Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 02-2019
von Helmut Lämmermeier
Mit dem Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (Online-Zugangsgesetz – kurz OZG) ist es Deutschland nun endlich gelungen, einen Schritt in die Richtung zu machen, die Vorreiterstaaten wie Estland oder Österreich schon lange erfolgreich gegangen sind.
Nämlich ein Gesetz zu verabschieden, das den Bund, die Länder und die Kommunen gleichermaßen einbindet, um die Umsetzung von digitalen Leistungen für Bürger und Wirtschaft voranzubringen. In der Definition des OZG §1 heißt es: „(1) Bund und Länder sind verpflichtet, bis spätestens zum Ablauf des fünften auf die Verkündung dieses Gesetzes folgenden Kalenderjahres ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten.“
Um dies zu ermöglichen, wurde ein Leistungskatalog für das OZG erarbeitet, der 575 Verwaltungsleistungen auflistet, die online angeboten werden sollen. Diese wurden in die Gruppen OZG-Leistungen für Bürgerinnen und Bürger, für Unternehmen und Querschnittsleistungen, mit jeweils verschiedenen Themenbereichen und darin enthaltenen Lebenslagen und Geschäftslagen aufgeteilt. Im Anschluss daran erfolgte eine Aufteilung auf die Bundesländer und den Bund, wer welches Thema und welche Leistung federführend bearbeitet und wer dabei unterstützt. Der Gedanke, „Wir teilen die Arbeit auf, und jeder profitiert vom Ergebnis des anderen“, ist ein großer Schritt nach vorne. Es hat nicht nur den Anschein, sondern es ist auch faktisch so, dass die Arbeit zwischen den Ländern und dem Bund aufgeteilt wird und ein Austausch zwischen den beteiligten Parteien stattfindet. Christian Pfromm, CDO der Stadt Hamburg, unterstreicht dies, indem er darauf hinweist: „Grundsätzlich ist der Föderalismus die Lösung, nicht das Problem. […] Mit der föderalen Organisation gibt es gewisse Anlaufhürden, die wir gerade überwinden. Aber dann führt sie zu einer schnellen Verbreitung der digitalisierten Services“ (mehr dazu im Interview mit Christian Pfromm).
Von den 575 identifizierten Leistungen liegen dabei 125 in der reinen Kompetenz des Bundes, für 370 ist eine Kooperation zwischen Bund und Ländern erforderlich, und für die restlichen Leistungen sind Länder und Kommunen zuständig. Um die Umsetzung und Zusammenarbeit zwischen den Parteien zu beschleunigen, hat das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) 14 sogenannte Digitalisierungslabore ins Leben gerufen. In diesen Laboren behandeln Teilnehmer aus Bund, Ländern und Kommunen Themen wie Bildung, Mobilität, Unternehmen, Arbeit, Familie etc. Sie durchleuchten die einzelnen Themenstellungen genauer und identifizieren Problemstellungen für einzelne Leistungen. So können zum Beispiel Gesetzesänderungen notwendig sein, um eine bisher vorhandene und für die Digitalisierung hinderliche Schriftformerfordernis abzulösen.
Die Rückmeldungen aus den einzelnen Labors spiegeln wider, dass die Digitalisierungslabore bei den beteiligten Parteien Anklang finden und die Zusammenarbeit fruchtbar ist. „Aus unseren Hamburger Erfahrungen kann ich sagen, dass die Digitalisierungslabore sehr gut funktionieren“, bestätigt auch Christian Pfromm diese Einschätzung. So hat eines der ersten an den Start gegangenen Digitalisierungslabore in Bremen zum Beispiel den Elterngeldantrag (ELFE1) und eine hierfür erforderliche App schon sehr weit vorangetrieben. Der erforderliche Gesetzesänderungsprozess ist angestoßen, und es wird erwartet, dass die App Ende 2019 produktiv gehen kann.
Eine methodische Grundlage für das Vorgehen in den Digitalisierungslaboren, aber auch direkt in den Bundes- oder Landesbehörden bildet der sogenannte FIM-Baukasten2. FIM steht für föderales Informationsmanagement (siehe Abbildung 1) und untergliedert sich in die drei Bausteine „Leistungen“ zur Beschreibung des Sachverhalts, „Datenfelder“ zur Definition der beschreibenden Daten und „Prozesse“ zur Modellierung des Prozessablaufs.
Damit wurde erstmalig eine einheitliche Methode zur Beschreibung und Dokumentation digitaler Antrags- und Anzeigeverfahren geschaffen, mit der alle relevanten Informationen beschrieben werden und nicht mehr gesondert durch jede einzelne Behörde erhoben werden müssen. Das spart Zeit und Geld und sichert eine einheitliche Informationsbasis. Verantwortlich für die Erstellung und Pflege dieses Baukastens ist die FITKO (Förderale IT-Kooperation).
Abbildung 1: Die drei Bausteine des FIM-Baukastens
Doch wer jetzt denkt, dass alle Hausaufgaben gemacht sind und damit die Umsetzung der OZG-Leistungen auf einem guten und abschließenden Weg ist der irrt.
Das OZG verpflichtet Bund, Länder und Kommunen die im Leistungskatalog beschriebenen Leistungen online zur Verfügung zu stellen, das heißt, Bürgern und Unternehmen zu ermöglichen, dass sie die Leistungen online abrufen können. Getreu dem Motto der Verwaltung, Gesetze und Vorschriften ordnungsgemäß umzusetzen, sind alle Bemühungen genau auf diesen Zweck ausgerichtet. Das Einrichten durchgängiger digitaler Prozesse über die Verwaltungsorgane hinweg und die Anbindung der dafür erforderlichen Fachverfahren stehen dabei leider nicht im Fokus. Hier lohnt sich ein praktischer Vergleich. Wenn ein Bürger bei einem Onlineanbieter, wie zum Beispiel Amazon, eine Ware bestellen möchte, kann er nicht nur die Ware online auswählen, mit anderen Produkten vergleichen und seine Bestellung direkt online aufgeben. Es erfolgt automatisch eine hinter der abgesandten Bestellung liegende Auslieferung, mit Kommissionierung, Lagerbestandsverwaltung, Rechnungsstellung, Beauftragung des Dienstleisters für den Versand, Verbuchung des Verkaufs etc.
Nimmt man dagegen die aktuellen Bemühungen im Rahmen OZG – und diese sollen hier nicht geschmälert werden – fällt auf, dass zwar dafür gesorgt wird, dass ein Angebot online unterbreitet wird, dass die „Bestelldaten“ eingegeben werden und gegebenenfalls, sofern eine Gebühr für die Leistung anfällt, diese online abgeführt werden können. Doch die Aufgaben und Prozessabläufe hinter der „Portalfassade“ finden – zumindest aktuell – kaum Beachtung.
Die über ein Onlineformular eingegebenen Daten bieten sich geradezu an, sie automatisiert und digital weiterzuverarbeiten. Dazu muss allerdings die erforderliche Facharchitektur hinter der „Portalfassade“ eindeutig definiert sein und für alle Leistungen und Prozesse tragen. Allerdings gibt es in den Ländern und beim Bund sowie bei den kommunalen Rechenzentren, die die Kommunalleistungen IT-technisch abwickeln, immer noch große Unterschiede. Ob so die in Arbeitsgemeinschaft erzeugten Prozesse darauf übertragen werden können, darf bezweifelt werden. Daneben müssen die unterschiedlichsten Fachverfahren anund eingebunden werden. Deren Aufgaben und Funktionen sind in der Regel nicht in allen Bundesländern identisch, geschweige denn technologisch gleich aufgebaut. Viele Entscheidungen müssen nach wie vor durch Sachbearbeiter getroffen werden. Und wie bekommen sie ihre Arbeitsaufträge zugesteuert? Viele von ihnen arbeiten ausschließlich mit ihren Fachverfahren, andere haben ein Vorgangsbearbeitungssystem, das Bestandteil des vorhandenen Dokumentenmanagementsystems (DMS/eAkte) ist. Oder wäre es nicht sinnvoll ,ein Workflowsystem einzuführen, das die in FIM modellierten Prozesse importieren und ausführen kann? Nur weil sie modelliert wurden, sind die Prozesse noch lange nicht implementiert!
Neben den vielen Fragen, wie die Facharchitektur und die IT-technische Architektur in einer Behörde, die ihre Leistungen online zur Verfügung stellt, aufgebaut ist, stellen sich insbesondere auch organisatorische Fragen. Denn möchte man einen Prozess durchgängig digital abbilden, muss die Organisation in der Behörde prozessorientiert aufgestellt sein. Die gängigen und seit jeher bekannten Strukturen eignen sich dafür nur sehr eingeschränkt oder sind zumindest hinderlich. Das erfordert, dass vorhandene „Verantwortungssilos“ aufgebrochen werden und die Prozesse in den Vordergrund rücken.
Gesetze orientieren sich fast ausschließlich an der politischen Bedarfslage und den Forderungen von Bürgern und Wirtschaft. In den wenigsten Fällen werden bei der Gesetzgebung die Bedürfnisse der Behörden und die administrative Umsetzbarkeit berücksichtigt. Sie mussten und müssen häufig große Kraftanstrengungen unternehmen, um die notwendigen Schritte und Maßnahmen einzuleiten, damit die Gesetze verwaltungsintern auch vollzogen werden können. Dafür fehlt dann in den meisten Fällen auch noch das Verständnis bei der Politik, den Medien, den Bürgern und der Wirtschaft, wenn nicht alles sofort klappt, sobald das Gesetz in Kraft getreten ist.
Betrachtet man die aktuellen Aktivitäten rund um das OZG, verhält es sich nicht anders. Das ist umso fataler, als dass der Digitalisierungsgedanke nicht an der Behördentür endet. Digitalisierung bedeutet, Prozesse von der analogen Welt in eine digitale Welt zu übersetzen. Idealerweise wird hierbei darüber nachgedacht, ob eine Prozessveränderung sinnvoll ist – so, wie es in den Digitalisierungslaboren ja durchaus schon passiert. Es ist aber nicht zu entschuldigen, wenn insbesondere bei der Digitalisierung der Prozessgedanke – und zwar der durchgängige – vernachlässigt wird. Denn nur, wenn alle Medienbrüche im Prozessverlauf vermieden werden, kann das Potenzial der Digitalisierung vollständig genutzt werden.
Das Facharchitektur-Digitalisierungslabor als Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung des OZG
Es muss weitergedacht werden als nur bis zum Portal. Die Einrichtung der Digitalisierungslabore muss erweitert werden. Es bietet sich an, analog zu den Digitalisierungslaboren für die Fachprozesse ein Digitalisierungslabor für verwaltungsinterne Facharchitektur ins Leben zu rufen. Denn Treiber für die Digitalisierung sollten nicht die technischen Möglichkeiten sein, sondern müssen die fachlichen Anforderungen bleiben. Aufgabe dieses Facharchitektur-Digitalisierungslabors wäre, die fachlichen Anforderungen sinnvoll zu bündeln und in einer Facharchitektur abzubilden. Komponenten können dabei Portal, Benutzerkonto, Workflow, eAkte, Fachverfahren, ePayment etc. sein. Ziel ist die Abbildung durchgehender Prozesse, ohne dabei jeweils die Facharchitektur anpassen zu müssen. Die durchgehende Facharchitektur berücksichtigt außerdem Behördenübergänge und damit verbundene Zuständigkeitswechsel.
Ergebnis dieses neuen Digitalisierungslabors müssen vollständige fachliche Durchstiche für die in den anderen Digitalisierungslaboren entwickelten Prozesse sein. Nicht die „eine“ Facharchitektur für „alle“ wird entworfen, sondern in agiler Vorgehensweise die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Facharchitekturen exploriert. Mit den Ergebnissen können die Behörden weiterarbeiten und in einer ebenso agilen Weise für sich den technischen Durchstich in ihrer Welt vornehmen. Dies hätte den Vorteil, dass sehr schnell ein Erfolg sichtbar wird. Der Prozessablauf muss dabei nicht auf Anhieb perfekt und vollständig digital durchgängig sein, aber ein Anfang wäre gemacht, auf den aufgesetzt und der immer weiter verbessert werden kann. Christian Pfromm unterstreicht dies: „Wir sollten ‚Lessons Learned‘ etablieren.“
Und darüber hinaus?
Ist man schon mal dabei, die Abläufe neu zu durchdenken und prozessbezogen zu optimieren, sollten Innovationen Berücksichtigung finden. Warum nicht auch ein Digitalisierungslabor oder eine Denkfabrik ins Leben rufen, welche die Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz und Machine Learning etc. bis hin zu Augmented Reality und Intelligent Interfaces als Lösungsbausteine betrachtet?
Daneben sollte eine Denkfabrik etabliert werden, die die notwendigen organisatorischen Veränderungen in den Behördenstrukturen unter die Lupe nimmt und Anpassungsvorschläge erarbeitet, um eine möglichst große Prozessorientierung zu erreichen. Dies ist vermutlich die heikelste Mission, denn welche Behörde in unserer föderalen Welt möchte sich schon in Bezug auf die eigenen Organisationsstrukturen Vorgaben machen lassen. Dies wäre aber gar nicht der Auftrag der „Denkfabrik für Organisationsstrukturen in der digitalen Welt“. Vielmehr sollen Anforderungen an die Organisationsstrukturen herausgearbeitet werden, die eine Umsetzung der Digitalisierung und damit auch der OZG-Leistungen leichter machen. Und es sollen Empfehlungen abgebeben werden, die jede Behörde für sich bewerten und bei Bedarf übernehmen kann.
Fazit
Mit dem OZG wurde eine sehr gute Ausgangsposition für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung geschaffen. Die Digitalisierungslabore fördern die behördenübergreifende Zusammenarbeit und leisten einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des OZG. Aber das OZG wird nur erfolgreich sein, wenn auch die behördeninternen und behördenübergreifenden Prozesse digitalisiert und automatisiert werden. Weitere Digitalisierungslabore oder Denkfabriken für die Entwicklung von tragfähigen Facharchitekturen, Prozessorganisationen und Innovationen sind sinnvoll und unerlässlich. Es müssen möglichst schnell vollständige fachliche und technische Durchstiche für einzelne Prozesse realisiert werden, um den Behörden, Firmen und den Bürgern die Machbarkeit einer echten Automatisierung der durch das OZG umfassten Serviceprozesse vorzuführen. Das OZG kann somit einen entscheidenden Impuls für einen nachhaltigen Fortschritt bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sein. Dazu werden jedoch Mut und Wille zur Veränderung notwendig, die nicht beim gesetzlichen Auftrag enden. Bund, Land und Kommunen sitzen hier alle in einem Boot und müssen, wie jetzt in den Digitalisierungslaboren, gleich schnell in dieselbe Richtung rudern. Sie kommen auch nur gemeinsam gleich schnell voran!
Quellenangaben:
1 https://www.it-planungsrat.de/fileadmin/it-planungsrat/der-it-planungsrat/fachkongress/fachkongress_2018/Tag1_ITPLR_ELFE_HB.pdf(abgerufen am 05.07.2019, aktualisiert am 01.06.2022).
2 https://www.fimportal.de/ (abgerufen am 05.07.2019).