Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 03-2019
Jürgen Fritsche, Geschäftsleitung Public Sector, sprach am 2. Mai 2019 mit Henning Lühr, Staatsrat im Finanzressort der Hansestadt Bremen, über drängende Personalthemen der öffentlichen Verwaltung und über die Arbeit an der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG).
msg: Danke, Herr Lühr, dass Sie sich Zeit nehmen für dieses Interview. Wir möchten mit Ihnen vor allem über das Thema „Spitzenkräfte für die öffentliche Verwaltung“ sprechen, das Schwerpunkt der September-Ausgabe unseres Kundenmagazins ist. Das Statistische Bundesamt hat 2016 ermittelt, dass jeder vierte Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung älter als 55 Jahre ist. Und laut einer Studie von McKinsey gehen bis 2030 mehr als ein Drittel der Beschäftigten im öffentlichen Sektor in den Ruhestand. Die Demografie sorgt also für zahlreiche Herausforderungen für die öffentliche Verwaltung. Gleichzeitig kommen durch die Digitalisierung neue Aufgaben dazu, für die Fachleute gebraucht werden. Was meinen Sie: Droht der öffentlichen Verwaltung aufgrund des demografischen Wandels die Handlungsunfähigkeit?
Henning Lühr: Nein, ich meine, es droht kein Chaos und auch keine Katastrophe. Aber es stimmt, sowohl die Politik als auch die Verwaltungsentscheider haben lange Zeit nicht ernst genommen, was mit der demografischen Entwicklung auf uns zukommt. Das Thema hat ja mehrere Dimensionen. Wir müssen uns zum Beispiel fragen, wie sich die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung durch die Demografie verändern. In Bremen sind beispielsweise 140.000 von 640.000 Einwohnern über 65 Jahre. Die werden mit ihren besonderen Bedürfnissen zu einer weiteren Herausforderung für die Verwaltung. Und dazu kommt das Problem der Altersstruktur in der Verwaltung. Hier müssen wir uns überlegen, ob wir mit der frühen Verrentung weitermachen wollen. Oder wie wir altersgerechte Stellen schaffen können. Also altersgerechte Formate aufbauen, Belastungsstrukturen verändern, Know-how nutzen. Ich selbst bin ein Beispiel dafür. Ich bin 68 Jahre alt und habe meinen Dienstvertrag verlängert, um meine Erfahrungen einzubringen.
Ebenso wichtig ist die Nachwuchsgewinnung. Ich finde, wir neigen – nicht nur in Bremen, sondern im gesamten öffentlichen Sektor – dazu, immer, wenn Hans ausscheidet, Hänschen zu suchen. Also für einen immer gleich ausgestalteten Arbeitsplatz einen Mitarbeiter mit möglichst identischem beruflichen und biografischen Hintergrund. Das werden wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können. Wir brauchen eine andere Orientierung. „Rock the Recruiting“, wie unsere jungen Planer sagen. Wir müssen neue Bereiche der Gesellschaft erschließen, und das heißt zum Beispiel auch in den Bereich der Migration. In Bremen waren wir hier schon nach der ersten Flüchtlingswelle aktiv, sodass die ersten Absolventen jetzt in den Beruf gehen. Wir haben ein Ausbildungsprogramm aufgebaut, mit vorbereitendem Jahr, mit begleitenden Sprachkursen und so weiter, mit dem wir ungefähr 550 junge Leute aus verschiedenen Ländern in unser Qualifizierungssystem gebracht haben.
Ein weiteres Stichwort ist Arbeitgebermarke: Wir haben schon 2016 unser Programm „Personal 2025“ aufgesetzt, in dem wir uns mit dem Thema Arbeitgeberdachmarke beschäftigt haben. Mit der Frage, was wir eigentlich wollen als öffentliche Verwaltung. Wir haben Imagefilme mit Fußballprofis von Werder Bremen gemacht, in denen junge Leute vom Gartenbauamt, die den Stadionrasen pflegen, mit den Profis gesprochen haben. Und wir haben jetzt gerade das Karriereportal Bremen freigeschaltet, mit dem Slogan: „Mach Bremen zu deinem Beruf“. Außerdem gehen wir auch mit gezielten Werbeaktionen für eine Ausbildung in der öffentlichen Verwaltung auf Wanderschaft.
Die Digitalisierung ist ein Glücksfall für die Demografischen Herausforderungen.
msg: Dies alles scheint ja erst einmal wenig mit Digitalisierung zu tun zu haben. Aber wenn es wirklich zu einem eklatanten Mangel an Arbeitskräften kommt, könnte die Automatisierung doch eine Chance sein, um Routineaufgaben zu erledigen. Damit die Mitarbeiter, die es noch gibt, mit den knackigeren Problemen betraut werden können. Maschinen können ja nicht alles lösen.
Henning Lühr: Ich glaube, die Digitalisierung ist ein Glücksfall für die demografischen Herausforderungen. Aber die Analyse, dass alle einfachen Tätigkeiten durch Automatisierung wegfallen, ist nur vom Augenschein her einleuchtend. Es gibt andere Analysen, die sagen, dass qualifizierte Sachbearbeiter benötigt werden, um im Rahmen algorithmischer Anwendungen bestimmte Themen weiterzubearbeiten. Daher werden wir auch zukünftig viele Mitarbeiter brauchen. Dazu kommt, dass unser beschäftigungspolitisches Ziel ist, in der öffentlichen Verwaltung die Bevölkerungsstruktur widerzuspiegeln. Das ist schon aus Akzeptanzgründen wichtig. Wir können nicht erst beim Abiturienten anfangen, wir brauchen Leute, die in verschiedenen Funktionen tätig sind. Immerhin haben wir einen Produktgruppenhaushalt, in dem mehr als 3.000 Produkte abgebildet sind, und wir haben 500 verschiedene Berufe.
msg: 3.000 Produkte nur für Bremen?
Henning Lühr: Nur für Bremen, ja. Das geht von der Führerscheinerstellung bis zur Zwangseinweisung in die Psychiatrie oder der Anhörung von Personen, die inhaftiert werden, und vieles mehr. Ganz unterschiedliche Berufsgruppen also. Wir haben hier alles: Wir sind beispielsweise der größte Einfuhrhafen für ausländisches Rindfleisch, wir beschäftigen siebzig Tierärzte und Lebensmittelkontrolleure. Aber dann kommt es zum Brexit und plötzlich haben wir 25 Tierärzte zu viel, die wir theoretisch umschulen müssten. Aber wir können aus einem Tierarzt ja keinen Kinderarzt machen. Für solche Situationen haben wir ein eigenes Betreuungsbüro, das bei Umstrukturierungen hilft oder Umschulungen durchführt. Das zeigt aber, dass wir dieses Thema in der öffentlichen Verwaltung organisch anlegen müssen. Wenn wir das nur statisch angehen und sagen, Finanzbeamte werden durch die Automatisierung weniger gebraucht, wir stellen keine mehr ein, dann haben wir irgendwann überhaupt keine Leute mehr.
msg: Sie setzen also auf Ausbildung?
Henning Lühr: Ja, und ich habe schon vor 16 Jahren, als ich hier angefangen habe, gesagt, wir müssen die Ausbildung wieder voranbringen. Meine Vorgänger haben mehrere Jahre lang auf Ausbildung verzichtet, das merken wir heute, wenn wir bestimmte Funktionen besetzen möchten. Aber es nützt ja nichts, wenn ich im Städtetag oder in der Innenministerkonferenz oder in der Finanzministerkonferenz, wo ich IT-Koordinator bin, den Kollegen immer was vorjaule und sage, was alles verändert werden müsste. Wir müssen versuchen, Dinge selbst zu bewegen. Dennoch, ich sagte es ja schon: Der gesamte Status ist erheblich verbesserungsbedürftig.
msg: Welche Rolle spielen in Ihrer Ausbildungsstrategie denn die „neuen“ Themen wie Digitalisierung, Servicedesign, vielleicht auch künstliche Intelligenz?
Henning Lühr: Gerade bei der Ausbildung hat sich durch die Digitalisierung einiges getan. Unsere Verwaltungsauszubildenden arbeiten an eigenen Laptops und lernen anhand des Modells einer Start-up-Firma. So bauen sie sich nach und nach eine Lernversion mit den Gesetzesmaterialien und allem, was sie für ihre praktische Arbeit brauchen, auf. Wir haben ein eigenes Schulungszentrum für IT, ein IT-Labor, auch mit hauptamtlichen Dozenten. Da wir außerdem auch Leute brauchen, die Projektmanagement können, haben wir ein Inhouse Consulting aufgebaut.
Und gerade heute Vormittag haben wir einen Vertrag mit der Universität Bremen über einen Lehrstuhl E-Government mit Graduiertenschule und der wissenschaftlichen Mitarbeiterausstattung abgeschlossen, den wir jährlich mit 350.000 Euro finanzieren. Dort können wir unsere Bachelor- und Master-Studenten dann noch viel zielgerichteter für unsere Verwaltungszwecke ausbilden. Bisher hatten wir uns dafür in Hamburg und in Schleswig-Holstein eingekauft.
msg: Wie viele Studentinnen und Studenten können Sie dort im Jahr ausbilden?
Henning Lühr: Wir bieten ein duales Studium an, mit Bachelorund Masterabschluss. Und ein Graduiertenförderungsprogramm für Doktoranden von uns. Es gibt hier zwei Häuser weiter eine „IT-Garage“, wo sie in konkreten Projekten mitarbeiten können. Das ist dann nicht mehr das klassische Lernen im Klassenverband oder am Bildschirm, sondern „Quali to go“. Es reicht ja nicht, zu sagen, die Neuen sind von den Bremer Digitalmusikanten. Das muss ja auch alles mit Qualität hinterlegt sein.
Wir müssen die Leute, die da sind, auch in der IT weiterentwickeln.
msg: Wenn Sie die Verwaltungsausbildungsgänge anschauen, die es an den Verwaltungshochschulen in Deutschland gibt, sehen Sie also Reformbedarf?
Henning Lühr: Ja, aber es gibt auch schon gute Ansätze. Brandenburg hat zum Beispiel viel gemacht. Und viele andere Länder und auch der Bund haben eigene Studiengänge aufgesetzt, vor allem für IT. Aber es kommt natürlich auch auf die inhaltliche Auseinandersetzung an, auf die spezifischen Fachkenntnisse. Indem ich nur den Namen umetikettiere, habe ich ja noch keine neue Qualität geschaffen. Nehmen wir zum Beispiel die Polizei. Ein Polizist, der Fahndung betreibt, muss mindestens auch über ein Drittel bis vierzig Prozent reflektierte IT-Kenntnisse verfügen. Anwendungsbezogen, aber auch in der Reflexion, weil er ja in der Lage sein sollte, diese weiterzuentwickeln. Extern zugekaufte IT-Experten können das gar nicht leisten. Bei Verwaltungsleuten ist das genauso. Es bringt also nichts, einfach IT-Spezialisten ohne Fachkenntnisse dazuzuholen. Wir müssen die Leute, die da sind, auch in der IT weiterentwickeln, flächendeckend qualifizieren. Und genau das machen wir bei uns.
msg: Seit wann genau legen Sie in der Ausbildung schon den Fokus auf IT oder E-Government?
Henning Lühr: Seit gut zehn Jahren, aber mit zunehmender Intensität.
msg: Und wie motivieren Sie die Leute, sich mit neuen Aufgaben zu beschäftigen – oder gewinnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Mut dazu haben?
Henning Lühr: Es ist immer die Frage der Personalentwicklung. Wir haben ein Nachwuchsprogramm, das ich damals gleich am Anfang meiner Zeit als Personalchef aufgelegt habe. Wir stellen jedes Jahr 15 neue Leute ein, auch bevorzugt aus Unternehmensberatungen, die nicht jeden Abend mit einer Pizza auf den Knien am Laptop sitzen wollen, sondern sich auch mal um ihre Kinder kümmern möchten. Wir haben den Leuten gesagt, hier habt ihr Gestaltungsmöglichkeiten. Allerdings muss man sie dann auch gestalten lassen. Im oft restriktiven Ausbildungssystem werden sie „dressiert“ wie Flöhe in einem Flohzirkus. Die springen auch immer nur zwanzig, dreißig, vierzig Zentimeter hoch, obwohl ein Floh viele Meter hoch springen kann. Aber wenn er 30.000-mal gegen eine Glasplatte gestoßen ist, dann macht er das nicht mehr. So ist das in der Verwaltung auch, und deshalb glaube ich, dass es bei uns viel verschüttete Kreativität gibt. Gerade weil wir auch Leute gesucht haben, die ein bisschen unkonventioneller sind oder eine etwas gebrochene Lebensbiografie haben. Aber dann dürfen wir eben auch keine Glasplatte einlegen.
Wir können Gestaltungsmöglichkeiten bieten
msg: Was muss die öffentliche Verwaltung tun, um sich als Arbeitgebermarke neu zu positionieren?
Henning Lühr: Ich glaube, man müsste den Leuten vermitteln, dass es den typischen Verwaltungsarbeitsplatz nicht gibt. Das ist wie bei einer Fußballmannschaft. Wir brauchen Leute, die die unterschiedlichsten Funktionen abbilden. Durchaus Leute mit einem gewissen Sicherheitsstatus, die Themen abarbeiten möchten. Aber für mittlere und höhere Führungsqualifikationen brauchen wir immer mehr Leute, die gestalten wollen. Wir können ihnen zwar nicht Supergehälter bieten, aber wir können ihnen Gestaltungsmöglichkeiten bieten. Aber wie gesagt, dann muss man sie auch gestalten lassen. Wir machen alle zwei Jahre einen Workshop, bei dem die Nachwuchskräfte darüber diskutieren, was sie in der Verwaltung ändern würden, wenn sie es könnten. Dort zeigt sich gerade in den letzten Jahren, dass diese Leute auch gestalten wollen. Solche jungen Leute müssen wir rekrutieren. Wir haben in den letzten 25 Jahren ca. 480 Leute in unseren Nachwuchspool eingestellt. Davon haben wir zwar 210 wieder verloren. Die wurden uns von der privaten und öffentlichen Wirtschaft abgeworben. Aber deswegen stellen wir keine „Mittelmäßigen“ ein, wir wollen nur die Besten. Wir suchen Leute, die im Ausland waren, besondere Erfahrungen oder Qualifikation haben. Gerade haben wir jemanden eingestellt, der zwei Jahre bei der UN war und jetzt Projektmanagement machen möchte. Ob er die nächsten 40 Jahre bei uns bleiben will, weiß er nicht. Es gibt immer auch eine Fluktuation.
msg: Abiturienten oder Absolventen wollen immer zu einer Marke gehen, zu Mercedes, Google oder Microsoft. Warum? Weil sie die kennen. Die Verwaltung müsste mit anderen Assets werben. Zum Beispiel mit Entwicklungsmöglichkeiten, mit einem ausgefeilten Personalentwicklungskonzept. Sie müsste Marketing machen. Was macht die Verwaltung in dieser Richtung?
Henning Lühr: Wir haben zum Beispiel das Karriereportal aufgesetzt, und wir haben das Programm „Personal 2025“. Wir bauen die Arbeitgebermarke weiter aus, zum Beispiel mit den Werbefilmen, die wir mit den Profis von Werder Bremen gemacht haben. Wir möchten den Leuten vermitteln, dass sie dort hingehen sollen, wo sie gestalten können: Wenn du nicht für jeden arbeiten willst, dann arbeite für alle. Wir haben unsere Auszubildenden in die Schulen geschickt, wir haben Ausbildungsmessen nur mit Auszubildenden veranstaltet, wo sich Schüler informieren konnten. Wir sagen also nicht, komm in die Verwaltung. Wir sagen, komm nach Bremen – Bremen ist eine innovative Stadt, in Bremen entwickelt sich was.
Abbildung 1: Henning Lühr
msg: Das sind vorbildliche Initiativen, aber wir haben 16 Bundesländer, und jedes Land muss etwas tun. Und wir haben den Bund. Wäre es nicht sinnvoll, diese vielen Initiativen zu bündeln?
Henning Lühr: Das ist eine schwierige Frage des Föderalismus. Wir rekrutieren zum Beispiel viele unserer Polizistinnen und Polizisten, bevorzugt gute Abiturienten mit gutem sportlichem Hintergrund, aus dem Umland. Das ist eine bestimmte aufstiegsorientierte Klientel, da haben wir uns ein Renommee aufgebaut. Aber wir schaffen es nicht, zusammen mit Niedersachsen Werbung zu machen. Also zu sagen: „Niedersachsen und Bremen suchen ...“ Aber wir haben der Nord-West-Region – das sind um die 25 Kommunen von Verden bis Cuxhaven – angeboten, mit unserem Slogan „Mach Bremen zu deinem Beruf“ zu werben. Und das machen die jetzt auch.
msg: Das Bewusstsein, etwas für das Allgemeinwohl tun zu wollen, ist also da.
Henning Lühr: Und, dass man bei uns etwas gestalten kann! Die Interessen der Bürger vertreten! Ich glaube, das wird unsere Chance sein, an gute Leute zu kommen. Auch wenn man bei uns kein Millionär werden kann. Aber wir müssen auch bestimmte Anforderungen erfüllen, Work-Life-Balance und solche Sachen. Deswegen haben wir viele hochqualifizierte junge Frauen, aber auch immer mehr Männer, die gerne zu uns kommen. Weil sie eben diesen Gestaltungsspielraum und diese Work-Life-Balance bei uns haben.
Abbildung 2: Jürgen Fritsche und Henning Lühr
msg: Es geht also darum, den den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern andere Möglichkeiten zu geben. Aber es gibt ja auch immer diejenigen, für die Veränderungen und auch überhaupt Digitalisierung mit großen Ängsten verbunden sind.
Henning Lühr: Diese diffuse Angst vieler Beschäftigten müssen wir ernst nehmen. Deshalb wundere ich mich auch, dass keine der Bundestagsparteien sagt: „Wir sind die Partei der Digitalisierung. Wir sorgen für einen normalen Fortschritt, wir sorgen dafür, dass die Beschäftigten in diesen Prozess einbezogen werden.“ Man braucht ja auch nach der Digitalisierung noch eine Form von Wertschöpfung. Was ja schwierig zu greifen ist, denn wenn sich viele Abläufe in der Industrie zum Beispiel durch Machine Learning weiterentwickeln, verändern sich ja auch die Strukturen und vieles mehr.
Auch politisch ist es wichtig, dass der Staat sich nicht raushält, sondern diese Entwicklung erkennt und sie mit den beteiligten Sozialpartnern weiterentwickelt. Wir müssen die Gewerkschaften herausfordern. Der Vorsitzende der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Frank Bsirske, hat mir gesagt, dass sie in den Bremer Häfen einen Zukunftstarifvertrag abgeschlossen haben. Und wir haben in der öffentlichen Verwaltung hier so was wie einen Digitalisierungstarifvertrag, eine Statussicherung. Wir müssen sehen, wie wir die vorhandenen Potenziale nutzen können, wie wir die Menschen motivieren können, sich zu neuen Ufern aufzumachen und diese diffuse Angst zu überwinden. Deshalb sage ich auch bei jeder Gelegenheit, dass wir uns mit den Gewerkschaften auseinandersetzen müssen. Darüber, wie wir die zu hohen Bürokratie- und unnötigen Arbeitskosten einsparen können. Darüber wird es auch mal einen Streit geben. Wenn wir diese Frage aber nicht stellen, dann dümpeln wir weiter dahin, haben hohe Kosten und Probleme, die sich zuspitzen.
Eine Onlineverwaltung ist noch keine digitale Kommune
msg: Es gibt ja auch die Denkfabrik zur Arbeitswelt der Zukunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die sich mit all diesen Fragen beschäftigt.
Henning Lühr: Ja, genau, nächsten Mittwoch bin ich dort. Diese Denkfabrik hat im Oktober 2018 ihre Arbeit aufgenommen. Es ist eine interdisziplinäre, agil arbeitende Organisation, die neue Handlungsfelder, die durch die Digitalisierung und andere Trends entstehen, frühzeitig erkennen und Lösungen für die Arbeitsgesellschaft der Zukunft entwickeln soll. Ein Think-Tank also.
msg: Die Politik und auch der IT-Planungsrat setzen starke Signale in Richtung digitale Behörde. Welche Umorientierungen stecken darin?
Henning Lühr: Wir haben jetzt das Onlinezugangsgesetz und müssen uns genau überlegen, was wir wie machen wollen. Wenn wir nur Klick-Dummies produzieren und die Fachverfahren nicht einbeziehen, haben wir zwar irgendwie mit hängender Zunge das Ziel erreicht, aber noch nichts verändert. Deshalb wäre mein Ansatz, in drei Stufen zu denken. Erste Stufe: Wir geben jetzt richtig Gas, um die Verfahren in Gang zu bringen, und veröffentlichen den aktuellen Stand wöchentlich fortgeschrieben auf der Homepage des IT-Planungsrat – auch als Selbstkontrolle. In der zweiten Stufe müssen wir sehen, wie wir das in die Fläche bringen. Das heißt, wir müssen uns auch etwas zu den Umsetzungskosten überlegen. Deshalb möchte ich die Gewerkschaften dabeihaben. Es geht ja nicht darum, eine halbe Million Menschen in der öffentlichen Verwaltung zu entlassen. Vielmehr brauchen wir motivierte Leute, die vielleicht dann, wenn sie alternsgerecht eingesetzt werden, auch mal ein bisschen zurückfahren. Und die dritte Stufe ist, dass wir uns jetzt Gedanken darüber machen müssen, was kommt, wenn wir die Onlineverwaltung dann wirklich haben. Es wird darum gehen, wie wir die Kommunen bei einer digitalen Daseinsvorsorge stärken können.
msg: Die Umorganisation der Verwaltung muss also in Richtung Daseinsfürsorge gehen?
Henning Lühr: Ja, aber das muss eine gesellschaftliche Qualität haben. Zu sagen, die Zukunft liegt in der digitalen Kommune, und dann nur eine Onlineverwaltung aufzubauen, reicht nicht. Eine Onlineverwaltung ist noch keine digitale Kommune. Bei der digitalen Kommune geht es um Lebensstrukturen. Nehmen wir zum Beispiel die Bibliotheken. Die Bibliotheken in Bremen haben 1,5 Millionen Besucher im Jahr, das ist doppelt so viel, wie Werder Bremen Zuschauern hat. Wir haben uns an den Niederländern orientiert und in zwei Bibliotheken in einem Krisenstadtteil Beratungsbüros eingerichtet. Die sind voll ausgebucht. Nun könnte man natürlich sagen, das ist aber analog. Aber die Sachbearbeiter gehen dort mit ihren Kunden zum Beispiel parallel am Bildschirm durch die Themen und leisten Hilfe zur Selbsthilfe, sodass die Kunden es das nächste Mal selbst machen können. Solche Angebote müssen wir bei der digitalen Daseinsvorsorge machen. Soziologen sagen, wir brauchen den „dritten Ort“, an dem sich die Leute treffen können.
Abbildung 3: Jürgen Fritsche und Henning Lühr
msg: Einen dritten Ort?
Henning Lühr: Diesen Begriff haben Soziologen geprägt: Es gibt einen sozialen Ort, das „Zuhause“, also Wohnen, soziales Umfeld, Peer Groups. Ein weiterer sozialer Ort ist Arbeit und Ausbildung. Und jetzt gibt es noch den „dritten Ort.“, Das sind Begegnungsund Kommunikationsorte, wo sich Menschen treffen, um sich auszutauschen oder auch an gemeinsamen Vorhaben zu arbeiten. Mit unseren Bibliotheken wollen wir so einen dritten Ort anbieten. Unser Regionalfernsehen hat einen Film von einer dieser Bibliotheken gedreht, an einem Vormittag, als sie gerade geöffnet haben. Das war wie beim Winterschlussverkauf, es standen ungefähr 80 Leute vor der Tür, die alle in die Bibliothek wollten.
Dort arbeiten Studentengruppen, Arbeitslose nutzen die Rechner zur Stellensuche und so weiter. Das Bücherlesen ist gar nicht mehr der zentrale Ansatzpunkt. Das zeigt, dass man Aufenthaltsorte braucht, passende Rahmenbedingungen. Das ist eine neue Qualität von Kommunalpolitik.
msg: Der dritte Ort könnte aber auch virtuell sein, eine Vernetzung von lokalen Angeboten?
Henning Lühr: Ja, klar. Aber dann würde jeder nur zu Hause sitzen und im Internet surfen. Man braucht auch einen dritten Ort, der nicht nur eine virtuelle Community, sondern ein echter Platz ist. Und man braucht dafür auch andere Ansprechpartner. Wir hatten zum Beispiel ein Problem mit Überalterung bei der Bremer Polizei. Viele Polizisten sind sehr erfahren, aber mit sechzig Jahren konnten viele nicht mehr jedem Verdächtigen hinterherlaufen. Jetzt haben wir ein „KoPs“-Programm, also Kontaktbereichspolizisten, die auch gesondert geschult sind und die in Brennpunktgebieten quasi Sozialberater sind. Viele Anwohner treffen sich zum Beispiel in der kleinen Cafeteria der Bibliothek. Wenn sich dort die fünf KoPs treffen, heißt es nicht, die „Bullen“ kommen, sondern die Kinder grüßen sie und die Menschen fragen um Rat. Solche neuen Infrastrukturen müssen wir einfach gewährleisten. Das ist die gesellschaftliche Seite der Digitalisierung. Wenn wir das anbieten können, dann können wir auch viel digitalisieren.
msg: Es kommt also darauf an, für die Smart City clevere Lösungen zu finden?
Henning Lühr: Genau, und ich glaube, da könnte man auch viel experimentieren, wenn man das jetzt wirklich angehen würde. Wenn man sich fragen würde, wie sich Sozialpolitik oder Daseinsvorsorge vor Ort entwickelt, wie man Verkehrsplattformen machen kann und so weiter. Man muss den Mut haben, neue Konzepte auch umzusetzen.
msg: Sie haben den IT-Planungsrat schon angesprochen und das Onlinezugangsgesetz. Es sieht vor, dass bis 2022 einige hundert Leistungen online verfügbar sein sollen. Die Frage ist, wie die Umsetzung aussehen wird und wer die Umsetzung steuert und wer dann konkret umsetzt.
Henning Lühr: Der IT-Planungsrat wurde ja für die Koordination der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Fragen der Informationstechnik ins Leben gerufen. Und für die Steuerung von E-Government-Projekten. Ich habe dazu gerade einen Vortrag gehalten und einen Überblick über den Status der Projekte gegeben. Da werden sie unter denen, die vorne in der ersten Reihe mitmachen, zum Beispiel das Land Bayern vergeblich suchen. Aber wir als kleiner Stadtstaat haben in den letzten drei Jahren eine IT-Abteilung mit gut vierzig Leuten aufgebaut. Und wir haben dieses IT-Labor, in dem agil in Projekten gearbeitet wird. Außerdem haben wir ein Referat für Digitalisierung und Unterstützung der Wirtschaft eingerichtet. Es vermutet ja niemand, dass wir uns im Stadtstaat Bremen so um die Wirtschaft kümmern. Beim letzten IT-Planungsrat habe ich zu meinen bayerischen Kollegen gesagt: „Dass ich als alter Linker jetzt noch die Bayern davon überzeugen muss, etwas für die Wirtschaft zu tun. Da komme ich mir ja schon ein bisschen komisch vor.“ Aber das kann man ja schon bei Karl Marx nachlesen: Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert, dann ist alles zappenduster.
Wir setzen hier in Bremen sehr viel Wirtschaftsanwendungen um. Aber Gewerbeanmeldung machen wir gemeinsam mit NRW. Dann haben wir noch die Vergabeplattform und das Berufsrecht. Das ist für uns eher ein Nebengebiet. Dabei geht es um Bereiche wie Lebensmittel oder Arztpraxen und Sicherheitsingenieure. Hierfür braucht man bestimmte Voraussetzungen, und es gibt komplizierte Genehmigungsverfahren. Das wird noch eine Herausforderung. Gleichwohl haben wir gesagt, wir möchten das OZG mit der Bremer Wirtschaft umsetzen. Also haben wir dreißig Anwendungen mit den Kammern und dem Unternehmerverband identifiziert. Das sind zum Beispiel E-Baugenehmigung, E-Baustellenmanagement und so was dabei. Einige Großfirmen in einem Arbeitskreis der Kammer führen nun bei 1.600 Firmen ein E-Voting durch und fragen, welche zehn Anwendungen von diesen dreißig sie vorrangig möchten. Wenn dieses E-Voting durch ist und wir einen Pegelstand haben, dann müssen wir auch liefern. Wenn also unsere Firmen für die elektronische Baugenehmigung voten, dann bekommen sie die auch.
Bundesweit müssen 575 Dienstleistungen umgesetzt werden. Es gibt einen Katalog, und es gibt Zuständigkeiten, wer die Arbeiten machen soll. Wir haben hier die Steuerthemen bis auf das Außenhandelssteuerrecht schon alle umgesetzt. Und das Bundesinnenministerium hat festgelegt, dass es für jedes Themenfeld ein oder zwei Labore gibt.
msg: Die Labore sind ein Thema. Das andere ist, dass letzten Endes bis 2022 die Umsetzung erfolgt sein muss.
Henning Lühr: Das stimmt, aber nur die Onlinestellung. Das ist ein bisschen die Mogelpackung beim OZG. Eigentlich muss es doch um den gesamten Prozess gehen. Deshalb haben wir hier für die E-Rechnung zunächst ein Pilotprojekt gemacht. Damit sind wir jetzt fertig und setzen als nächstes die E-Rechnung im ganzen Arbeitsprozess um.
msg: Für alle Länder?
Henning Lühr: Ja, wir haben den Prototyp entwickelt. Aber ob die anderen das übernehmen … Dazu braucht man eben auch Transferwissen. Das Wissen fliegt ja nicht von allein in die Behörde. Zurzeit gibt es 17 verschiedene Unternehmenskunden und jeder macht diese Sachen irgendwie anders. Das alles zusammenzuführen, ist ein schwieriges Ding.
msg: Kommen wir noch einmal auf die Rolle des IT-Planungsrates und auf FITKO, also die föderale IT-Kooperation. Können Sie uns zur FITKO etwas sagen?
Henning Lühr: FITKO soll ja die bisherigen Geschäfts- und Koordinierungsstellen des IT-Planungsrats bündeln und den Ausbau der Digitalisierung in der Verwaltung koordinieren und vorantreiben. Am 7. Januar war ich in Frankfurt, ich bin extra morgens um 6:00 Uhr losgefahren und um 10:00 Uhr habe ich bei der Oberfinanzdirektion in Frankfurt, wo die FITKO untergebracht ist, geklingelt und gesagt, ich bin der neue IT-Planungsratsvorsitzende, ich möchte nur mal guten Tag sagen und die FITKO besuchen.
Abbildung 4: Jürgen Fritsche und Henning Lühr
msg: Und haben Sie jemanden angetroffen?
Henning Lühr: Ja, natürlich, dort sind zwanzig Leute. Die haben gleich alle Beschäftigten zusammengetrommelt und waren völlig überrascht, denn ich war der Erste, der zu ihnen gekommen ist. Und dann habe ich das auch gepostet und gesagt: „Ich habe mit den Kollegen gesprochen und über ihre Probleme.“ Dann habe ich noch einmal extra mit dem Personalrat gesprochen. Ich meine, jetzt müssen wir das aber auch in die Gänge bringen.
msg: Und was macht die FITKO ganz konkret? Den IT-Planungsrat und Labore organisieren und so weiter?
Henning Lühr: Die FITKO soll den Prozess organisieren. Also zum Beispiel die Registermodernisierung. Man hat sich entschlossen, kein Zentralregister zu machen, sondern einen Zugriff über einen Stammdatensatz zu ermöglichen, dann muss das technisch funktionieren. Die FITKO ist eine Koordinierungsstelle. Wir hätten die FITKO ja schon vor drei, vier Jahren haben können. Aber dann kamen die Haushaltsrechtler und hatten Bedenken. Und dann ging es immer hin und her, man hat alles verworfen, weil es zu kompliziert wäre und so weiter. Also das hätte man einfacher haben können. Letztlich haben Hessen, Bremen und Bayern das Ding ausgeheckt und gemacht. Dann hatten einige tiefgehende verfassungsrechtliche Bedenken ... Ich sage immer, wir sollten an dieser Stelle nicht zu viele verfassungsrechtliche Bedenken haben. Ich habe im Grundgesetz nicht gefunden, dass es unzulässig ist, in einem Digitalisierungslabor Kommunen, Bund und Länder an einen Tisch zu setzen.
msg: In anderen Ländern wird über so was nicht diskutiert?
Henning Lühr: Man arbeitet an dieser Stelle zu wenig an der Problemlösung. Wir hatten dieses Thema immer mit der Steuerverwaltung. Wenn wir mit Problemstellungen gekommen sind, hat die Steuerverwaltung gesagt, das geht nicht. Jetzt sage ich, das ist aus diesen und jenen Gründen wichtig für uns, welche Lösungsschritte gibt es? Ich habe auch schon gesagt, wenn eure Lösung „Das geht nicht!“ lautet, dann will ich mein Problem wiederhaben.
msg: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für Ihre Zeit.
Henning Lühr: Ich danke auch.