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Die Potenziale von CivicTech

Wie “Civic Technology” das Engagement der Bürger stärken kann

9 Fragen an Dr. Jan Engelke und Antonia Dittrich

Lieber Jan, was bedeutet CivicTech?

Dr. Jan Engelke: Im besten Fall ist es eine Einladung an alle Interessierten, den Datenschatz des Staates zu heben. CivicTech steht kurz für “Civic Technology” und umfasst technische Konzepte zur Stärkung der Beteiligung von Bürgern und des bürgerschaftlichen Engagements durch die Bereitstellung von Technologie und Daten.

Das können Projekte wie zum Beispiel die Erfassung der Luftqualität vor der eigenen Haustür oder auf dem Balkon mit selbstgebauten Sensoren sein. Die Ergebnisse werden elektronisch ausgetauscht und auf Plattformen öffentlich zugänglich gemacht.

Auch Maßnahmen zur Verbesserung der digitalen Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltung gehören dazu. Oft wird dieser spezifische Teil der Bürgerbeteiligung auch Public Interest Tech genannt. Für uns bei msg fallen diese Themen alle in den Bereich CivicTech, weil sie eines gemeinsam haben: Sie verändern den Blick auf die Bereitstellung, den Austausch und die Nutzung von Daten durch Bürger und Verwaltung und stehen für ein neues Kapitel im Umgang mit offenen Datenökosystemen.

Für welche Institutionen und Behörden ist CivicTech interessant?

Antonia Dittrich: Grundsätzlich ist CivicTech für Institutionen aller politischen Ebenen attraktiv, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. So ist auf Bundesebene der Einsatz von CivicTech besonders dort interessant, wo dezentral Daten zu erheben und über Plattformen auszutauschen sind. Das können die bereits benannten Daten zur Luftqualität, aber auch beispielsweise Marktplätze zur Erfassung von Benzin- oder Lebensmittelpreisen sein.

Dr. Jan Engelke: Auf Landes- oder kommunaler Ebene sind übergeordnete Lebensbereiche, insbesondere Aspekte der Verkehrsplanung, der Bildung oder der Raumentwicklung relevant. So können im Rahmen von CivicTech entwickelte Tools bei der Berechnung der Einzugsbereiche für Schulen oder als KiTa-​Finder genutzt werden.

Geht es um die Entwicklung neuer Quartiere spielen Austauschplattformen z.B. bei der Anhörung von Anwohnern eine immer größere Rolle. Sie entfalten ihre Wirkung zunehmend über die Grenzen der Kommunen hinaus, in dem sie beispielsweise Pendler oder Zuzügler mit einbinden.

CivicTech wird generell häufig bei der Umsetzung von Smart City Projekten eingesetzt. Hierbei richtet sich der Blick primär auf die Möglichkeit an politischen Prozessen über Plattformen zu partizipieren.

Für all diese Applikationen müssen die Kommunen Daten, z. B. auch von dezentralen Messpunkten, sammeln und erfassen, kategorisieren und letztlich standardisiert über die Plattformen zugänglich machen. CivicTech kann dabei unterstützen diese Datenbereitstellung über Organisations-​ und Kompetenzgrenzen hinweg zu fördern und damit Silogrenzen im Sinne einer bürgernahen Verwaltung zu durchbrechen.

Welcher Mehrwert entsteht durch die Nutzung von CivicTech?

Antonia Dittrich: Der Einsatz von CivicTech verbessert zuallererst die Beziehung zwischen der Verwaltung und den Bürgern der Stadt oder Kommune. Hier ist oft noch sehr viel Luft nach oben, um das häufig fehlende Vertrauen in funktionierende Verwaltungsleistungen und die Qualität bereitgestellter Daten für den eigenen Informationsgebrauch zu optimieren. Ein direkter Draht zwischen allen Beteiligten und eine stärkere Partizipation der Bürger sind hierfür absolut notwendig.

Dr. Jan Engelke: Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger können durch Civic Tech auch außerhalb regulierter Verfahrensgänge gestärkt werden. Der große Vorteil föderaler Strukturen ist ja, dass gut funktionierende CivicTech-​Projekte auch auf anderen Ebenen weiterentwickelt und nachgenutzt werden können und so im besten Fall ein Mehrwert auch für Bürger in anderen Kommunen oder Bundesländern entsteht. In der Umkehrung braucht es dafür Verwaltungsplattformen, die Datentöpfe organisationsübergreifend und nutzerorientiert zugänglich machen.

Was ist der Unterschied zwischen CivicTech und e-​Partizipation?

Antonia Dittrich: E-​Partizipation ist ein Element der e-​Democracy und ermöglicht es Bürgern z.B. an Willensbildungsprozessen teilzunehmen. E-​Democracy nimmt z.B. das Abstimmungsverfahren durch smartvote in den Blick.

Civic Tech setzt aber schon früher an und zwar konkret bei technischen Konzepten, die die Bürger erst dazu befähigen, am politischen Prozess und einer datenbasierten Entscheidungsfindung teilzunehmen. Dass der Bürger selbst dabei als Datenlieferant wirkt, d. h. vom Messergebnis bis zum Meinungsbeitrag eigenen Input in das Verfahren gibt, erhöht die Komplexität.

Als Kanäle können beispielsweise Apps oder Plattformen dienen, die die Kommunikation zwischen Bürgern, Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder der Wissenschaft eröffnen. Die eingegebenen Daten dann zu evaluieren und zu validieren ist eine große Herausforderung, für die bei immer komplexeren Systemen der Einsatz Künstlicher Intelligenz zwingend erforderlich sein kann.

Die Beteiligungsmöglichkeiten sind daher bei CivicTech wesentlich weiter gefasst und gehen über das „klassische“ Beteiligungsverfahren der e-​Partizipation hinaus.

Wie können die Bürger anhand von Open Data beteiligt werden?

Dr. Jan Engelke: Durch das öffentliche Verfügbarmachen von Daten erhalten Bürger eine zusätzliche Informations-​ und Kontrollmöglichkeit über das politische Handeln.  Hierfür braucht es aber neben einer ausreichenden Daten-​Transparenz, auch entsprechende technische und analytische Fähigkeiten.

Ohne Daten-​Kenntnis und digitale Souveränität kann es weder gute datenbasierte Entscheidungen noch Partizipation geben. Darüber hinaus eröffnet die Nutzung von Open Data Innovationspotenziale wie z.B. die Plattform Helsinki Region Infoshare zeigt.

Wie genau funktioniert diese Plattform?

Antonia Dittrich: Seit 2011 stellen Städte wie Helsinki ihre gesammelten und produzierten Datenmengen der Öffentlichkeit und Unternehmen zur Verfügung. Im Open-​Data-Portal der Helsinki Metropolitan Area wurden so über die Jahre hunderte von freizugänglichen Daten veröffentlicht.

Da offene Daten umso mehr an Wert gewinnen, je mehr sie genutzt werden, führten diese Veröffentlichungen bereits zu Haushaltseinsparungen von 1-2 Prozent. Diese offenen Daten unterstützen z.B. Forschung und Entwicklung nachhaltig. So hat beispw. die Veröffentlichung der städtischen Einkaufsdaten das Vertrauen der Helsinkier in ihre Stadt und ihre Verwaltung nachweislich gestärkt.

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz für CivicTech?

Dr. Jan Engelke: Grundsätzlich braucht es zunächst ein gemeinwohlorientiertes Datenökosystem. Kommunen und Städte müssen sich den diversen, oftmals auch durchaus widersprüchlichen Bedürfnissen ihrer Bewohner stellen. Dazu braucht es möglichst neutrale Daten, die auch als Entscheidungsgrundlage im politischen Raum eine Rolle spielen können und werden.

Gerade deswegen muss die öffentliche Verwaltung unterstützt werden, bestehende Datenbestände zu harmonisieren und über einheitliche Standards zugänglich zu machen. Bei neu erfassten Datensätze ist auf Datenqualität und Neutralität zu achten, um vorurteilsfreies Coding zu ermöglichen und diese Daten zur allgemeinen Nutzung zur Verfügung zu stellen.

Mittel- und langfristig sollte sich die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz im öffentlichen Bereich an diesen Grundideen von Gemeinwohl und Partizipation orientieren. Wenn wir aktuell jedoch die Daten als Treibstoff für die Entwicklung Künstlicher Intelligenz im öffentlichen Raum sehen, sind wir gerade noch dabei, den Tank zu befüllen.

Antonia Dittrich: Technologien wie KI sollen der Gesellschaft dienen und unser Wertesystem widerspiegeln. Die Generierung, Nutzung und das Teilen von Daten bringen Macht mit sich. Aus dieser Macht entsteht aber auch die große gesellschaftliche Verantwortung,

Daten sind nicht als Selbstzweck zu verstehen. Daher sollten gerade die Projekte gefördert werden, die nachhaltige und soziale KI-​Anwendungen erproben. Dazu braucht es gesellschaftliche Kompetenzen und die richtigen Rahmenbedingungen. Es muss Wissen im Bereich KI aufgebaut werden, welches sich auf Bürger, das Gemeinwohl sowie auf Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit konzentriert.

Welche Entwicklungsschritte sollten öffentliche Verwaltungen bei der Implementierung von CivicTech gehen und wie kann msg hier ganz konkret unterstützen?

Antonia Dittrich: Zunächst sollte in der öffentlichen Verwaltung ein breiteres Bewusstsein für das Thema CivicTech und (ergebnis-​)offene Bürgerbeteiligung geschaffen werden. Die bislang in den Tiefen der Verwaltung verborgenen Datenschätze müssen dafür öffentlich zugänglich gemacht werden. Außerdem können Civic Coding Projekte oder bspw. Hackathons gefördert werden.

Wichtig ist, dass CivicTech-​Projekte, die der Allgemeinheit einen Mehrwert bieten, nachhaltig unterstützt werden. Dann beginnt ein Entwicklungsprozess, der von vorneherein partizipativ gestaltet und von den Nutzenerwartungen der Bürger getrieben werden sollte. Er fängt mit Themen- oder Ideen-​Workshops an und führt häufig in einen Design-​Sprint, an dessen Ende bestenfalls ein erstes einsatzfähiges Produkt steht.

Kommt es dann zum flächendeckenden Einsatz von CivicTech, sollte auch über die langfristige Begleitung durch kontinuierliche Verbesserungs-​ oder Innovationsprozesse nachgedacht werden. Bei allen Schritten des Prozesses, von der ersten Idee bis zur Implementierung, kann msg durch fachliches und methodisches Wissen unterstützen.

Gibt es bereits Best Practice Beispiele, die Kommunen für sich nutzen können?

Dr. Jan Engelke: Das große Thema für die Entwicklung von CivicTech ist die Frage nach dem „Public Value“ oder dem öffentlichen Wertbeitrag des Verwaltungshandelns. Die Bereitstellung bürgernaher Lösungen zeigt im kommunalen und städtischen Bereich immer dann einen großen und auch messbaren Effekt, wenn eine ganz konkrete Frage durch Datenbereitstellung beantwortet werden kann: „In welchem Einzugsbereich lebe ich?“, „Wie ist die Wasserqualität in meinem Badesee?“ oder „Was ist der sicherste Weg per Fahrrad in die Stadt?“.

Genau aus solchen lebenspraktischen Fragen sind im Rapid Prototyping in Experimentierräumen großer Städte umsetzbare Lösungen entstanden, die mit wenig Aufwand Alltagsbedürfnisse der Bürger erfüllen. Je mehr sich die Verwaltung mit der Rolle als offener Datenbereitsteller identifiziert und – egal ob als App, Plattform oder Web-​Anwendung – die Entwicklung einfacher Lösungen unterstützt und begleitet, desto größer ist der Effekt von CivicTech.

 

 

Interviewpartner

Dr. Jan Engelke ist bei der msg als Principal Business Consultant tätig. Als erfahrener Politik-​ und Unternehmensberater betreut er das Themengebiet Strategieberatung im öffentlichen Sektor, bei der die organisationalen, politischen und gesellschaftlichen Effekte des technologischen Wandels im Mittelpunkt stehen. Schwerpunkt der Arbeit ist es, die Herausforderungen und Chancen dieser Entwicklung auf allen Organisationsebenen zu evaluieren und die Kunden der msg im Public Sector bei der strategischen Entwicklung zu beraten und zu begleiten.

Antonia Dittrich ist Associate Business Consultant und seit 2021 bei msg im Public Sector tätig. Ihr Schwerpunkt liegt auf Politikanalysen und der Beratung im Bereich Digitalpolitik. Darüber hinaus plant sie Veranstaltungen, engagiert sich in Arbeitsgruppen und betreut die Publikation Digital Insight.