Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 04-2019
von Dr. Jan Engelke und Katharina Schmitt
In die Zukunft schauen zu können, ist ein vielgehegter, aber nur begrenzt erfüllbarer Wunsch. Im digitalen Wandel erleben wir oft, dass Zukunftsvisionen, egal ob Megatrend oder wünschenswertes Produkt, als Gegebenheiten wahrgenommen werden: Künstliche Intelligenz im Alltag, allwissende Sprachassistenten am Telefon und Roboterverwaltungen sind im Bewusstsein der Zukunftsforschung so fest verankert, dass die Diskussion um Ressourceneffizienz, Nutzen und Gesellschaftsfähigkeit schnell in den Hintergrund gerückt wird.
Strategische Beratung nimmt sich in diesem Zusammenhang zum Ziel, genau diese Parameter in Augenschein zu nehmen. Übergeordnete Fragen, wie wir in einer noch absehbaren Zukunft leben, uns beteiligen und miteinander kommunizieren wollen, bilden die Grundlage für die Entwicklung eines umfassenden Leit- bzw. Zielbilds der betrachteten Organisation. Daran schließt sich die Überlegung an, wohin sich öffentliche Behörden, Beteiligungen und Träger als Organisationen und Dienstleister technologisch und administrativ entwickeln und wie die Umsetzung – insbesondere in ihrer Wirkung auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Bürgerinnen und Bürger – strategisch steuerbar sowie in ihrem gesamtgesellschaftlichen Nutzen messbar und transparent wird.
Das österreichische Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort (BMDW) formulierte dahingehend Anfang des Jahres 2018 ein ambitioniertes Ziel: Es sollte die Vorstellung eines Digitalen Österreichs 2040–2050 in zehn verschiedenen Themenfeldern des öffentlichen Lebens, wie unter anderem Landwirtschaft, Arbeit und Gesellschaft, Verwaltung, Industrie und IoT, intelligente Vernetzung und Gesundheit entwickelt werden. Als Ergebnis entstand eine Vision für ein wünschenswertes digitales Österreich 2040. Wünschenswert bedeutet an dieser Stelle eine Entwicklung, die im Sinne einer lebenswerten, demokratischen, digitalen Gesellschaft ist, in der der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt steht. Hierzu wurden für eine umfassende Bewertung neben den absehbaren und vermuteten technologischen Entwicklungen auch die gesellschaftspolitischen, philosophischen und ethischen Aspekte in die Betrachtung einbezogen.
Eine Vision für die öterrreichische Verwaltung 2040
Unter Einsatz der nachfolgend dargestellten Methodik ergab sich für den Bereich Verwaltung, dass diese sich zu einer nutzerzentrierten, unsichtbaren und nahtlos integrierten Dienstleistung für den Bürger mit neuen, alltagskonformen Servicemodellen entwickeln wird. Die Vision beschreibt, dass proaktive Verwaltungsleistungen menschliche und organisatorische Informationslücken überwinden werden. Proaktiv bedeutet zum Beispiel für den einzelnen Bürger, dass antragslose Verfahren, Opt-out-Lösungen und automatische Aktualisierungen zum Standard geworden sein werden. IT-Sicherheit, Datenschutz, Transparenz und Datenhoheit für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen werden über prinzipienbasierte, technologieneutrale, rechtliche Vorgaben des Staates sichergestellt. Diese Vision wird für die digitalen Verwaltungsinfrastrukturen aller Gebietskörperschaften der Verwaltungsgliederung Österreichs gelten.
Auf Behördenseite ist im Jahr 2050 die Verwaltungsarbeit automatisiert und datenbasiert, wodurch sie deutlich effizienter, kostengünstiger und zeitgleich qualitativ hochwertiger ist. Dies erfordert natürlich ein neues Profil der Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Digital Literacy wird zur Kernkompetenz für die zunehmend akademisierte Verwaltung mit interdisziplinären Teams. Die Personalentwicklung muss neu ausgerichtet werden. Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter der Kommunalverwaltung bleiben vorrangig Moderatorinnen und Moderatoren, Koordinatorinnen und Koordinatoren sowie Mediatorinnen und Mediatoren im lokalen Sozial- und Kulturleben. Bürgerämter übernehmen im Jahr 2050 daher stärker soziale Funktionen, leisten Beratung oder Troubleshooting.
Abbildung. 1: Weitere Themenfelder des Digitalen Österreich 2040 (Beispiele)
Weitere Themenfelder des digitalen Österreich 2040
Expertinnen und Experten und das BMDW erarbeiteten jedoch nicht nur ein Zielbild für die Zukunft der Verwaltung, sondern auch für die anderen Themenfelder. Abbildung 1 gibt einen groben Überblick über die Ergebnisse in vier weiteren Themenfeldern.
Begleiten, Beraten, Strategien entwickeln
Das BMDW hat sich mit seiner Vision über den Zeithorizont der nächsten Digitalisierungswelle hinausgewagt. Indem die gesellschaftlichen Trends und deren Folgen, die politischen Rahmenbedingungen und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in ein umfassendes Zukunftsszenario beziehungsweise mehrere Teilszenarien integriert werden, verlässt es den Korridor der „klassischen“ technologiebasierten Strategieentwicklung. Letztlich möchte man eine Vorstellung von möglichst greifbaren Zukunftsszenarien skizzieren, um sich bereits heute auf mögliche positive wie negative Entwicklungen einstellen zu können. Dadurch kann sich Österreich für die Veränderungen wappnen, die auf das Land, seine Firmen, Bürgerinnen und Bürger sowie den Staat zukommen könnten und deren wünschenswerte Gestaltung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.
Am konkreten Beispiel der digitalen Verwaltung ist eine abschätzbare Konsequenz, dass durch die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung von Routinetätigkeiten der gesteuerte Personalabbau in der Verwaltung und die sozial verträgliche Neuaufstellung über alle Verwaltungsebenen hinweg eine zentrale Herausforderung bleiben werden, die der Staat gezielt steuern muss.
Eine strategische Beratung ist dabei vor die Herausforderung gestellt, vielfältige Blickwinkel und Expertisen vor dem Hintergrund technologischer Entwicklungen zu integrieren, verschiedene Diskursebenen harmonisch aufeinander abzustimmen, den Prozess des Austauschs zu moderieren und Ergebnisse zu gewichten. Sie ist somit Begleiterin des öffentlichen Trägers in seiner Visionsentwicklung. Nur wer mittels wissenschaftlich gesicherter Methoden strukturiert, kreativ und vorausschauend zeichnet, was in der Zukunft möglich und wahrscheinlich ist, kann die Zukunft auch gestalten. Zu häufig überwältigt der gegenwärtige Handlungsdruck, so dass vergessen wird, dass Öffentlichkeit im erweiterten Sinne auch treibende Kraft und Gestaltungsmacht ist. Dazu muss allerdings ein klares Bild der Zielvorstellung in der Zukunft existieren, die sich auch in greifbare Handlungsempfehlungen fassen lässt. Genau hier setzte das Projekt Zukunftsbild Digitales Österreich 2040 an.
Abbildung 2: Methodenmix: Forecasting und Backcasting2
Individueller Methodenmix statt eines einheitlichen Vorgehens
Daher wurde bei der Strategieentwicklung ein Methodenmix gewählt, der in Abweichung von rein evolutionären Ansätzen einen virtuellen Sprung in die Zukunft erlaubt: Durch „Forecasting“ (siehe Abbildung 2) können so möglichst viele Elemente einer Zukunftsvision als mögliche Endpunkte von Entwicklungen konkretisiert und in Szenarien gefasst werden. Diese wiederum können nach erkenntnisleitenden Kriterien, in diesem Fall den Parametern einer wünschenswerten Gesellschaft, tendenziell positiv oder negativ gewichtet werden. Mittels „Backcasting“, also einer Rückführung vom Zielszenario auf den heutigen Zustand, können Handlungsbedarfe und mögliche Handlungsoptionen identifiziert werden.
Die strategische Beratung versteht sich als Begleitung des Kunden im Strategieprozess und stellt ihm einen optimalen Methodenmix bereit. Sie schlägt gemeinsam mit der Visionserstellung eine Brücke zwischen dem, was ist, und dem, was werden soll. Werkzeuge und Handlungsoptionen helfen, Veränderung zu steuern und zu verhindern, in den Gegebenheiten und Herausforderungen der Transformationsprozesse stecken zu bleiben. Eine Disruption wie die aktuelle digitale Transformation kann und soll natürlich nicht aufgehalten werden – sie kann aber zweifelsohne im Sinne einer lebenswerten, demokratischen, digitalen Gesellschaft gestaltet werden.
Abbildung 3: Expertinnen- und Expertenworkshop Digitales Österreich 20403
Methodik und Vorgehensweise
Das Vorgehen im vorliegenden Projekt Zukunftsbild Digitales Österreich 2040 gliederte sich in verschiedene Phasen und verfolgte dabei einen iterativen Ansatz. Zunächst erfolgte eine Metaanalyse für jedes der zehn zu untersuchenden Themenfelder, bei der aktuelle Entwicklungen, zukünftige Trends und Prognosen ausgewertet wurden. Diese wurden durch Experteninterviews angereichert. Anschließend diskutierten über 60 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik die Ergebnisse der Metaanalyse auf einem intensiven Expertinnenund Expertenworkshop. Dort arbeiteten sie diese weiter aus und entwickelten mittels Forecasting die Vision. Der Expertenworkshop gliederte sich in zwei Teile: Erstens Reflexion und Verfeinerung des wünschenswerten Zukunftsbilds. In diesem Teil erstellten die Experten gemeinsam mit Ministeriumsmitarbeitern die Visionen für jedes Themenfeld. Zweitens Backcasting und Identifizierung politischer Handlungsfelder (vgl. Abb. 2). Die daraus abgeleiteten Handlungsoptionen und Wegweiser sollen die Ministeriumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bei ihrer Arbeit unterstützen. An dieser Stelle erweiterte sich der Rahmen des Projekts auch in die Themenfelder der politischen Kommunikation, zum Beispiel mit den Schwerpunkten Technologiefolgenabschätzung oder politische Partizipation, die für die Strategieentwicklung seitens des Landes Österreich von großer Bedeutung sind.
Die weiterführende strategische Beratung und Begleitung fokussiert sich dabei auf zwei gewichtige Elemente: einerseits die Unterstützung bei der technologiebasierten, IT-strategischen Planung, wo technologische Entwicklungen bereits umsetzungsrelevant sind, andererseits die weitere Begleitung der Strategieentwicklungs- und Monitoring-Prozesse, die sich in der fortlaufenden Überprüfung des Zielbildes und der zugrunde liegenden Parameter widerspiegeln.
Das Beispiel Digitales Österreich 2040 zeigt, wie sich technologiebasierte Vorgehensweisen mit strategischen und partizipativen Methoden und Modellen kombinieren lassen und so eine aktive Beteiligung diverser Stakeholder an der Beantwortung der Frage ermöglicht wird, wohin sich die öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung entwickeln kann und soll.
Quellenangaben:
1 Verbraucher, der gleichzeitig Produzent ist (https://de.wikipedia.org/wiki/Prosumer).
2 Quelle: Zukunftsbild Digitales Österreich 2040–2050, BMDW, 2018.
3 Foto: A. Reischer, August-Wilhelm Scheer Institut für digitale Produkte und Prozesse gGmbH, 2019.