Axel Drengwitz und Rainer Clemens (IMTB) erläutern im Interview die Ergebnisse der Studie.
Was ist der Hintergrund für die durchgeführte Behördenbefragung?
Axel Drengwitz: Zurzeit dreht sich sehr viel um das Onlinezugangsgesetz. Mit der Umsetzung des OZG hat die Digitalisierung der öffentlichen Hand ohne Zweifel einen maßgeblichen Schub erhalten, allerdings betrifft der vor allem Frontend-Services. Wir sehen in unserem Beratungsalltag, dass die dahinterliegenden Arbeitsprozesse eher vernachlässigt werden. Wir wollten ermitteln, wie der Stand von E-Government und seinen Basiskomponenten – also vonder Einführung und Nutzung der E-Akte, der Anbindung von Fachverfahren oder der Anwendung von Prozessmanagementwerkzeugen – aktuell tatsächlich ist. Denn klar ist: Nur wenn Prozesse durchgängig betrachtet und umgesetzt werden, können die Digitalisierungsbestrebungen Erfolg haben. Daher kommt es uns nicht nur darauf an, Befunde mit Zahlen zu belegen. In dem Studienband finden Leserinnen und Leser auch Good-Practice-Beispiele und konkrete Handlungsempfehlungen. Mit Unterstützung des IT-Marktanalyse- und Beratungsunternehmens P.A.C. haben wir telefonisch 130 Fachbehördenvertreter aus Bund, Ländern und Kommunen befragt. Die Befragungsergebnisse haben wir dann in Hintergrundgesprächen mit weiteren IT-Verantwortlichen aus allen Behördenebenen vertieft. Beispielhafte und starke Aussagen aus diesen Gesprächen zitieren wir in der Studie wörtlich.
Warum haben Sie die Schwerpunkte der Studie auf E-Akte, digitale Vorgangsbearbeitung und Fachverfahren sowie Prozessmanagement gelegt?
Rainer Clemens: Eine Verwaltungsdigitalisierung mit durchgängigen Prozessen und medienbruchfreien Datenflüssen kann nur erreicht werden, wenn die Komponenten wie Zahnräder ineinandergreifen. Das ist noch nicht der Fall, wie unsere Studie ergab. Vielmehr wurden im vergangenen Jahrzehnt in zahlreichen Projekten E-Akten-Systeme konzipiert, beschafft und eingeführt. Daher wird insbesondere auf der Leitungsebene das Thema E-Akte heute als ‚erledigt‘ eingestuft. Ein Fehler. Denn es sind zwar wesentliche Kernbausteine einer E-Akte in den Verwaltungen vorhanden, aber zahlreiche Fälle können nicht aus der E-Akte heraus bearbeitet werden. Warum nicht? Weil es an organisatorischer und technischer Integration, Akzeptanz und auch an ausreichendem Know-how in den Behörden fehlt. Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Behörden noch immer nicht über effiziente und lösungsorientierte elektronische Prozessdokumentationen beziehungsweise ein Prozessmanagement verfügen, womit Verwaltungsverfahren und Arbeitsprozesse optimiert werden könnten.
Was sind Ihre zentralen Erkenntnisse im Bereich E-Akte?
Axel Drengwitz: Die meisten Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer haben die Mehrwerte der E-Akte zwar erkannt, nutzen aber ihr Potenzial nicht voll aus. Das liegt unter anderem daran, dass die E-Akte nicht von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern akzeptiert wird, weil sie sich durch ihre Anwendung „gläsern“ fühlen. Darüber hinaus leben vielfach auch die Führungskräfte die konsequente Nutzung der E-Akte nicht vor. Das hat zur Folge, dass der Kulturwandel nur langsam voranschreitet. Als ein wesentliches Hemmnis stufen die Befragten die fehlende Berücksichtigung fachlicher Anforderungen ein. So lassen sich Fachverfahren oder Prozesse nicht an die E-Akte anbinden. Erst bei knapp einem Drittel aller Behörden ist die E-Akte vollständig eingeführt.
Was bedeutet diese mangelhafte Anbindung von Fachverfahren?
Rainer Clemens: Ein Großteil der Verwaltungen ist noch immer auf papierbasierte Arbeitsprozesse angewiesen. Die Gründe dafür liegen unter anderem auch an den hohen Hürden, durchgängige Prozesse IT-gestützt abzubilden, da diese aufgrund von technischen Integrationsmängeln stark gebremst werden. Medienbrüche, die mit Papierakten übergangsweise umschifft werden, sind die Folge. Überraschend ist, dass auch nach Ablauf gewisser Übergangszeiten viele Verwaltungen auch zukünftig beide Aktensysteme parallel weiterführen wollen. Dies sollte aber nur in Ausnahmen der Fall sein. Wir empfehlen daher, ein weitreichendes Akzeptanzmanagement zu etablieren und umfangreiche Schulungsmaßnahmen anzubieten. Nicht jede Generation hat eine gleichermaßen hohe Affinität zu digitalen Arbeitsweisen, weshalb solche Angebote auf dem Weg zum E-Verwaltungsarbeitsplatz unverzichtbar sind.
Welche organisatorischen und prozessualen Auswirkungen hat dies auf die behördlichen Arbeitsprozesse?
Axel Drengwitz: Schnittstellen sind zum Motor der durchgängigen Digitalisierung geworden. Über sie werden die unterschiedlichen Systeme angebunden und Flexibilität und Geschwindigkeit in den Arbeitsvorgängen erreicht. Sind die Nahtstellen zwischen Organisationseinheiten und Übergabepunkten in Prozessen gestört, muss der Nutzer weiterhin während eines Arbeitsprozesses die Programme wechseln. Medienbruchfreie Datenflüsse kommen nicht zustande, stattdessen sind Mehrfacheingaben notwendig. Das ist weder ergonomisch noch schnell. Eine reibungslose Prozesssteuerung ist kaum möglich. So ist es nicht verwunderlich, dass die Anwender bei fehlenden Schnittstellen wegen der mangelnden Leistungsfähigkeit der E-Akte unzufrieden sind.
Wie lassen sich diese Einschränkungen überwinden?
Rainer Clemens: Als einen wichtigen Schlüssel sehen wir die Einführung von Digitalisierungsplattformen in den Verwaltungen. Sie können historisch gewachsene Systeme und Datenbanken flexibel über passende Konnektoren integrieren und helfen so, Prozesse zu automatisieren beziehungsweise zu steuern. Datenflüsse werden integriert, Mehrfacheingaben entfallen. Veränderungen in Prozessabläufen oder gesetzlich vorgegebene Anpassungen realisieren die Nutzenden schnell und unkompliziert durch Konfiguration. Fachverfahren können zielgerichtet modular nach dem Baukastenprinzip digitalisiert werden. Auch Altanwendungen, die sämtliche Anforderungen eines Fachverfahrens abdecken, lassen sich auf eine Digitalisierungsplattform portieren und mit zusätzlichen Plattformfunktionalitäten wie mobilen Apps, Auswertungen, KI oder Automatisierungen modernisieren. Zusätzliche Funktionen wie beispielsweise Chatbots, Robotic Process Automation oder Formularmanagement steigern den Mehrwert für alle Nutzenden.
Nutzen die Behörden bereits Digitalisierungsplattformen?
Axel Drengwitz: Zum jetzigen Zeitpunkt haben Digitalisierungsplattformen die Verwaltungen noch nicht auf breiter Basis durchdrungen, es gibt aber vereinzelte Ansätze. Das gibt auch unserer Umfrage wieder. Die Verwaltungen sind durch die Einführung der Basiskomponenten des E-Governments und durch den Druck, den die Umsetzung des OZG oder die Registermodernisierung erzeugt, bereits mehr als ausgelastet. Da bleibt kaum Zeit, sich über technologische Neuentwicklungen zu informieren, die die digitale Transformation entscheidend vorantreiben und auch erleichtern würden. Behörden, die das Thema Digitalisierungsplattform bereits angehen, verfolgen in der Regel eine rein technische Herangehensweise: Sie schreiben Produkte ohne fachliche Unterstützungsleistungen aus, um zu experimentieren. Sinnvoll wäre, technische und fachliche Unterstützung parallel zur Hilfe zu nehmen.
Inwieweit ist Prozessmanagement (PZM) ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche digitale Transformation?
Rainer Clemens: Grundsätzlich wird im Prozessmanagement zwischen einer operativen und strategischen Ebene unterschieden. Während sich das operative Prozessmanagement mit der Dokumentation, Optimierung und kontinuierlichen Verbesserung einzelner Prozesse beschäftigt, formuliert das strategische Prozessmanagement den Rahmen und die Vorgaben, die an den strategischen Zielen der Verwaltung ausgerichtet sind. Ohne das strategische Prozessmanagement werden Prozesse vielleicht punktuell für bestimmte Vorhaben oder Organisationsbereiche erhoben, aber es fehlt eine strukturierte und einheitliche Vorgehensweise, die zu einer vollständigen und durchgängigen Prozessdokumentation führen. Das ist auch einer der Gründe, warum die Potenziale von PZM von den Behörden nicht voll ausgeschöpft werden. Dabei können effiziente IT-gestützte Arbeitsabläufe nur umgesetzt werden, wenn optimierte und durchgängige Soll-Prozesse mit den nötigen Informationen vorliegen. Kernelemente wie Prozessdokumentationen, Prozesslandkarten und die Erfassung von Kennzahlen unterstützen die Behörden auf ihrem Weg in eine erfolgreiche durchgängige Digitalisierung.
Was sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren für eine moderne Verwaltung?
Axel Drengwitz: Wir haben aus den Befragungsergebnissen sechs Handlungsempfehlungen in verschiedenen Themenfeldern abgeleitet, die eine gute Grundlage für eine durchgängige Digitalisierung bieten. So sehen wir u. a. nach wie vor zu geringe Anstrengungen, Digitalkompetenzen auf allen Ebenen in den Behörden aufzubauen. Hier besteht großer Nachholbedarf, um digitale Verwaltungsprozesse überhaupt sicherstellen zu können. Auch müssen Digitalisierungsplattformen sukzessive in die deutsche Behörden-IT gebracht werden. Sie werden der Schlüssel für medien- und systembruchfreie Prozesse sein.
Interviewpartner
Axel Drengwitz ist als Bereichsleiter bei msg Public Sector für das Beratungsangebot zur Optimierung der Aufbau- und Ablauforganisation in der Öffentlichen Verwaltung insgesamt verantwortlich. Aus langjähriger und intensiver Beratungstätigkeit besitzt Herr Drengwitz umfassende Expertise zu Fragen der Organisationsgestaltung. Der zielgerichtete Einsatz von IT-Unterstützung zur Optimierung von Organisationen bildet hierbei einen wesentlichen Beratungsschwerpunkt.