Was versteht man unter digitaltauglichem Recht?
Digitaltaugliches Recht bedeutet, Gesetze so zu gestalten, dass sie digital vollzogen werden können. Recht ist also digitaltauglich, wenn es die digitale Umsetzung ermöglicht.
Sind Gesetze in Deutschland derzeit digitaltauglich?
Nein. Unsere Rechtsnormen sind nicht auf die Anforderungen einer digitalen Umsetzung ausgerichtet. Oft sind sie überkomplex oder uneindeutig. Das erschwert die Rechtsanwendung und behindert die Umsetzung politischer Entscheidungen und Ziele.
Woran liegt das konkret?
Das liegt zum Beispiel an dem Versuch, immer mehr Einzelfällen gerecht werden zu wollen. Oft bewirkt dies aber das Gegenteil: Überkomplexe Gesetze führen im Vollzug zu Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlung. Ein Problem ist, dass Gesetze nicht für die Betroffenen formuliert werden. Formulierungen in Gesetzentwürfen spiegeln häufig das Verständnis der am Gesetzgebungsprozess Beteiligten wider. Bei polarisierenden politischen Themen geht die Debatte oft hitzig weiter, nachdem der Gesetzentwurf eingebracht wurde. Am Ende gibt dieser dann die Kompromisse oder Streitigkeiten der politischen Parteien wider - an manchen Stellen ist er schwammig und an anderen unnötig konkret oder gar widersprüchlich formuliert. Für den digitalen, automatisierten Vollzug von Gesetzen benötigen Softwaresysteme jedoch eindeutige Regelwerke. Erschwerend kommt der Föderalismus mit seinen vielen Gesetzgebern hinzu.
Durch die fehlende Koordinierung der zuständigen Behörden existieren manchmal mehrere widersprüchliche Regelungen nebeneinander. Oder es gelten Regelungen, die einen Einzelfall betrafen, nun aber nicht mehr relevant sind.
Eine weitere Hürde sind die Anforderungen an die Nachweiserbringung und Informationspflicht durch Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen gegenüber dem Staat, wie z.B. die Schriftformerfordernis.
Was hat das für Folgen?
Probleme in der Ausführung von Gesetzen führen zu hohen Kosten, etwa wenn Gerichte die Uneindeutigkeit von Gesetzen ausfechten müssen. Wenn Betroffene, also Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen, Gesetze nicht verstehen oder diese nicht nachvollziehbar oder uneinheitlich ausgeführt werden, steigt die Arbeitsbelastung für die Verwaltungen und das Vertrauen der Gesellschaft in den Staat sinkt. Sind Gesetze nicht praxistauglich, krankt das wichtigste Werkzeug zur Umsetzung von politischen Zielen in unserem Rechtsstaat. Auch in Bezug auf die Digitaltauglichkeit haben Überkomplexität oder Ungenauigkeit von Gesetzen Folgen, so können beispielsweise Verwaltungsprozesse an vielen Stellen nicht digital ablaufen; reguläre Leistungen wie Kindergeld sind nicht automatisiert auszahlbar, weil jeder Einzelfall immer wieder einzeln zu bearbeiten und bewerten ist.
Zudem gibt es keine Standards für die Formulierung „guter Gesetze“, an denen sich Referenten und Referentinnen orientieren könnten, um Gesetzentwürfe zu verfassen.
Wie können Gesetze besser und digitaltauglicher werden?
Ein Standard sollte sein, Gesetze so zu formulieren, dass sie für Betroffene und Anwendende verständlich sind und nicht mehr Aufwand in der Umsetzung für Betroffene verursachen als erforderlich. Sie sollten die künftige Entwicklung im Blick behalten und widerspruchsfrei und eindeutig formuliert sein. Gesetze sind dafür da, politische Ziele effektiv umzusetzen und dabei einen effizienten Vollzug zu ermöglichen. Hierfür müssen Gesetze eben auch digitaltauglich sein. Es gibt noch viele weitere Anforderungen an bessere Rechtsetzung.
Die Politik hat aber bereits erkannt, dass in Deutschland Gesetze unzeitgemäß formuliert werden und so an Qualität einbüßen. Unbestritten ist, dass Regulierung die Digitalisierung im Blick behalten muss. Immerhin gilt seit 2023 verpflichtend für alle neuen Regelungen des Bundes, dass diese digitaltauglich verfasst und daraufhin geprüft werden müssen. Hierzu hat der Nationale Normenkontrollrat zusammen mit dem BMI kürzlich ein standardisiertes Vorgehen zur Prüfung entwickelt – den Digitalcheck: Legisten sollen sich demnach bei der Prüfung auf Digitaltauglichkeit ihrer Gesetzentwürfe an fünf Kriterien orientieren. Zum Beispiel sollen sie IT-Expertise einholen und mithilfe von Prozessmodellierung Umsetzungsprozesse visualisieren. Das ist sinnvoll.
Allerdings leiden Referentinnen und Referenten, die in Bundesministerien Gesetzentwürfe formulieren, unter einer hohen Arbeitslast. Ob sich das Verfahren durchsetzen wird, hängt davon ab, wieviel Unterstützung Legisten erhalten und wie handhabbar, übersichtlich und unkompliziert die Prüfung in der Praxis abläuft. Sonst verkommt eine gute Idee zum Zweck des Bürokratieabbaus zu einem zusätzlich erschwerenden Arbeitsschritt im Verwaltungsapparat, um den man sich drückt, oder den man schnell abhakt.
Ein weiteres Problem ist die Uneindeutigkeit einiger Rechtsbegriffe, die wichtig für viele Verwaltungsleistungen sind.
Welche Rechtsbegriffe sind uneindeutig und warum?
Es gibt Begriffe, deren Bedeutungen gewollt unterschiedlich definiert sind. Das Sozialrecht zum Beispiel orientiert sich an dem Prinzip der wirtschaftlichen Bedürftigkeit, das Steuerrecht am Prinzip der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. In beiden Rechtskontexten spielt „Einkommen“ als Rechtsbegriff eine große Rolle. Für die Digitalisierung von wichtigen Verwaltungsleistungen wie Kinder-, Eltern- oder Bürgergeld ist die Bewertung des Einkommens essenziell. Bei über 200 Verwaltungsleistungen müssen Daten zum Einkommen angegeben werden. Die Behörden verstehen den Begriff „Einkommen“ aber unterschiedlich; in den Rechtstexten ist er auch sehr individuell in Bezug auf Abgrenzungen, Zeit- und Personenbezügen ausgestaltet. Um eine Vorschrift automatisiert mit Daten abzugleichen oder in Datenstrukturen abzubilden, muss sie eindeutig sein – sprachlich und inhaltlich. Zentrale Rechtsbegriffe sind die Basis für die Formulierung von Gesetzen. Sind diese nicht eindeutig abbildbar, können keine digitaltauglichen Gesetze entstehen; damit verbundenen Leistungen können nicht digital bzw. automatisiert erfolgen.
Lassen sich die betroffenen Rechtsbegriffe vereinheitlichen?
Man kann die Bedeutungen von Rechtsbegriffen modular, bzw. in Bausteinen, abbilden. Eine vollständige Vereinheitlichung wäre zu aufwendig und nicht erforderlich. Wir haben das am Beispiel des Einkommensbegriffs zusammen mit den Steuerrechtsexpertinnen und -experten der Ruhr-Universität Bochum im Jahr 2021 in einem NKR-Gutachten gezeigt. Rechtsbegriffe lassen sich in ihre Bestandteile zerlegen und je nach fachlichem Kontext nach dem Baukastenprinzip kombinieren. Durch Verweise auf die einzelnen Module könnten auch andere Rechtsgebiete diese Bestandteile nachnutzen. Die jeweiligen Bedeutungsmodule müssten verpflichtend bei der Formulierung eines Gesetzentwurfs genutzt werden. Fehlende Module sind zu definieren und zur Nachnutzung in einem Data Dictionary zu hinterlegen. Zudem sind diese Module mit den Datenbeständen in den Behörden abzugleichen. Dabei ist der Prozess mit bestehenden relevanten Projekten, existierenden Informationsplattformen und Fachverfahren zu verknüpfen und auf bestehenden Standards aufzubauen.
Im Anschluss an das Gutachten wurde der modularisierte Ansatz weiterentwickelt. Behördenübergreifende Arbeitsgruppen erarbeiteten den Umgang mit einem modularisierten Einkommensbegriff. Es gibt aber noch weitere Rechtsbegriffe, die ebenso harmonisiert werden müssen. Zudem braucht es ein standardisiertes Vorgehen im Rechtssetzungsverfahren zum Umgang der Legisten mit den Modulen.
An vielen Stellen wird bereits an der Verbesserung unserer Rechtssetzung gearbeitet. Entscheidend ist, dass alle Verwaltungsebenen und Ressorts enger und koordinierter zusammenwirken, um schneller etwas voranzubringen. Nach dem Once-Only-Prinzip übermittelt jeder Bürger, jede Bürgerin und jedes Unternehmen Daten nur einmal an eine Behörde und die Behörden tauschen diese Daten dann untereinander aus. Dieses Prinzip setzt aber voraus, dass Behörden aller Ebenen verfahrensübergreifende Prozesse zum Datenaustausch entwickeln. Auf dem Weg zu Once-Only wäre die Harmonisierung von für Verwaltungsleistungen zentralen Rechtsbegriffen ein Durchbruch.
Regina Welsch leitet bei msg die Abteilung Digitalpolitik und ist seit 2019 im Unternehmen tätig. Ihr Fokus liegt auf Grundsatzfragen der Digitalisierung. Sie verantwortet bei msg u.a. den Themenbereich Evaluierung von Gesetzen sowie von politischen und strategischen Maßnahmen. Zudem betreut sie mit ihrem Team auch die Themen Stakeholder- und Bürgereinbindungsverfahren sowie internationale Digitalpolitik. 2021 leitete sie von Dienstleisterseite die Erstellung des NKR-Gutachtens „Digitale Verwaltung braucht digitaltaugliches Recht – Der modulare Einkommensbegriff“.