem „Last Call“ bis zum Zuschlag in nur 13 Monaten abzuschließen.
Fazit
Mit der Bündelung von themenbezogenen Beratungsaufträgen zu immer größeren Rahmenverträgen wächst der Druck auf die Beraterhäuser, aus einem Vergabeverfahren als Gewinner hervorzugehen. Oftmals erhalten die Bezuschlagten eine Monopolstellung für die Rahmenvertragsthemen in weiten Teilen der Bundesverwaltung, zunehmend auch Ressortübergreifend. Für die Verlierer kann das unter Umständen sogar existenzbedrohend werden, da sie dann in dem doch relativ geschlossenen Markt keine Aufträge mehr erhalten. Dies führt zu einer stetig wachsenden Rügebereitschaft der Bieter. Immer öfter suchen deren Juristen aufmerksam nach Fehlern im Vergabeverfahren. Gegen die zeitlichen und finanziellen Einbußen, die Rügen mit sich bringen, hilft nur ein sehr formelles und gut strukturiertes Vorgehen einer gut vorbereiteten und eng geführten Bewertungskommission.