Interview mit Professor Christoph Meinel, ehemaliger Direktor des Hasso-Plattner-Instituts. Das Interview ist zuerst erschienen in der Digital Insight April 2023.
msg: Herr Professor Meinel, wieso wird der Begriff „digitale Souveränität“ so vielfältig diskutiert und welche Aspekte halten Sie hier für entscheidend?
Professor Christoph Meinel: Was durch die Digitalisierung passiert, hat es so in der Technikentwicklung noch nicht gegeben. Es entsteht eine digitale, von der physischen Welt losgelöste Parallele, in der andere Gesetzmäßigkeiten gelten als in der nichtdigitalen Welt. Zeit, Schwerkraft und räumliche Grenzen spielen im digitalen Raum keine Rolle. Wir sind die erste Generation, die es lernt, sich im digitalen Raum zu bewegen. Wenn wir jetzt zu der Frage der Souveränität kommen, dann geht es genau um die Bewegung in diesem Raum. Souverän bedeutet, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln. Es geht darum, eigenständig bei Entscheidungen nicht auf andere Akteure angewiesen zu sein. Das hat nichts mit Autarkie zu tun. Die digitale Souveränität umfasst konkret die Möglichkeit, Daten in eigener Hoheit zu halten, zu verarbeiten und zu verwerten. In diesem Kontext muss besonders die Rolle des Staates geklärt werden. Zurzeit wird der digitale Raum von großen US-amerikanischen und chinesischen Unternehmen bestimmt. Staatliche Regulierungen sind an Staatsgebiete gebunden, klassische Prinzipien gelten also nur bedingt. Nationale bzw. europäische Gesetze lassen sich nur schwer im digitalen Raum abbilden. Die Tatsache, dass ein Server in Deutschland steht, hat nicht allzu viel Einfluss darauf, was mit den Daten auf diesem Server passiert, auch wenn das fälschlicherweise oft angenommen wird.
msg: Warum ist die Frage nach digitaler Souveränität so wichtig geworden? Ist das eine Folge des Krieges?
Meinel: Je weiter die Digitalisierung in allen Lebensbereichen voranschreitet, desto wichtiger werden die Rolle und die Frage nach digitaler Souveränität. Das war auch schon vor dem Ukrainekrieg ein Thema, wobei die neue Weltsituation den Diskurs natürlich antreibt. Schon während der Trump-Präsidentschaft geriet in Europa die Diskussion um Souveränität zum ersten Mal in den Fokus. Die US-Außenpolitik führte dazu, dass wir in Europa hinterfragt haben, wie wir uns positionieren und wie souverän wir ohne amerikanische Hilfestellung in vielen Bereichen wirklich sind. Die Digitalisierung wird nicht wieder aus dieser Welt gehen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich das Internet so schnell und innovativ entwickelt, dass die Auswirkungen global wirksam sind. Beim Internet selbst handelt es sich um etwas Nichtstaatliches. Das macht die Frage nach der Rechtslage und der Hoheit über Daten in diesem Raum so wichtig und aktuell.
msg: Wo stehen Deutschland und die europäische Union in Bezug auf ihre digitale Souveränität?
Meinel: Heute sehe ich noch nicht, dass Deutschland und Europa in der Lage sind, digital souverän zu handeln. Das ist eine wichtige Diskussion, die hier geführt werden muss. Es geht darum zu entscheiden, ob wir etwas unternehmen müssen, um nicht in eine dauerhafte Abhängigkeit zu gelangen. Dabei ist es nicht entscheidend, zu wem eine Abhängigkeit besteht, sondern die Abhängigkeit grundsätzlich. Gewisse Verflechtungen bestehen immer, aber eine systematische Abhängigkeit verbindet sich für mich nicht gut mit dem Anspruch, ein weltweit führendes Industrieland zu sein und in der Welt vorne zu stehen. In Europa wird oft sehr viel über Risiken und Regulierungen nachgedacht. Die Schwierigkeit liegt aber darin, dass ohne eigene Infrastrukturen Regulierungen nur schwer durchsetzbar sind. Stattdessen entwickeln amerikanische Unternehmen Infrastrukturen, verbessern diese und erhalten unreguliert europäische Daten. Es wird immer sichtbarer, dass unsere deutsche und europäische Gesellschaft nicht digital souverän handeln kann.
msg: Warum stehen „wir“ hier und welche Risiken sehen Sie in diesem Zusammenhang?
Meinel: Die Frage ist: Warum braucht es Souveränität? Wie lässt sich unser Rechtsstaat in der digitalen Welt durchsetzen? Wie können Bürger und Bürgerinnen digital geschützt werden und wie wird mit Cyberkriminalität, auch aus dem Ausland, umgegangen? Was bedeutet Privatsphäre im digitalen Zeitalter? Das sind Themen, bei denen der Staat eine Verantwortung hat und diese auch in der realen Welt wahrnimmt. Nun stellt sich die Frage, wie man diese Verantwortung in den digitalen Raum ausweitet, obwohl man in den genutzten Technologien abhängig ist von anderen Akteuren. Schließlich müssen wir hinterfragen, was mit unseren Daten geschieht. Die NSA-Enthüllungen haben warnend aufgezeigt, dass wir überlegen müssen, wie gläsern wir in der digitalen Welt sind und dass die Hoheit über unsere Daten in großen Teilen nicht bei uns liegt. Wenn der Staat nicht in der Lage ist, Daten und Infrastruktur zu etablieren und zu schützen, sind die ganze Gesellschaft, die Wirtschaft und der Wohlstand angreifbar.
msg: Welche Rolle spielt das Cloud Computing bei der Frage nach digitaler Souveränität?
Meinel: Cloud Computing zeigt, wie effizient diese Infrastrukturen sein können. Daten können zur Verarbeitung um die ganze Welt an Rechner geschickt werden, auf denen gerade Rechenkapazitäten verfügbar sind, die sich effizient nutzen lassen. Anwendungen müssen nicht in einem einzelnen Rechenzentrum laufen, sondern in einem „Überlauf“-System sind verfügbare Kapazitäten weltweit nutzbar. Welche Bedeutung Cloud-Technologien für die digitale Souveränität haben, ist mir besonders im Rahmen unseres Schul-Cloud-Projektes bewusst geworden, mit dem wir in Pandemiezeiten eine digitale Infrastruktur für Schulen bereitgestellt haben. Da es sich dabei um ein öffentlich gefördertes Projekt mit dem BMBF handelte, gab es gesetzliche Vorgaben, die einzuhalten waren. Daten von minderjährigen Schülerinnen und Schülern sind besonders sensibel und durften nur mit deutschen Cloud-Anbietern und über den Einsatz einer Pseudonymisierungsschnittstelle gespeichert und verarbeitet werden. In ausländischen Clouds wären die Vorgaben nicht sicherzustellen gewesen. Der Staat steht in der Verantwortung dafür zu sorgen, dass die Verarbeitung der Daten seiner Bürgerinnen und Bürgern unter geltendem Recht erfolgt. Dafür ist entweder eine eigene Infrastruktur bereitzustellen oder das geltende Recht auf bestehende Strukturen auszuweiten. Solange das nicht der Fall ist, können wir nicht von digitaler Souveränität sprechen.
msg: Welche Probleme und Spannungsfelder ergeben sich hier? Zeigt sich diese Problematik auch im Hinblick auf Cloud Act und DSGVO?
Meinel: Es gibt staatliche Bereiche, wozu ich auch den Schulbereich zähle, bei denen der Staat dafür sorgen muss, dass die Datenverarbeitung unter den gültigen Gesetzen stattfindet. Es herrscht jedoch große Unklarheit darüber, welches Datenschutzrecht in der Cloud gilt. Wenn Europa die Gesetze und Regulierungen, die es erlässt, effektiv durchsetzen will, muss es in die eigene Infrastruktur investieren. Solange wir infrastrukturell abhängig sind, lassen sich keine Gesetze durchsetzen, die die Nutzung dieser Infrastrukturen regulieren. Um effektiv regulieren zu können, müssen wir selbst Strukturen bereitstellen und dort die Rechtsgrundlagen sicherstellen. Bei solchen digitalen Infrastrukturen geht darum, sich sicher anmelden zu können, Daten sicher abzulegen und sicher zu kommunizieren. Das sind Dinge, die bei jeder digitalen Anwendung gebraucht werden, egal ob beim Einwohnermeldeamt oder bei der Kfz-Zulassungsstelle. Im Gegensatz zu anderen Ländern hat Deutschland sehr viel Geld in die Digitalisierung gesteckt, leider ohne großen Erfolg. Um in der Zukunft mehr Erfolge zu sehen, sind die digitalen Systeme und Anwendungen so zu bauen, dass sie flächendeckend von sehr vielen Personen genutzt werden können. Nur so werden sie im Gebrauch sicher und die Effizienz der Digitalisierung kann erreicht werden.
msg: Immer wieder wird die Bedeutung sogenannter Hyperscaler aus China und den USA diskutiert. Welche Rolle spielen diese und wo stehen deutsche und europäische Cloud-Anbieter in diesem Wettbewerb?
Meinel: Der entscheidende Unterschied ist, dass die europäischen Cloud-Anbieter nicht unter dem Nutzungsdruck der Hyperscaler stehen. Das haben wir auch beim Schul-Cloud-Projekt gesehen. Wir haben mit deutschen Cloud-Anbietern zusammengearbeitet und im Projekt gemerkt, dass die Anbieter noch nicht alle Anforderungen unmittelbar so erfüllen konnten, wie gefordert. Unter dem Druck und mit den Ressourcen des gemeinsamen Projekts ist es ihnen aber an vielen Stellen gelungen, die benötigen Anforderungen und technischen Voraussetzungen nachträglich selbst zu entwickeln und bereitzustellen. Das zeigt: Die deutschen und europäischen Cloud-Anbieter sind genauso in der Lage, Dinge zu entwickeln und technisch sicherzustellen, wie die Hyperscaler. Vorausgesetzt die entsprechende Projekt- und Nutzerlast ist vorhanden.
msg: Wie kommen wir denn dahin, dass wir unsere europäischen beziehungsweise deutschen Unternehmen stärker nutzen können?
Meinel: Der Wirtschaft kann nicht vorgeschrieben werden, welche Anbieter und Plattformen sie nutzen soll. Allerdings kann dies im Bereich des Staates geschehen, wie bei der Schul- Cloud. Wenn der Staat in seinem Bereich Vorgaben setzt zur Nutzung von Plattformen, können die genutzten Strukturen wachsen und optimiert werden. Wenn einmal erste Massendaten in einer deutschen oder europäischen Cloud gespeichert sind, bietet das die Chance, diese Systeme weiter zu optimieren und so auch attraktiver für Nutzer und Unternehmen zu werden.
msg: Gibt es angesichts der Risiken Alternativen zur Cloud?
Meinel: Ich sehe keine Alternative zur Cloud-Nutzung. Um es in Bildsprache zu sagen: „Rechenleistung aus der Cloud ist wie Strom aus der Steckdose.” Die Möglichkeit, weltweit und ortsunabhängig Rechenleistung zur Verfügung zu haben, macht den Vorteil der Cloud aus. Unwichtig ist dabei, ob mein Eingabegerät ein PC oder ein Smartphone ist. Die Anwendungen laufen alle in der Cloud. Von daher gibt es keine Alternative.
msg: Welche Voraussetzungen brauchen wir zum Erreichen digitaler Souveränität und was würden Sie der Politik und auch Unternehmen empfehlen?
Meinel: Die Politik muss im staatlichen Bereich Vorgaben schaffen und durchsetzen; überdies muss sie die Bereitstellung eigener großflächiger einheitlicher digitaler Infrastruktur ermöglichen. Erst wenn vom Staat verarbeitete Massendaten auf deutschen oder europäischen Plattformen laufen, können diese Systeme optimiert werden und so auch für Unternehmen attraktiver werden. Ohne das Schaffen der eigenen Strukturen wird es unmöglich sein, die eigenen Gesetze und Regulierungen durchzusetzen und digital souverän zu handeln. Für Unternehmen hingegen wäre es hilfreich, die Funktionalitäten der Hyperscaler in einer europäischen Cloud zur Verfügung zu haben. Die Wirtschaft muss es sich zu eigen machen, Geschäfte in europäischen Konstrukten und einer eigenen, souveränen Cloud zu führen. Ob das funktioniert, werden wir sehen. Am Ende ist digitale Souveränität kein fester Zustand; gewisse Abhängigkeiten und Verflechtungen werden bestehen bleiben. Es geht darum, diese auf ein kontrollierbares Minimum zu begrenzen.
msg: Vielen Dank!
Das Interview führten Lennard Munschke, Coordinator Digitalpolitik, msg, und Lisa-Marie Schmidt, Business Consultant Digitalpolitik, msg.
Professor Christoph Meinel war über 18 Jahre Direktor des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam. Seit 2004 arbeitete der studierte Informatiker und Mathematiker an Projekten wie dem Aufbau und der Gründung der Digital-Engineering-Fakultät an der Universität Potsdam, der Gründung der HPI-School-of-Design-Thinking und nicht zuletzt am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Pilotprojekt HPI Schul-Cloud. Christoph Meinel war Professor an der Universität Trier, Gastprofessor an der Universität Luxemburg und Honorarprofessor an der Technischen Universität Peking. Er ist Chairman des German IPv6-Councils und seit 2019 in die New Internet IPv6 Hall of Fame aufgenommen. In seiner Rolle als HPI-Direktor eröffnete er im Jahr 2006 zusammen mit Hasso Plattner und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel den 1. Nationalen IT-Gipfel (heute Digital-Gipfel). Professor Christoph Meinel emeritierte zum 31.03.2023 und sprach zuvor mit msg in seiner Position als HPI-Direktor über die Zukunft der Cloud.