Frau Kruse, Frau Prötzsch, Sie haben aus einem Projekt heraus ein Programm entwickelt, das die Entwicklung einer Leistung gemäß Onlinezugangsgesetz (OZG) in zehn Tagen möglich macht. In welchen Fällen ist eine so schnelle Umsetzung nötig?
Kruse: Das sind vor allem Situationen, in denen die Verwaltung zu schnellem Handeln gezwungen sind. Manchmal verlangen neue Gesetze danach, manchmal entsteht der Druck durch Katastrophen bzw. im Ausnahmezustand. Für Berlin sind das Anträge im Zusammenhang mit dem neuen Mietendeckel gewesen und jetzt die Anträge auf Entschädigung für Arbeitgeber und Selbständige im Zusammenhang mit Quarantäne bzw. Tätigkeitsverbot und Kita-Schließungen aufgrund des Corona-Shut-Downs.
Prötzsch: Letztlich aber ist die Notwendigkeit einer schnellen Umsetzung keine Ausnahme. Die hohe Zahl der Verwaltungsleistungen, die bis Ende 2022 online verfügbar sein müssen, erfordert in jedem Fall eine zügige Umsetzung! Und: Wenn es schnell vorangeht, dann entsteht eine gewisse Begeisterung für die Digitalisierung – bei den Projektbeteiligten, in der Verwaltung insgesamt, aber auch die Verwaltungskunden reagieren positiv!
Wie funktioniert „In zehn Tagen zur OZG-Leistung“?
Kruse: Wir haben das Vorgehen standardisiert. Das heißt die Anforderungserhebung zur Konzeption der Online-Leistung erfolgt standardisiert und gleichzeitig behörden-individuell. Wir verfügen über einen großen Methodenkoffer, ein breites Portfolio, aus dem wir die passende Methode auswählen.
Prötzsch: Wichtig für die Wahl der Methode ist, sich im Vorfeld Klarheit darüber zu verschaffen, welchen Reifegrad die Anforderungen haben. Dahinter steckt vor allem die Frage, wie neuartig die jeweilige Leistung ist. Wenn gewünscht, setzen wir auch agile Erhebungs- und Umsetzungsmethoden ein. Die Umsetzung erfolgt mit einer klaren Rollenzuweisung in interdisziplinären Teams und mit einer routinierten Steuerung. Grundlage dafür ist eine detaillierte, erprobte Checkliste.
Kruse: Diese vorgedachten Standards und Bausteine sind von zentraler Bedeutung. Es liegen nicht nur Checklisten vor, sondern auch nachnutzbare Formularbausteine, die BITV-konform sind. Darüber hinaus braucht es ein standardisiertes Datenformat, beispielsweise XFall, und eine einheitliche Übergabe an die jeweiligen Fachverfahren. Grundlage sind außerdem einheitliche Vereinbarungen etwa hinsichtlich Datenschutz.
Welche Voraussetzungen hat die schnelle Umsetzung darüber hinaus?
Kruse: Das A und O ist das standardisierte Vorgehen, das wir „Fertigungsstraße“ nennen und die jeweilige Anpassung. In der Fertigungsstraße hat jede Rolle klare Aufgaben, die in feststehender Reihenfolge abgearbeitet werden, und klare Verantwortlichkeiten. Dadurch wissen alle Beteiligten stets, an welchem Punkt der Umsetzung sie sich gerade befinden, wer mit wem worüber kommunizieren sind und wer wofür verantwortlich ist. Unser Team bindet die Fachverwaltung ein in den klar geregelten Umsetzungsprozess.
Wo wurde diese Vorgehensweise bereits angewendet?
Prötzsch: Im Land Berlin wurden und werden bereits mehr als zwanzig Anträge gemäß OZG mit unserer Fertigungsstraße umgesetzt. Teils sind die bereits produktiv, teils sind wir im Entwicklungprozess. In der Freien und Hansestadt Hamburg sind vier Anträge in der Produktivsetzung.
Was ist das Besondere an dieser „Fertigungsstraße“?
Prötzsch: Die Fertigungsstraße kann als generisches Modell nicht nur an die Gegebenheiten der jeweiligen Behörde angepasst werden, zum Beispiel vorgesehene Beteiligungsprozesse berücksichtigen. Sie ist auch unabhängig von den verwendeten Umsetzungslösungen. Dadurch ist sie für alle Verwaltungen nutzbar, für die das Onlinezugangsgesetz gilt. Sie liegt als BPMN-Modell vor, d.h. sie besteht aus generisch definierten Aufgaben, Lieferobjekten und Artefakten, Rollen und Zuständigkeiten für jeden Prozessschritt. Meilensteine definieren die jeweiligen Zustände eines Formulars. Darüber hinaus liegen detaillierte Beschreibungen des Vorgehens der Prozessbeteiligten sowie Kennzahlen für das Monitoring/Controlling vor. Mit anderen Worten: In der Fertigungsstraße gibt es einen klaren Ablauf mit einer gewissen Methodenfreiheit innerhalb der Umsetzungsphasen, klare Rollen und Zuständigkeiten. Gleichzeitig werden die Umsetzungsvorhaben durch ein erfahrenes Projektmanagement begleitet und unterstützt. Zwei weitere Besonderheiten sind einerseits die entwicklungsbegleitenden Barrierefreiheitstests, die für jedes Umsetzungsvorhaben durchgeführt werden, und andererseits die Beachtung von datenschutzrechtlichen Vorgaben.
Zum Schluss: Wie können nun andere Behörden mit der Fertigungsstraße loslegen?
Kruse: Am Anfang steht immer ein „Erstaufnahmegespräch“, in dem wir die Rahmenbedingungen klären, die Größe und den Umfang des Antrags besprechen und aus wie vielen Teilanträgen eine Leistung besteht. Hilfreich ist natürlich, wenn ein paar Dinge vorliegen: definierte Prozesse, wie der Antrag anschließend bearbeitet wird, und Klarheit über die Datenfelder, die im Fachverfahren benötigt werden. Dann können wir den Antrag effizient „auf die Straße bringen“.