Welche Veränderungen seht ihr gegenwärtig in der Arbeitswelt in der öffentlichen Verwaltung – beispielsweise verbunden mit dem Stichwort „New Work“?
Julian Räke: Der Begriff „New Work“ wird zur Zeit viel verwendet. „New Work“ stellt die Handlungen von Individuen ins Zentrum eines Wandels, der die Strukturen in Bewegung bringt, vor allem aber andere Denkweisen – man spricht gemeinhin von „Mindset“ – erfordert und hervorbringt. New Work soll aber auch ein „sinnhaftes“ Arbeiten ermöglichen, mit einer Arbeit die, die Person wirklich machen möchte.[1] Das „Neue Arbeiten“ ist die Antwort auf eine als flüchtig, unsicher, komplex und mehrdeutig erlebte Welt, die sogenannte „VUCA-Welt“, die flexiblere Organisationen und stärker selbstverantwortlich handelnde Mitarbeitende erfordert. Das betrifft Mitarbeitende auf allen Ebenen, Führungskräfte selbstverständlich eingeschlossen.
Anja Haag: Derzeit sehen und erleben wir in vielen Projekten, dass Verwaltungen Veränderungen anstoßen oder anstoßen möchten. Dies folgt auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre, in denen zum Beispiel mobiles Arbeiten, ein verändertes Ressourcen- und Arbeitsmanagement während der Corona-Pandemie sowie die Etablierung geeigneter Rahmenbedingungen für ein hybrides Arbeiten in der Verwaltung angekommen sind. Bei dem Lernen aus diesen Erfahrungen, also dabei,aus ihnen die richtigen Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen und in wirksame Veränderung zu überführen, unterstützen wir aktiv die Verwaltung. New Work bedeutet ein Veränderungsprozess in allen Bereichen einer Organisation und zielt auf Prozesse, Strukturen und Mitarbeitende auf allen Ebenen inklusive der Führung. Dabei legen wir immer besonderen Wert darauf, zum einen ganz individuell auf die jeweilige Situation in der Behörde einzugehen, zum anderen auf Partizipation der Mitarbeitenden bei der Gestaltung der Veränderung.
Wie wirken sich diese Veränderungen auf die Rolle von Führungskräften aus?
Anja Haag: Öffentliche Verwaltungen und große Organisationen sind typischerweise noch pyramidial aufgebaut und folgen dem Command-Control-Ansatz[2]. Dabei sind u.a. Entscheidungswege und -verantwortlichkeiten sehr stark ausdifferenziert. Diese Struktur aber verhindert eine leistungsfähige Organisation, die auf Veränderungen reagieren kann, und die Gestaltung von Beteiligungs- und Verantwortungsräumen der zuständigen Personen. Eine Organisation ist dann zukunftsfähig, wenn die Person, die den Handlungsbedarf erkennt und über die Kompetenzen verfügt, um die erforderlichen Schritte einzuleiten, auch die Entscheidungshoheit hat. Dieser Ansatz ist der Sense-Response-Ansatz[3]. Das verändert das klassische Rollenbild und „die Verantwortung“ der Führungskräfte von alleinigen Entscheidern hin zu „Befähigern“. Auf diesen Mindset-Wechsel zielen unsere Angebote zur Führungskräfte-Entwicklung.
Wie kann in diesem Kontext erfolgreiche Führungskräfteentwicklung erfolgen?
Anja Haag: Sobald ein Projekt, eine Umstrukturierung, ein Prozess neu aufgesetzt werden, neue Aufgaben und Anforderungen hinzukommen, findet Veränderung statt. Auch dann, wenn man das nicht unter der Bezeichnung „Veränderungsprozess“ führt. Die Frage aber ist, wie die Veränderung begleitet wird. Einen Ansatz und unser Vorgehen zum Kulturwandel haben wir auch in unserem Artikel „New Work – Ein Anstoß zum Kulturwandel“ in unserem Magazin .public beschrieben[4].
Darin geht es um die Rolle der Führung, um Beteiligung und um Handlungsfreiräume der Mitarbeitenden. Unsere Veränderungsbegleitung und Führungskräfte-Entwicklung richtet sich stets individuell an der Situation in der jeweiligen Behörde und ihren spezifischen Bedarfen aus und setzt bei Prozessen, Strukturen und Mitarbeitenden auf unterschiedlichen Ebenen an. Das bedeutet, alles drei muss auch in der Führungskräfte-Entwicklung berücksichtigt werden. Dabei sind weitere Kernelemente die eigene Haltung, Mindset, Kommunikationsverhalten, Einstellung zum Team und die eigene Selbstwirksamkeit.
Julian Räke: Nach der Bestandsaufnahme und Diagnose des IST, erarbeiten wir gemeinsam mit den Beteiligten als Basis ein Führungsverständnis und Führungsleitlinien - ein erster Schritt für die Etablierung einer Zusammenarbeit über Hierarchieebenen hinweg. Diese Leitlinien werden regelmäßig reflektiert mit dem Team und im Kollegenkreis, beispielsweise mittels 360-Grad-Feedback, Retrospektiven oder Stimmungsbildern, und aus dieser Reflexion werden Maßnahmen abgeleitet. Neben dem gemeinsamen Führungsverständnis setzen aber noch weitere Elemente wie Zielbilder und Strategie der Organisation den Rahmen für den Prozess. Um die verschiedenen Führungsrollen (z.B. Befähiger, Entscheider, Fachexpert:in, Coach, Personalentwickler, Intrapreneur) zu erleben und für sich zu verinnerlichen, empfehlen wir die Verankerung in einem längerfristig angelegten Leadership-Programm. Als weitere Methoden für die Implementierung des gemeinsamen Lernens haben sich zum Beispiel Mentoren-Programme, Kollegiale Beratung und Lernbegleiter etabliert.
Wie unterstützt Ihr die Behörden dabei?
Julian Räke: Wir bieten Beratung und Durchführung von Trainings, Workshops und Prozessbegleitung der Organisationsentwicklung, aber auch Coaching nach systemischen oder agilen Prinzipien. Wir richten unsere Angebote auf die spezifischen Bedürfnisse des Kunden aus. Coaching-Angebote und Workshops zur Mindset-Entwicklung bilden dabei die wichtigsten Tools für FK-Entwicklung. Dabei setzen wir die Impulse für die Entwicklung auf den genannten verschiedenen Ebenen – Prozesse, Strukturen, Mitarbeitende – und mit wechselnden Schwerpunkten immer wieder neu. Ein einmaliges Fortbildungsprogramm wird nur auf den Moment einzahlen. Veränderung ist aber ein andauernder Prozess.
Könnt Ihr Euer Vorgehen an einem Beispiel erläutern?
Julian Räke: In den agil und selbstorganisiert aufgestellten Teams stellt sich oft die Frage, wie schaffen wir es, unter Einbezug sämtlicher Teammitglieder schnell Entscheidungen zu treffen, Maßnahmen und Lösungen zu definieren. Hier nutzen wir oftmals Methoden aus den Liberating structures[5]Jede einzelne Liberating Structures-Methode hat ihren spezifischen Anwendungszweck, einer davon ist eine schrittweise Herangehensweise bei der Bewältigung von Herausforderungen im Team.
Die bekannteste Methode ist wohl die 1-2-4 -All-Methode. Dabei wird eine Fragestellung in die Gruppe gegeben. Zunächst macht sich jede Person ihre eigenen Gedanken dazu. Dann werden Paare gebildet, die ihre Ideen und Gedanken austauschen. Die Paare suchen sich dann ein anderes Paar und sprechen über die jeweiligen Ergebnisse. Anschließend stellt jede 4er Gruppe ihre Ideen und Gedanken den anderen Teammitgliedern vor. Gemeinsamkeiten etc. werden dann zusammen herausgearbeitet.
Mit dieser Methode wird eine große Teamdynamik spürbar, alle Mitarbeitende arbeiten an der Lösungsfindung mit und geben ihre Ideen in den Prozess. Die Führungskraft kann sich Wissen und Know-How von allen abholen und erhält ein gemeinsames Ergebnis, das von den Mitarbeitenden akzeptiert ist, da alle involviert im Prozess waren. Eine Lösung muss daher nicht mehr einzeln von der Führungskraft oder von einem Teammitglied erarbeitet werden.
Anja Haag: Noch einen anderen „Werkstattblick“ in unsere Projektarbeit kann ich mit einem Format zur Aufgabenverteilung geben: die kollegiale Rollenwahl[6]. Wenn in einer Teambesprechung Freiwillige für die Übernahme einer neuen oder zusätzlichen Aufgabe gesucht werden, erlebt die Führungskraft mitunter die Enttäuschung, weil sich niemand dafür findet, und beklagt das mangelnde Engagement der Mitarbeitenden. Konsequenz daraus ist oftmals, dass sie Aufgaben nicht mehr zu Disposition gibt. Die Mitarbeitenden auf der anderen Seite sehen aber vielleicht für sich keine Motivation oder Wertschätzungen gegeben, wenn sie Aufgaben übernehmen.
Bei der kollegialen Rollenwahl können die Mitarbeitenden sich selbst oderandere namentlich vorschlagen und müssen ihre Wahl mit der jeweiligen Expertise begründen. Die Person sollte aber immer noch die Möglichkeit haben, die Wahl abzulehnen oder nach einem gewissen Zeitraum veranlassen, die Aufgabe neu zu verteilen. Wir erleben hier immer wieder, wie die Führungskraft von den Vorschlägen und dem Feedback der Mitarbeitenden untereinander positiv überrascht wird und erlebt, wie Aufgabenverteilung auch „anders“ aussehen kann.
Interviewpartner:
[1] https://t3n.de/magazin/new-work-urvater-frithjof-bergmann-alte-mann-mehr-247621/ (abgerufen 06.10.2022)
[2] https://www.cio.de/a/wie-ein-moderner-fuehrungsstil-aussieht,3260793 (abgerufen am 05.10.2022)
[3] https://customerthink.com/command_and_control_versus_sense_and_respond_a_new_paradigm_for_innovation/ (abgerufen am 06.10.2022)
[4] https://www.msg.group/public-magazin-beitrag/new-work-ein-anstoss-zum-kulturwandel (abgerufen am 05.10.2022)
[5] https://liberatingstructures.de/ (abgerufen am 07.10.2022)
[6] https://kollegiale-fuehrung.de/entscheidungswerkzeuge/ (abgerufen 06.10.2022)