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"Ich sehe den digitalen Humanismus als Chance"

Dr. Georg Krause, CEO der msg Plaut und Autor des 2023 erschienenen Buches „Die Praxis des Digitalen Humanismus“, im Gespräch mit Dr. Andreas Zamperoni, Chefredakteur der .public

Dr. Andreas Zamperoni (msg): Georg, vielen Dank, dass du trotz deines vollen Terminkalenders Zeit hattest, um Dich mit uns über die Praxis des Digitalen Humanismus und dein Buch dazu zu unterhalten. Was hat dich dazu bewogen, ein Buch zu diesem Thema jetzt zu schreiben?

Dr. Georg Krause (gk): Danke für die Einladung und die Möglichkeit, darüber sprechen zu können, denn das Thema ist mir seit einiger Zeit ein persönliches Anliegen. Es stecken zwei Treiber dahinter. Der eine ist, dass wir sehen, dass die Digitalisierung die vergangenen Jahre und fast schon Jahrzehnte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit voranschreitet. Tagtäglich erleben wir sehr viele Vorteile durch Digitalisierung. Sie gestaltet unser Leben angenehmer, hilft uns im medizinischen Bereich, dass wir gesünder leben können oder bessere Versorgung haben und vieles mehr.

Gleichzeitig erleben wir aber auch zunehmend negative Auswüchse. Das geht von Fake News über die Beeinflussung von Menschen bei Wahlen oder über den Missbrauch persönlicher Daten bis hin zur Überwachung. Es gibt viele weitere Bereiche, in denen die Digitalisierung, wie jede Technologie, zum Guten und auch für schlechte Dinge benutzt werden kann. Ich glaube, man muss hier etwas tun und ein Augenmerk darauf legen, um diese negativen Dinge weitgehend zu verhindern, sodass das Positive im Vordergrund steht und die Risiken minimiert werden.

Der zweite Treiber, warum ich mich mit dem Thema beschäftige und es zu dem Buch gekommen ist, ist, dass wir in Europa bei der internationalen, großen geopolitischen oder geowirtschaftlichen Sichtweise gegenüber den anderen Regionen der Welt zurückgefallen sind. Ich sehe den digitalen Humanismus als Chance, dass wir in Europa wieder auf einen Weg kommen, der uns nach vorne bringen kann, der uns aufholen lassen kann. Denn wir werden nicht das bessere Facebook oder Amazon in Europa machen können, und wir wollen nicht einen hoch digitalen Überwachungsstaat, wie es in manchen asiatischen Ländern der Fall ist. Mit den Prinzipien des digitalen Humanismus haben wir eine Grundlage. Das sind die beiden wesentlichen Treiber: das Ethische auf der einen Seite und das Geopolitische auf der anderen Seite.

msg: Da hake ich gleich mal nach, es geht um den geopolitischen Aspekt: Wie kann man über den digitalen Humanismus erreichen, dass man wieder nach vorne kommt? In anderen Weltregionen gibt es andere Werte als Demokratie und Inklusion. Da stehen dann eher Innovation und Wohlstand im Vordergrund. Inwieweit bringt uns diese eurozentristische, humanistische, ureuropäische Entwicklung nach vorne?

gk: Die Grundlage ist, dass wir verstehen und akzeptieren müssen, dass die fortschreitende Digitalisierung inzwischen fast alle Bereiche unseres Lebens umfasst. Das Thema, das wir in der realen physischen Welt haben, ist die Abbildung der Werte, für die wir stehen, die wir für unser Leben als Grundlage sehen wollen. Dieses Prinzip muss genauso in der digitalen Welt gelten. Es ist klar, dass es in der physischen Welt andere Regionen in der Welt gibt, die ganz andere Wert vorstellungen haben und leben. In Europa haben wir uns für gewisse gemeinsame Werte entschieden, die wir leben, die für uns selbstverständlich sind und die wir schätzen. Dazu gehören insbesondere die Freiheit, der Freiraum, den wir da durch haben, sowie die demokratischen Grundprinzipien. Wir müssen schauen, dass diese Werte auch in der digitalen Welt gelebt werden und wir deren Einhaltung beachten. Dies ist die wesentliche philosophische Grundlage des digitalen Humanismus.

msg: Die Digitalisierung hat viel mit der Globalisierung der Arbeit und den Auswirkungen auf die Menschen sowie mit Entsolidarisierung zu tun. Wie funktioniert es, unsere Werte hier zu leben, wenn die Digitalisierung doch global ist?

gk: Grundsätzlich ist Digitalisierung global, wenn wir sie global machen und zulassen. Aber wenn wir sagen, dass wir unsere Werte in der digitalen Welt für Europa einfordern, dann können wir den Anspruch stellen, dass das auch für jene gilt, die nach Europa digitale Lösungen liefern. Genau das machen wir heute. Ein einfaches Beispiel ist die Datenschutzgrundverordnung. Ein digitaler Dienstleister, der in Europa aktiv werden will, hat diese einzuhalten, sonst darf er in Europa nicht aktiv werden.

msg: Du nennst die Datenschutzgrundverordnung – ich nenne den Digital Services Act. Führt ein Digital Services Act nicht dazu, dass die EU sich vom globalen Verhandlungstisch und von der Steuerungsbrücke der KI-Revolution verabschiedet und diese anderen Weltregionen wie Asien oder den USA überlässt? Müssten wir nicht einen Ansatz finden, der nicht europazentriert, sondern weltzentriert ist, damit diese Gedanken sich durchsetzen?

gk: Darauf möchte ich zwei verschiedene Antworten geben. Die eine ist, dass ein zügelloses Zulassen von allem, was möglich ist, Vorteile hat. Wir wissen es aus der industriellen Revolution. Trotzdem haben wir uns entschieden, dass wir zum Beispiel keine Kinderarbeit wollen. Und wir haben uns entschieden, dass wir ein Arbeitsrecht und Arbeitszeitgesetze und Ähnliches einführen, um Mitarbeitende zu schützen.

Ist das notwendig? Nein, das machen andere Regionen nicht, aber das sind unsere Werte! Haben wir dadurch Vorteile oder Nachteile? Wir stehen für unsere Werte ein, und das hat nicht immer nur Vorteile. Aber wir wissen heute auch, dass andere Länder in der westlichen Welt, die ähnliche Werte haben, dem folgen. Länder, die diese Werte nicht vertreten, werden nicht folgen.

msg: Demnach könnte man sagen, dass eine gesinnungsorientierte Ethik einem Utilitarismus vorzuziehen ist?

gk: Schaffen wir dadurch einen Nachteil? Du hast es angesprochen, zum Beispiel in der KI-Evolution. Man muss nur intelligente Wege finden. Seit einigen Jahren gibt es in Europa das Projekt Gaia-X, das genau in diese Richtung geht und das beinhaltet, Daten zur Verfügung zu stellen, damit auch andere sie nutzen können – aber in einem geschützten Kontext und mit klaren Regeln, sodass nicht jeder Beliebige auf die Daten zugreifen kann.

Für uns Europäer ist es völlig unvorstellbar, wie viele Daten in den USA frei verfügbar sind. Dort weiß ich über einen Hausbesitzer jedes Detail, wann die letzte Reparatur war, wann er umgezogen ist. Es geht so weit, dass die Versicherung kein Formular mehr ausfüllen lassen muss, weil sie schon alle Daten hat. Wollen wir das? Nein, das ist nicht unser Wertesystem, und ich glaube nicht, dass wir dadurch einen Nachteil haben. Innovation ermöglichen unter Berücksichtigung unserer Werte, das ist der zweite Teil meiner Antwort.

msg: Deine Interviewpartner sind alle Führungskräfte, entweder aus der Politik, aus der Wirtschaft oder aus der Wissenschaft. Was hat dich bewogen, genau ihre Expertise zu veröffentlichen?

gk: Die Grundlagen des digitalen Humanismus gibt es schon einige Jahre. Es gibt das „Wiener Manifest für digitalen Humanismus“1 und das Buch „Digitaler Humanismus“ von Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld.2 Diese beiden Publikationen stellen die philosophische Grundlage für das Thema Digitaler Humanismus dar. Als ich begonnen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, habe ich mit vielen Personen in der Wirtschaft und Politik gesprochen. Es bestand großes Interesse an dem Thema. Manche kannten es schon, andere noch nicht. Es kam immer sofort die Frage: „Es klingt interessant, aber wie macht man das denn?“

Die Idee des Buches war, Beispiele zu geben, weil ich in den Gesprächen gesehen habe, dass viele Unternehmen und Organisationen diese Prinzipien bereits leben. Sie leben sie jedoch in Teilaspekten, nicht systematisch, nicht als Gesamtgebäude, nicht wie ein Qualitätsmanagementsystem, sondern sie haben punktuell Maßnahmen in diese Richtung ergriffen. Die Idee war, ein Buch zu schreiben, das anderen Ideen gibt, wie sie dieses Thema praktisch umsetzen können, indem wir Beispiele von großen Unternehmen gebracht haben. Um das Thema abzurunden, haben wir gesagt, dass wir nicht nur Unternehmensvertreter dabeihaben wollen.

Wir wollten dies noch durch die Politik abrunden, da Politik und Interessenvertreter sowie Gewerkschaften ganz wichtige Stakeholder bei diesem Thema sind. Einerseits stellen Politiker, vor allem die auf EU-Ebene tätigen, die Frage, wohin die Reise geht. Der Bürgermeister von Wien sagt: „Wie setzen wir das um? Wir wollen einer der Vorreiter oder der Vorreiter in Europa werden.“ Andererseits sagt die Gewerkschaft : „Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?“ Und die Wissenschaft hat nicht nur die wichtige Aufgabe, das Thema weiterzuentwickeln, sondern auch, wenn wir es in die Praxis bringen wollen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, indem Studentinnen und Studenten mit diesen Themen bereits während des Studiums konfrontiert werden.

Dr. Georg Krause im Interview

"Für uns Europäer ist es völlig unvorstellbar, wie viele Daten in den USA frei verfügbar sind": Dr. Georg Krause im Interview

msg: Wie unterscheiden sich die verschiedenen Gruppen, also Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und Religion? Du hast Wissenschaft und Religion in ein Kapitel gepackt. Wo unterscheiden sich die Ansichten und wo sind sie gleich, was den digitalen Humanismus anbelangt?

gk: Meiner Wahrnehmung nach gibt es keine Diskussion über die Basis, nämlich dass Humanismus und seine Werte in der digitalen Welt abgebildet werden sollen. Das ist für die meisten selbstverständlich. Doch stellt sich die Frage nach dem Wie. Der Unterschied ist, dass, wenn man mit Wissenschaftlern im Sinne von Forschung spricht, ihre Aufgabe das Ausloten der Grenzen ist und zu erforschen, wie dies geschehen kann.

In einer Art grundlagen- oder anwendungsorientierten Forschung werden wirklich tolle Dinge ausprobiert. Beispielsweise arbeitet einer der Autoren des Buches, Christopher Frauenberger, an einem Projekt, das sondiert, was gute Pflege unter Nutzung der digitalen Möglichkeiten bedeutet. Dies ist ein sehr breiter Ansatz, bei dem es darum geht, was Digitalisierung für die Pflege und die gepflegte Person, für das ganze System, bedeutet. Solche Forschung ist extrem wichtig! Die kann ein Unternehmen nur schwer leisten. Bei Unternehmen geht es eher darum, die Dinge, die sie tun, effizient umzusetzen. Ich glaube, die Perspektive ist der Unterschied. Der Unterschied besteht nicht in den Inhalten, sondern hauptsächlich im Blickwinkel.

msg: Ich finde es interessant, dass du als Erstes die Forschung erwähnst. Mir ist aufgefallen, dass die beiden Professoren, Frauenberger und Reichl, eine extrem pessimistische Sicht auf den Stand und die Zukunft haben. Ich zitiere Professor Frauenberger, der sagt: „Die Digitalisierung ist ein Scherbenhaufen.“ Reichl sagt, in meinen Worten, dass die Verbilligung der Telefontarife, aber im Allgemeinen diese Flatrates und der allgemeine Zugang auf Informationen, der Gratiszugang und die Ambiguität von Informationen und Meinungen einen großen Qualitätsverlust darstellen. Er sagt auch, dass KI-Ergebnisse völlig willkürlich seien. Mir ist aufgefallen, dass sie, obwohl sie forschen, nicht diesen pragmatischen, aus dem Titel genommenen Ansatz, die Sichtweise der Praxis, einnehmen, sondern eine grundlegend düstere Einschätzung geben.

gk: Ich sehe, dass du das Buch sehr genau gelesen hast. Das Wiener Manifest für Digitalen Humanismus beginnt mit der Feststellung von Tim Berners-Lee: „The system is failing.“3 Wenn ich sehr fokussiert auf die negativen Dinge schaue, kann man das so sehen. Das ist okay und gut so, dass man dort hinschaut, weil man dann geneigt ist, etwas dagegen zu tun. Man darf natürlich nicht vergessen, warum das Internet so erfolgreich ist: weil es auch wahnsinnig viele Vorteile gebracht hat!

Diese negative Sicht ist gerechtfertigt, wenn ich eine spezielle Brille aufsetze und gezielt auf diese Dinge schaue. Dann überlegen sich diese Professoren, was man dagegen tun kann. Ich habe das Interview mit den beiden persönlich geführt. Sie haben keine Weltuntergangsstimmung, überhaupt nicht, sondern eine kritische Sicht auf die Dinge und eine sehr konstruktive Sicht im Sinne von, sich damit zu beschäftigen, wie man das heilen kann.

msg: Genau. Es sind keine Philosophen, sondern Wissenschaftler. Sie sind konstruktiv. Nicht wie Adorno, der sagt, dass alles den Bach heruntergeht, wegen des Kapitalismus und so.

gk: Nein, sie sagen, dass grundsätzlich etwas Gutes entstanden ist. Es hat Probleme, und wie können wir diese Probleme lösen? Wir werden gewisse Dinge wahrscheinlich neu denken müssen.

msg: Professor Reichl, einer der Mitautoren des Wiener Manifests, sagt im Interview, dass im Prinzip alles, was wir tun, nur zur Verbesserung des menschlichen Wohlergehens beitragen darf. Das ist aus meiner Sicht ein etwas naiv optimistischer Standpunkt, der nicht berücksichtigt, dass durch die Globalisierung, Entsolidarisierung und Digitalisierung eine Verdichtung der Arbeit passiert. Wie siehst du das?

gk: Naiv optimistisch würde ich nicht sagen. Ich stellte Professor Reichl die Frage, wie man messen kann, ob ein Unternehmen den humanistischen Prinzipien besser entspricht oder sich dem Idealbild nähert. Denn das ist ja für uns Manager wichtig: dass wir uns Ziele setzen und deren Erreichung möglichst konkret messen können. Er hat sich zurückgelehnt und gesagt: „Es geht darum, dass es den Menschen besser geht, und wenn es den Menschen besser geht, merken wir das schon.“ Das ist natürlich sehr abstrakt und philosophisch. Es ist im Grunde aber richtig. Das ist die Leitschnur des Humanismus. Um den Erfolg letztlich beurteilen zu können, müssen wir die Veränderungen messen können. Erreichen wir das Ziel immer? Nein, natürlich nicht. Das erreichen wir auch in der physischen Welt nicht überall. Es ist jedoch richtig, das als Leitschnur zu postulieren.

msg: Hast du den Eindruck, dass die Führungskräfte der Wirtschaft mit dieser Verbesserung der Situation nur die Stakeholder und die Mitarbeiter im Blick haben? Aber wäre das Idealbild, wie im Utilitarismus postuliert, nicht nur an die eigenen Interessensgruppen zu denken, sondern an möglichst viele Menschen und Menschengruppen? Wie siehst du das? Sollen sie nur ihre eigenen Interessengruppen berücksichtigen oder das Allgemeinwohl insgesamt, was auch heißen könnte, dass man bestimmte Dinge nicht macht?

gk: Das hängt sehr von der Branche, der Größe und dem Reifegrad des Unternehmens ab. Große, börsennotierte Konzerne haben seit vielen Jahren Stakeholdermanagement auf ihrer Agenda und beschäftigen sich sehr bewusst mit den Auswirkungen ihres Handelns und Tuns auf die verschiedenen Stakeholdergruppen, wobei die Gesellschaft, Umwelt und Ähnliches natürlich ganz wichtig sind. Dort herrscht sicher eine wesentlich höhere Wahrnehmung vor. Es gibt jedoch viele Unternehmen, wo das noch nicht so weit fortgeschritten ist.

msg: Konkret nachgefragt: Welche Beispiele für Projekte zur Digitalisierung, die diesen digitalen Humanismus befördern, kommen dir aus den Büchern, aus deinem Buch, aus den Interviews, spontan in den Sinn? Welche hast du als besonders spannend und interessant in Österreich abgespeichert?

gk: Ein sehr gutes, einfaches Beispiel, weil viele Firmen sich damit gerade beschäftigen, ist aktuell die A1 Telekom. Sie haben für ihren Servicebereich eine KI, einen Chatbot auf Basis künstlicher Intelligenz, entwickelt, um die große Anzahl an Kundenanfragen, die sie täglich zu bewältigen haben, zu digitalisieren und zu automatisieren. Auf diese Weise werden die Qualität und der Durchsatz für die Kunden verbessert. Es geht zum Beispiel um das klassische Thema der Nichtdiskriminierung. Man sieht, dass in diesen großen Unternehmen das Bewusstsein bereits besteht. Thomas Arnoldner, Deputy CEO, hat klar festgestellt, dass die A1 Telekom dieses Thema bisher schon hatte, denn auch in der physischen Welt gibt es natürlich Diskriminierung. Das ist keine Erfindung der KI.

msg: Die KI reflektiert es nur.

gk: In der physischen Welt hatten sie für ihre Servicedesk-Beschäftigten Trainings, um solchen Bias, solche Vorurteile zu diskutieren und möglichst abzubauen oder bewusst zu machen, damit das im Gespräch mit Kunden nicht passiert. Wenn dort jemand durch die Kontrolle durchgerutscht ist oder das trotzdem macht, kann er am Tag vielleicht vier, fünf Kunden verärgern.

Wenn das aber bei der KI passiert, sind womöglich 10.000 Kunden am Tag betroffen. Das macht sehr schön klar, warum es so wichtig ist, denn wir haben bei all diesen digitalen Themen einen wahnsinnigen Hebel über die Menge und müssen daher besonders darauf achten. Das ist eines der Beispiele aus dem Buch.

Ein zweites Beispiel, das ich ganz toll finde, weil es das Bewusstsein schafft, wie man verschiedene Stakeholder berücksichtigt, ist das schon oben erwähnte Thema Pflegesystem. Dieses Forschungsprojekt des Professors Frauenberger beschäftigt sich damit, wie gute Pflege unter Zuhilfenahme digitaler Möglichkeiten ausschaut. Die Frage ist nicht, wie ich möglichst viel digitalisieren und effizient machen kann, sondern wie gute Pflege ausschaut, und wo ich mit Digitalisierung Vorteile erreichen kann. Und wo ist Digitalisierung schädlich?

Sie haben das Projekt nicht mit irgendwelchen digitalen Techniken begonnen, sondern sich zunächst mit der Frage beschäftigt, was gute Pflege ausmacht. Sie haben mit gepflegten Personen gesprochen, wie diese es sehen, was für sie angenehm wäre, wenn es digitalisiert würde, und was nicht. Zum Beispiel, wenn jemand auf die Toilette begleitet werden muss. Es wäre für die gepflegte Person typischerweise angenehmer, wenn das ein Roboter machen würde. Die natürliche Scham gäbe es dann nicht. Bei anderen Dingen, wo es um ein persönliche Gespräch geht, um das Essenbringen oder Ähnliches, wäre es vielleicht angenehmer, wenn es ein Mensch machte, weil dann eine Beziehung entstünde. All das am Anfang eines Projekts zu verstehen, ist ganz essenziell.

Ich denke, dass man in jedem IT-Projekt solche Grundsatzfragen am Anfang überlegen und besprechen sollte, um dann Lösungen zu finden, die sich gut anfühlen. Es ist schwierig zu messen, aber es geht darum, dass es sich gut anfühlt. Ich finde es sehr interessant zu sehen, dass sie nicht nur mit den unmittelbar Betroffenen, sondern mit weiteren Stakeholdern gesprochen haben. Sie haben sich mit ihnen nicht nur darüber unterhalten, wie diese Pflege ausschaut und was ihre Aufgaben sind, sondern sie haben sich unterhalten, warum sie Pfleger oder Pflegerin geworden sind. So konnten sie feststellen, was sie nicht digitalisieren dürfen, um ihnen nicht dadurch den eigentlichen Grund, warum sie Pfleger geworden sind, wegzunehmen. Weil ansonsten niemand mehr mit Leidenschaft Pfleger wird. Sie haben sich damit beschäftigt und festgestellt, dass es nicht sinnvoll ist, alles zu digitalisieren, was in dem Bereich der Pflege möglich ist.

msg: Hast du den Eindruck, dass Österreich besonders „humanistisch“ ist, das heißt, hinsichtlich digitalem Humanismus ein besonders freundliches Klima bietet?

gk: Es gibt ein Dokument vom Wiener Bürgermeister von 2019, in dem steht, dass Wien Europas führende Digitalhauptstadt werden will. Jetzt denkt man natürlich, wie das gehen soll. Wenn man weiterliest, schreibt er, dass sie nicht unbedingt die größten IT-Investitionen in Europa tätigen, sondern vielmehr auf die geisteswissenschaftliche Tradition der Stadt setzen, Stichwort Sigmund Freud.

Wien hat sehr konsequent viele Maßnahmen umgesetzt. Es gibt jetzt eine Broschüre aus dem vorigen Jahr, „Digitaler Humanismus in Wien“4, in der auf etwa 20 Seiten aufgezeigt wird, welche Lösungen es in Wien schon gibt. Die Stadt hat Forschungsgelder und inzwischen drei Forschungscalls initiiert, wo sie Forschung zum Thema digitaler Humanismus finanziert. Sie hat einen eigenen Lehrstuhl für digitalen Humanismus an der TU Wien eingerichtet.

msg: Welche technologischen Entwicklungen oder Trends siehst du persönlich als bedeutsam für die Förderung des digitalen Humanismus?

gk: Es gibt seit fast drei Jahren einen Standard für wertorientierte Systementwicklung – IEEE 70005 – der genau auf diesen Ideen ethischer Systementwicklung humanistischer Prinzipien aufbaut. Er wurde von der IEEE-Organisation entwickelt, wobei bei der Entwicklung selbst auch eine Professorin aus Österreich eine stellvertretende Leitungsrolle innehatte. Wir sind dabei, mit einem Kunden das erste Mal systematisch diesen Standard im Rahmen eines Projekts einzusetzen. Ich glaube, dass dieser Standard eine wichtige Schlüsselrolle spielen kann, wenn es darum geht, digitalen Humanismus in Organisationen umzusetzen. Er beschreibt konkret, an welchen Punkten im Zuge eines Entwicklungsprojekts welche Schritte zu gehen und zu dokumentieren sind, um die Einhaltung dieser Prinzipien zu gewährleisten und entsprechend aufzuzeichnen.

Was bedeutet das? Zum Beispiel berücksichtigt man bei der Auswahl eines KI-Tools für das aktuelle Projekt zusätzlich zu Kategorien wie Bewertungskriterien, Technik, Architektur, kommerzielle und rechtliche Aspekte eine ethische Dimension. Es kostet ein bisschen mehr Aufwand, aber nicht sehr viel. Damit habe ich die Sicherheit, dass das (KI-)Tool, das ich auswähle, diesen ethischen Prinzipien entspricht. Es geht um Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Erkenntniswert.

Dr. Georg Krause im Gespräch mit Dr. Andreas Zamperoni

"Es geht darum, bewusst darauf zu schauen, was man tut, und nicht alles, was gesetzlich möglich ist, auch zu tun."

msg: Du sagst, dass der digitale Humanismus und die Nachhaltigkeit Leitplanken sind, die unser Handeln leiten sollen. Wir sollen aber immer praktisch weitermachen, Wirtschaft, Politik und die Wissenschaft weiterentwickeln, um uns im Sinne des Humanismus an diesen Leitplanken entlang zu verbessern und das Leben lebenswerter zu gestalten.

gk: Genau. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir vier Ebenen für die Umsetzung haben. Die äußerste Ebene, die Leitplanken, sind die Gesetze. Genau hier ist die Politik gefordert: einen Rahmen wie ein KI-Recht oder natürlich Datenschutz zu schaffen, in dem sich die Digitalisierung entwickeln kann und soll. Dieser Rahmen darf freilich nicht zu eng gesetzt werden. Man muss jedoch einen gewissen Rahmen abstecken, damit die humanistischen Prinzipien gewahrt werden.

Die zweite Ebene ist die Selbstverpflichtung der Unternehmen. Es geht darum, bewusst darauf zu schauen, was man tut, und nicht alles, was gesetzlich möglich ist, auch zu tun. Das tun wir auch in der physischen Welt nicht. Ich erlebe das immer wieder in Diskussionen. Reicht ein gesetzlicher Rahmen aus? Nein. Auch in der physischen Welt reizt nicht jede Firma alles bis zum Machbaren der Gesetze aus. Wir haben ein bestimmtes Selbstverständnis, was es heißt, vertrauensvoll zu handeln, wie wir unsere Produkte herstellen und vertreiben und wo wir eine gewisse Selbstverpflichtung haben. Die Umwelt ist ein gutes Beispiel, wo wir das in den letzten Jahren intensiv machen und wir eine Verantwortung wahrnehmen.

Die dritte Ebene ist die Technologie. Um Auswüchse wie Fake News zu verhindern, brauche ich Technik, die mir hilft. So, wie man bei Cyber Security selbstverständlich Abwehrsoftware einsetzt, ist das auch für digitalen Humanismus möglich.

Der letzte Punkt, und vielleicht sogar einer der wichtigsten, ist digitale Bildung. Das klingt so, als hätte er gar nichts mit dem Thema Humanismus zu tun. Doch er hat viel damit zu tun. Nur wenn Mitarbeitende, aber auch Kundinnen und Kunden und die Gesellschaft als solche grundlegende Zusammenhänge, Prinzipien verstehen, können sie beurteilen, wo es Probleme geben könnte, und entsprechende Maßnahmen einfordern. Fahre ich zum Beispiel mit meinem Auto, muss ich mir bewusst sein, dass ständig Daten entstehen, die irgendwer bekommt. Es ist nicht ganz irrelevant, wer sie bekommt und wofür. Diese Dinge grundlegend zu verstehen, ist eine zentrale Voraussetzung, und dafür ist digitale Bildung sehr wichtig.

msg: Du hast als erste Ebene die Gesetze genannt. Was ist mit Normen oder Ethik? Sind die Gesetze ein Ausdruck davon, oder ist das eine Ebene darüber?

gk: Die Normen und Werte sind in dieser Logik oberhalb der Gesetze. Das ist ja auch bisher schon so. In den Gründungsdokumenten der EU sind die humanistischen Werte verankert. Das ist der Leuchtturm oben drüber.

msg: Ich finde es beeindruckend, dass du für Deinen Podcast „Digitaler Humanismus in der Praxis“6, 7 so viele spannende Interviewpartner findest. Ich habe sofort an die Kant‘sche Frage gedacht: „Was darf ich hoffen?“ Die Hoffnung ist noch nicht verloren bei der Wirtschaft und der Politik und dem Kapitalismus.

gk: Wir spüren stets und sind uns vielleicht nicht immer bewusst, dass es unser Wertefundament ist, das wir täglich leben. Man muss nur in den Zeitungen schauen, was sich vor allem in asiatischen Ländern an Überwachung und ähnlichen Dingen, an medialer Nicht-Vielfalt, einseitiger Berichterstattung abspielt, dass Demonstrationen im Keim erstickt und nicht zugelassen werden. Das ist ein völlig anderes Weltbild.

Viele von uns sind sich oft nicht bewusst, wie groß die Unterschiede sind und was das für unser persönliches Leben bedeuten würde, wenn es so wäre wie dort. Wir sollten ein gutes Beispiel sein, und andere demokratische Länder werden uns vielleicht in manchen Punkten folgen.

msg: Vielen Dank für das sehr interessante Interview.

 

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