Wie profitiert eine Organisation bzw. eine Behörde von der Umsetzung der Barrierefreiheit?
Sebastian Bartsch: Tatsächlich ist die verbesserte Bedienbarkeit für Menschen mit Einschränkungen, der mit dem Begriff „Barrierefreiheit“ verbunden wird, der wichtigste, aber nur ein Aspekt. Damit werden die Services einem Personenkreis zugänglich, der sonst – etwa bei der Antragsstellung – individuell betreut werden müsste. Und auch viel mehr Arbeiten, die in der Behörde anfallen, können von Menschen mit Einschränkungen übernommen werden. Aber auch alle Benutzer der Website oder der Software, die keine Einschränkungen haben, profitieren von der höheren Benutzerfreundlichkeit. Barrierefreiheit trägt daher einerseits generell zu mehr Effizienz in der Arbeit bei, andererseits zu einer erhöhten Conversion-Rate online.
Judith Faltl: Darüber wirken sich Anwendung von Standards und eine normgerechte Programmierung auch auf den Betrieb und die Wartung der Software oder der Website aus. Und eine bessere Wartbarkeit senkt Kosten.
Ihr mahnt zu einer ganzheitlichen Sicht auf die Aufgabe Barrierefreiheit – was bedeutet das?
Judith Faltl: Wir meinen damit die Berücksichtigung von Barrierefreiheit schon in der Planungsphase eines Projektes. Fehler werden von Anfang an vermieden, während sie sich sonst gern im Verlauf wiederholen und am Ende mehrfach behoben werden müssen. Eine nachträgliche Implementierung der Barrierefreiheit kann dann schon mal ein Kostenvolumen erreichen, das an die Kosten für das Projekt selbst heranreicht. Wenn man das Thema von Beginn an mit verfolgt, bedeutet das hingegen einen Mehraufwand lediglich im niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Sebastian Bartsch: Es geht aber nicht nur darum, Kosten zu reduzieren. Die Anforderungen der Barrierefreiheit bieten sehr gute Richtlinien für die Softwareentwicklung. Sind diese schon bei der Anforderungsanalyse berücksichtigt, können die Spezifikation und das Design sie zusammen mit den fachlichen Anforderungen umsetzen. Das hat zur Folge, dass die Software, wie gesagt, benutzerfreundlicher, strukturierter und damit auch wartbarer wird. Das reduziert auch den Aufwand in der Programmierung und im abschließenden Test. Und vor allem verbessert das insgesamt die Qualität der Software.
Was sind die ersten Schritte, wenn Ihr ein Projekt zur Sicherstellung von Barrierefreiheit startet?
Sebastian Bartsch: Zunächst gilt es, das Management abzuholen und zu sensibilisieren. Viele verbinden mit Barrierefreiheit eher etwas Negatives, vor allem einen hohen Mehraufwand. Die positiven Effekte sind meist gar nicht bekannt. Deshalb müssen alle ins Boot geholt werden, um die Anforderungen der Barrierefreiheit im Projekt fest zu verankern – bei allen Projektmitarbeitern, Projektleiter_in, Entwicklern und Testern gleichermaßen.
Für welche Bereiche muss Barrierefreiheit hergestellt werden und bis wann?
Judith Faltl: Mit einigen Ausnahmen, etwa Archive, ist aktuell der gesamte öffentliche Sektor betroffen. Zwar besteht die Verpflichtung, interne und externe Anwendungen barrierefrei zur Verfügung zu stellen schon länger. 2021 müssen jedoch erstmalig Berichte zum Stand der Barrierefreiheit erstellt und über mehrere Stufen bis auf EU-Ebene gemeldet werden. Der European Accessibility Act sieht allerdings auch für die Privatwirtschaft eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit vor – und das schon bald. Bis zum Juni 2022 muss er in den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt sein und drei Jahre später, Mitte 2025 also, auch flächendeckend angewendet werden. Ein Entwurf für Deutschland liegt bereits vor.
Wie können Behörden sich schnell einen groben Überblick verschaffen, was zu tun ist?
Judith Faltl: Eine gute erste Anlaufstelle ist die Bundesfachstelle Barrierefreiheit oder das Pendant auf Landesebene. Dort sind alle Informationen, auch jeweils aktuelle Informationen zu finden. Wir empfehlen Behörden, sich zunächst für ihre Websites mit der Mustererklärung zur Barrierefreiheit zu befassen und eine Kontaktstelle zum Melden von Barrieren einzurichten, um zu zeigen, dass sie das Thema aktiv angehen. Außerdem sollten sie dafür sorgen, dass auf der Startseite grundlegende Informationen in Gebärden- und in leichter Sprache ergänzt werden. Im Anschluss sollten sie ihre Webangebote auf Barrierefreiheit testen bzw. testen lassen und auf dieser Basis einen Zeit- und Umsetzungsplan für eine mögliche Optimierung des Angebots erstellen.
Sebastian Bartsch: msg entwickelt aktuell ein Verfahren, mit dem sich Behörden und Organisationen selbst einschätzen können. Dieses Verfahren berücksichtigt nicht nur die technischen Anforderungen, sondern zugleich organisatorische und übergreifende Themen. Auch hier sind wir bestrebt, das Thema ganzheitlich voranzutreiben und den Kunden bestmöglich zu unterstützen, schon bevor ein Projekt im eigentlichen Sinne beginnt.
Was können Behörden tun, um schnell eine Verbesserung ihrer Angebote zu erreichen?
Judith Faltl: Wie in jedem anderen Projekt auch gibt es bei der Umsetzung der Barrierefreiheit Artefakte, die viel Aufwand bedeuten und wenig Nutzen bringen, und solche mit geringem Aufwand und hohem Nutzen. Das gilt es zu analysieren und zu priorisieren. Verallgemeinern lässt sich das nur schwer. Grundsätzlich lässt sich aber sagen: Gute erste Schritte sind eine kontrastreiche Gestaltung und die durchgängige Bedienbarkeit mit der Tastatur. Alles, was zu hören ist, muss auch zu sehen sein und umgekehrt: Das heißt, Bilder und Videos brauchen einen beschreibenden Text, jedes Audio Untertitel oder Erklärungen in Gebärdensprache.